Hafengeburtstag! Au weia… Wobei: Nichts könnte mir egaler sein, als wie alt diese verdammte luftverpestende Hamburger Institution mit ihren Millionärs-Reedern, die containerweise billigen Plastikschrott aus Fernost heranschiffen lassen und damit die Ramschläden überfüllen, nun schon wieder geworden ist. Nuke this shit! Aber Hamburger Hafengeburtstag bedeutet glücklicherweise auch jedes Jahr, dass sich die Subkultur ihren Arsch aufreißt, um ein ansprechendes Umsonst-und-draußen-Gegenprogramm zwischen NDR-Bühnen, Riesenrad und Zuckerwatte zu bieten. Das Besondere für mich persönlich war dieses Jahr, dass ich mit meiner Kapelle BOLANOW fuckin’ BRAWL auf der Jolly-Roger-Bühne auftreten durfte, nachdem wir vor zwei Jahren bereits die Onkel-Otto-Bühne vorm Störtebeker im Rahmen des alternativen – nicht zu Unrecht auch „Hafengeburtstag von unten“ oder schlicht „Affengeburtstag“ genannten – Hafengeburtstags besudelt hatten. Das war natürlich eine geile Gelegenheit, den Freitag – Donnerstag war feiertagsbedingt eh frei – von der ollen Arbeit komplett freizunehmen, sodass der totalen Eskalation eigentlich nichts im Wege stand – außer meiner Vernunft, die mich den Donnerstag eher locker angehen ließ. Dass ich pünktlich zum Programm auf der Jolly-Roger-Bühne aufschlagen würde, war dennoch ausgeschlossen, dort sollte es bereits zu nachtschlafender Zeit um 12:45 Uhr losgehen. Pünktlich um 15:00 Uhr wollte ich jedoch an der kleinen Bühne der Harburger Sauerkrautfabrik sein, die zwischen den Hafenstraßenhäusern direkt hinter den großartigen Veggie-Mampfbuden (Döner! Burger! Wenn ihr auf dem Hafengeburtstag seid, esst dort!) aufgebaut worden war. Auf dem Plan stand nämlich GIANNA NANNINI – und wenn die Italo-Pop-Rock-Ikone schlechthin eigens für einen Gig herüberjettet, kann ich mir das unmöglich entgehen lassen. Bello e impossibile, Digger! Dort hing man im Zeitplan allerdings derart hinterher, dass die Bad Segeberger Akustik-Liedermacher ZEITBOMBE ARMUT gerade erst mit dem Aufbau begonnen hatten. Dafür waren wir direkt in DMF-Kai und Konsorten hineingelaufen, die erst mal ’ne Runde Pfeffi spendierten und die BOLANOW BRAWLer Christian und Keith gesellten sich auch noch dazu. Interessanterweise war Keith die meiste Zeit über am Fluchen, denn am Vorabend war er mit Christian noch im Monkeys bei BISHOPS GREEN gewesen und hatte es kräftig krachen lassen. Doch statt in Ruhe seinen Kater auskurieren zu können, hatte sich Christian Zugang zu seiner Wohnung verschafft, den Grill angeschmissen, ihn aus dem Schlaf gerissen und zum Weitertrinken gezwungen… Dazu später mehr.

Von der Jolly-Roger-Bühne waberten gar liebliche Klänge herüber, für die die HARBOUR REBELS verantwortlich zeichneten – jene neue Band um FAST-SLUTS-Bassistin Jule, die ich auch endlich mal live sehen wollte, also hin da. Und ich wurde mal so was von positiv überrascht: Astreiner, knackiger Oi!-Punk mit deutschsprachigen Texten, bei dem sich Jule als klasse Frontfrau mit kräftigem Organ entpuppte. THE OPPRESSED wurden dann noch mit „Skinhead Times“ gecovert und Jule bekam Unterstützung von einem Gastsänger. Das machte definitiv Laune und Durst und war ein perfekter Einstieg. Dass ich überhaupt in den Genuss kam, hatte aber einen eigentlich traurigen Grund: Der Zeitplan hatte sich aufgrund der kurzfristigen Absage von FISCHMARKT entzerrt, sodass offenbar einfach etwas später mit dem Programm gestartet wurde.

In der Umbaupause ging’s noch mal zur SKF-Bühne, wo ZEITBOMBE ARMUT mittlerweile beim Soundcheck angelangt waren und dann wohl auch irgendwann anfingen. Akustik-Protestsongs, denen nicht zu knapper Hippiemief anhaftete. Och, lieber nich… Deutlich krawalliger ging’s dann bei FAST SHIT auf der Jolly-Roger-Bühne zur Sache, bei denen HARBOUR REBEL Dennis ebenfalls mit von der Partie ist. Als ich mich dazugesellte, dürfte gerade das SCHLEIMKEIM-Cover „Keine Wut mehr“ durchgeprügelt worden sein, das übrige Set bestand dann jedoch vornehmlich aus eigenen Stücken zwischen Hardcore-Punk und schnörkellosem Hardcore, schön rau und angepisst und mit einem echten Aktivposten als Shouter, der einige Klettereinheiten absolvierte. Zwischendurch wurde der Gig unterbrochen, damit eine engagierte Dame aktuelle Infos zu den G20-Justizpossen verlesen konnte. Ausgerechnet beim letzten Song, einer dazu passenden Anti-G20-Nummer, kam’s unter den Zuschauern, die von oben an der Mauer das Geschehen verfolgten, zu einem reichlich unbeholfenen Bulleneinsatz, der dazu führte, dass die Schergen plötzlich die Straße überfluteten, mit ihrem verdammten Pfefferspray die Luftqualität noch einmal deutlich verschlechterten und die Besucher provozierten. An einem Wochenendabend zu fortgeschrittener Uhrzeit und bei deutlich alkoholisierterem Publikum wär’s sicherlich eskaliert. Unverantwortlich. Daumen hoch aber für den FAST-SHIT-Gig, schönes Ding!

Mit KÜKEN folgte die letzte Hamburger Band des Tages, eine Band, die es sich selbst verboten hat, Lieder über zwei Minuten Länge zu komponieren. Das Trio frönt simplem ’77-/Garage-Punk der ganz alten Schule, tritt dabei aber gut Arsch und setzt insbesondere aufgrund der konsequent riffenden Klampfe ’ne Menge Energie frei, die fast genauso durstig macht wie die HARBOUR REBELS. Auf die Stimme gab’s ’ne Extraportion Hall, ansonsten verzichtete die Band auf jegliche Kapriziosen und ließ die Instrumente sprechen. Gute Mucke sowohl zum Tanzen als auch zum Zudröhnen, kurzweilige Sause! Vom angekündigten Unwetter blieb der Hafengeburtstag übrigens verschont, es wurde lediglich irgendwann unangenehm kühl. Gewütet hatte es dafür in anderen Hamburger Stadtteilen und schlimme Überflutungen angerichtet. Dass der zauselige Petrus mit dieser Veranstaltung Gnade hatte, schien mir ein gutes Omen zu sein.

An der SKF-Bühne hatte sich mittlerweile herausgestellt, dass GIANNA NANNINI gar nicht persönlich erscheinen wird, jedoch auch keine Coverband o.ä. geplant war, sondern es sich lediglich um das Pseudonym des DJ-Duos handelte. So gut es seinen Job in Sachen Best of 80’s Pop auch machte, so enttäuscht zog ich von dannen – um meine Stimmung jedoch, zurück an der Jolly-Roger-Bühne, alsbald durch die mir empfohlenen katalanischen Streetpunks CRIM wieder aufzuhellen. Texte in Landessprache, herrlich raues Organ und manch hübsch melodisches Gitarren-Lead oder auch -Solo sowie die genretypischen Background-Chöre ließen mir mein Herz aufgehen, die letzten, von Abfüll-Christian beinahe aufgenötigten Getränke doppelt so gut die Kehle hinuntergleiten und mich noch mal darüber freuen, zu diesem Zeitpunkt an genau diesem Ort zu sein, um mir für umme derart meine Ohren verwöhnen zu lassen. Müßig zu erwähnen, dass die Vorfreude auf unseren Gig am nächsten Nachmittag noch einmal stieg. Einwandfreier Auftritt der iberischen Kollegen, der um ein „Watch Your Back“-Cover angereichert wurde, und Höhepunkt des Tages, nach dem wir uns höflich, aber bestimmt verabschiedeten, weitere Offerten von Abfüll-Chrille ausschlugen und lediglich leicht angeschickert den Rückzug antraten, um am nächsten Tag fit zu sein. Klingt unfassbar vernünftig, war aber so!

Hier eine kleine Retrospektive vom Kollegen vom SCHRAIBFELA-Video-Fanzine:

Dies traf allerdings nicht auf das eine oder andere weitere Bandmitglied zu. Der Freitag begann mit einem Schock: Christian hatte Keith noch derart fertiggemacht, dass dieser mit dem Kater seines Lebens in einer Art Leichenstarre erwachte und nicht wusste, wie er es in wenigen Stunden auf eine Bühne schaffen sollte. Ich sah Beweisvideos, in denen er gestützt von zwei Mädels und in Richtung Kamera noch immer über Christian fluchend von einer Kneipe in die nächste verschleppt worden war. Mir kam das alles sehr bekannt vor, denn mein erster Hafengeburtstag mit Christian anno dazumal endete ebenfalls im völligen Desaster, woraufhin der Song „Brainmelt“ entstanden war. Nun war guter Rat teuer. Das Web wurde nach Anti-Kater-Sofortmaßnahmen durchforstet, Expertentipps ausgetauscht und befolgt, Keith Wadenwickel angelegt und schließlich mittels intravenöser Verabreichung einer hochdosierten Morgenurinmittelstrahl-Koffein-Zitronenenzym-Mixtur fitgespritzt (bitte nicht nachmachen, das erfordert normalerweise medizinische Aufsicht), sodass er schließlich auf allen Vieren zu seinem Basskoffer kriechen und sich an ihm abstützend langsam in die Senkrechte hocharbeiten konnte. Wir waren gerettet!

Die einzige Krux an der Jolly-Roger-Bühne ist, dass man sich um die Backline selbst kümmern muss. Nachdem die unmittelbar nach uns spielenden ICHSUCHT und THE GUMS uns angesprochen hatten, hatten wir uns darauf geeinigt, gemeinsam einen Transporter zu mieten und dort unser Zeug einzuladen, das die anderen dann mitbenutzen – u.a. Christians verfluchte, megasperrige, arschschwere Gitarrenbox, die man ungelogen zu viert aus dem sechsten Stock des Probebunkers herunterschleppen muss. Hölle! ICHSUCHT-Anni kutschierte das Gelöt dann behände auf den Kiez, wo wir pünktlich wie die Maurer an der Jolly-Roger-Bühne aufschlugen, in Ruhe aufbauen und den Soundcheck durchführen konnten. Keith versuchte sich neben einem Konterbier am puren Überleben, ich trank mich auf Betriebstemperatur und begrüßte die ersten eintreffenden bekannten Gesichter, nahm außerdem erleichtert zur Kenntnis, dass die von DMF-Kai und Familie angedrohten Wasserpistolenattacken ausbleiben würden, weil man sich genötigt sah, sich an das Waffenverbot auf dem Kiez zu halten. Unsere Sorge im Vorfeld war außerdem, dass wir als Opener um 16:15 Uhr am Freitag vor leerer Kulisse spielen würden, doch diese erwies sich als unbegründet: Überraschend viele hatten sich pünktlich aus den Furzmulden geschält, um unserem Gig beizuwohnen. Dafür schon mal danke an dieser Stelle! Peinlich genau um 16:15 Uhr erklang unser Tusch, gefolgt vom eröffnenden Double aus „Brigitte Bordeaux“ und „Total Escalation“, dessen Konsequenzen ein sich wacker schlagender Keith anschaulich verkörperte. Und „Brainmelt“ auf dem Hafengeburtstag zu spielen, ist natürlich das Größte – wenn auch Keith ihn diesmal vermutlich noch stärker nachempfinden konnte als ich. Das Wetter spielte auch an diesem Nachmittag mit, bei herrlichem Sonnenschein lockten wir immer mehr Schaulustige an und tobte ich mich auf der ungewohnt großen, luxuriösen Bühne aus, die mich über gleich zwei Monitorboxen sowie einen guten Bühnensound verfügen ließ. Daran könnte ich mich gewöhnen… Lediglich mit Raouls Fußmaschine gab’s zwischendurch Probleme, die jedoch gelöst werden konnten. Aufgrund der begrenzten Spielzeit zogen wir unser Set recht zügig durch, sodass am Ende sogar noch eine gewünschte Zugabe gezockt werden konnte: Mit dem alten CRAKEELS-Kracher „Fame“, neuerdings mit funkigem Basssolo dargereicht, verabschiedeten wir uns und nahmen erstaunt zur Kenntnis, dass alle unsere mitgebrachten Platten verkauft worden waren, wir sogar noch mehr hätten loswerden können. Auch daran könnte ich mich gewöhnen. 😀

So hinterließen wir ICHSUCHT eine warmgespielte Bühne, auf der Sängerin Anni und Co. astreinen, authentisch angepissten, deutschsprachigen Punkrock abfeuerten, der musikalisch fit und textlich weit von Genreklischees entfernt ist, insbesondere durch die immer wieder durchklingende persönliche Note überzeugt. Flo bekam von Annis Stimme sogar eine Gänsehaut. In den Passagen, in denen der Gitarrist seine Leads spielt, wird allerdings deutlich, wie gut eine zweite Gitarre der Band zu Gehör stehen würde. Geiler Gig einer eigenständigen Band mit ebenso charismatischer wie sympathischer Sängerin, der völlig zurecht umjubelt wurde!

Nun also THE GUMS aus Freiburg und damit die erste Band des Tages von außerhalb: Der Name ist Programm, denn das Trio zockt supereingängigen Bubblegum-Pop-Punk mit englischsprachigen Texten, der gut reinlief, gute Stimmung verbreitete und bestens zum Wetter passte. Manchmal ist’s einfach diese bewusste Naivität, die bei solcher Mucke für mich immer mitschwingt, die eine willkommene Abwechslung darstellt und einen kurz aus der harschen Realität reißt. THE GUMS biedern sich niemandem an, sondern ziehen einfach ihren Stiefel durch, der luftig geschnürt ist, betont locker sitzt und ergonomischen Ansprüchen genügt. Kurioserweise spielte der Bassist übrigens mit geschientem Arm, was erstaunlich gut funktionierte. Runde Sache, ich hatte Spaß.

Aus den schönsten Strandträumen wurde ich jedoch jäh im Anschluss gerissen: Nun galt es, den Transporter wieder zu befüllen und direkt zurück zum Proberaum zu befördern, um ihn dort auszuladen. Die einzig zurechnungsfähige Person, Anni, steuerte das Vehikel, Christian lotste das Gefährt durch die von Hafengeburtstagsbesuchern blockierten Straßen und nahm anschließend auf dem Beifahrersitz platz. Raoul und ich fuhren mit der Bahn hinterher und da wir ab Landungsbrücken fuhren, hatten wir Gelegenheit, quasi einmal unser Punkrock-Ghetto zu verlassen und über den gesamten Hafengeburtstag zu latschen – und festzustellen, dass es „bei uns“ eben doch am schönsten ist. Mit ’nem Wegbier ging’s schließlich zum Proberaum, wo wir auf die anderen trafen und im Schweiße unseres Angesichts alles wider hochwuchteten. Und wenn es schon beschissen ist, Christians Box runterzuschleppen, bedarf es nicht viel Vorstellungskraft, wie sehr sich das potenziert, wenn das aus purem Blei geschmiedete Teil wieder hoch muss… Nachdem der Transporter wieder abgegeben war, fuhr uns die liebe Anni dankenswerterweise wieder auf den Kiez zurück und musste sich stocknüchtern unser angesoffenes Bullshit-Gebrabbel anhören, was sie tapfer ertrug, inkl. Zwischenstopps an Tankstellen, wo wir uns mit weiteren Getränken eindeckten. An ihrem Ziel irgendwo Nähe Kiez angekommen fragte sie noch, ob wir wüssten, wo wir uns befänden. „Na klar!“, erwiderten wir, hatten aber natürlich nicht die geringste Ahnung. An weiteren Tankstellen entlang hangelten wir uns schließlich in Richtung Elbe, bis ich eine Ecke wiedererkannte und wir uns aus anderer Richtung kommend der Jolly-Roger-Bühne näherten. Mittlerweile war’s dunkel geworden, die die SKF-Bühne zerlegenden 1323 hatte ich leider verpasst, von der heute eröffneten Onkel-Otto-Bühne am Störtebeker noch gar nichts mitbekommen und SILVER SHINE auf der Jolly-Bühne waren auch längst durch, lediglich von THE PROWLERS bekam ich noch den Schluss mit, Oi!-Punk aus Montreal, der sich hören lassen konnte.

Im ganzen Gewusel versuchte ich, Flo wiederzufinden, was schließlich gelang. Gemeinsam suchten wir die Onkel-Otto-Bühne auf uns sahen einen weiteren energiegeladenen SPIKE-Auftritt, jene Punkrock-Band um die Sängerin mit der großen Stimme und die Musiker von DER UNFUG UND SEIN KIND, über die ich an anderen Stellen ja schon das eine oder andere geschrieben habe. Hier herrschte allgemein die gewohnte Underground-Atmosphäre, die natürlich im krassen Gegensatz zu den großen, offiziellen Bühnen des Hafengeburtstags steht. Ob SENSA YUMA, jene mittlerweile in Spanien ansässigen Punks, die sich dem UK-82-Sound verschrieben haben, vorher oder nachher gespielt haben, weiß ich nicht mehr, jedenfalls bin ich währenddessen mal kurz reingestolpert, hatte aber anscheinend keine Zeit, mir die Band weiter anzusehen. Das ist schade, denn zum einen habe ich sie vor x Jahren an exakt diesem Ort erstmals live gesehen und bin dabei gut durchgedreht und zum anderen kicken die live einfach so viel krasser als aus der Konserve. Punktum: SENSA YUMA live sind ’ne Abrissbirne!

Nach SPIKE verschlug es uns wieder nach unten, denn so kritikwürdig manches an der aktuellen SLIME-Inkarnation und so durchwachsen das neue Album auch sein mag: Wenn Dirk zum Mikro greift und die alten Hits, die zu meiner DNA gehören, seit ich 14 bin, schmettert, setzt sich bei mir ein Automatismus in Gang, der mich begeistert mitgrölen und feiern lässt. Allerdings war’s mal wieder auf dem nun heillos überfüllten Gelände alles andere als einfach, einen Platz sowohl mit Sicht zur Bühne als auch Nähe zum Bierstand zu bekommen. Irgendwann hatten wir zumindest so etwas ähnliches, irgendwo mittig am Rand, und wurden zuerst wenig wohlwollend beäugt, nachdem wir uns dorthin gedrängelt hatten. Dies änderte sich jedoch, als ich lautstark mitzusingen begann und man mir dankte, da man nun endlich die Texte verstehen könne. Jo, gern geschehen. Tatsächlich war der Sound an dieser Position nicht mehr der Lauteste, aber sei’s drum. SLIME fügten die guten neuen Songs wie „Sie wollen wieder schießen (dürfen)“, „Brandstifter“ und „Ich kann die Elbe nicht mehr sehen“ ziemlich nahtlos ins klassikergespickte Set zwischen alten Weisen wie „Störtebeker“, „Legal, illegal, scheißegal“ und „Deutschland muss sterben“ ein und ließen sich feiern. Als wir uns zwischenzeitlich in den Backstage-Bereich zum Wasserlassen begaben, schauten wir uns das Geschehen kurz von hinten aus an, was uns aber schnell zu doof wurde – only Gedrängel und von vorn is real. Also noch paar letzte Bierchen gekippt, noch mal bischn backstage auf ’nen Absacker rumgelümmelt und schließlich von allen verabschiedet und diesen denkwürdigen Tag voller positiver Erfahrungen und Reizüberflutungen beendet. Immerhin lagen ein bzw. zwei weitere Tage Hafengeburtstag vor uns… Dass wir uns dann noch stundenlang in die Küche setzten, das „101“-DEPECHE-MODE-Livealbum durchhörten, jeden einzelnen Song durchdiskutierten und uns dabei mit Blue Curacao pur die Zungen blaufärbten, ist zu den gefürchteten Auswirkungen überhöhten Astra-Konsums zu zählen. Für mehr Ratsherrn (das Bier, nicht die blasierten Politaffen) auf dem Hafengeburtstag!

Der SCHRAIBFELA-Kollege war auch wieder unterwegs – danke, Keule!

Am nächsten Nachmittag startete ich mit dem hehren Vorsatz, ausschließlich Softdrinks zu mir zu nehmen, wir ließen erst mal Hafengeburtstag Hafengeburtstag sein und beobachteten im oder vielmehr am überfüllten Osborne, wie sich der HSV für die zweite Liga qualifizierte und diverse Ultras ein Freudenfeuer entzündeten. Anschließend trafen wir uns mit Bekannten von Flo und versuchten Blicke aufs Schlepperballett zu erhaschen, was gründlich misslang. Ein Softeis später fanden wir uns an der Onkel-Otto-Bühne wieder, wo wir erneut auf Kai & Co. trafen, ich meinen Vorsatz mit Bier wegspülte und wir den letzten Songs der wiedervereinten HH-Punks von C³I lauschten. Der Sänger singt mit ungewöhnlich hoher Stimme und spielt seinen Bass wie ’ne Gitarre, womit er eindrucksvoll eine Ausnahmestellung einnimmt. Cooler Scheiß.

Der eigentliche Grund meines Erscheinens aber waren WIRRSAL, jene Hamburger und Lübecker HC-Punks, die diesmal mit Kriegsbemalung auftraten, was an den bissigen, schnellen Aggro-Songs wenig änderte, die jedoch hitze- und schweißbedingt bald zerlief und offenbar eine toxische Wirkung auf die Bandmitglieder entfachte, die sie ungewohnt wirre Ansagen stammeln ließ. Der musikalischen Qualität tat dies jedoch keinen Abbruch und so schepperte es wieder ordentlich im Gebälk.

Auf ’nen Veggie-Burger ging’s nach unten und schließlich noch ’ne Etage tiefer zur NOTGEMEINSCHAFT PETER PAN, die einige starke Songs leider bereits verballert hatten (dieses AGNOSTIC-FRONT-Cover macht mich fertig, hätte ich eigentlich gern selbst gemacht!), während wir noch mampfend an der Festzeltgarnitur saßen. Sänger und Gitarrist Stemmen hatte sich in ein etwas unvorteilhaftes, knallgrünes „Viva la Bernie“-Shirt gezwängt und nutzte die Zeit zwischen den Songs, um u.a. zu erläutern, was es damit auf sich hat. Weitere ausführliche „Spoken-Words-Parts“ gingen auf die Besonderheiten der Jolly-Roger-Bühne ein, auf der eben im Gegensatz zu anderen offiziellen Bühnen Raum ist für kritische Haltungen und offen zur Schau gestellten Protest. Mit den einigen Unverbesserlichen, die derartige Ausführungen mit Zwischenrufen à la „Halt’s Maul und spiel!“ quittieren, wird man wohl ewig leben müssen. Leute, kauft euch doch einfach eine Platte und bleibt zu Hause! Aus dem Konzept bringen ließen sich die Notis davon natürlich nicht und kredenzten einmal mehr ihre ihnen eigene Mischung aus positiver Ausstrahlung, Spielfreude und von Stemmen und Drummer Mario inbrünstig vorgetragenen Inhalten zu diversen durchaus eingängigen Melodien – weshalb ich mir diese Band immer gern live gebe, Dies ist nun auch eine gute Gelegenheit, auf etwas einzugehen, was auch Stemmen nicht unerwähnt ließ: Nicht zuletzt, da man während des Hafengeburtstags eine Menge Leute erreicht, waren diverse Gebäude und Verkehrsbrücken mit Transparenten behangen worden, viele davon wiesen auf den mutmaßlich von Dessauer Polizisten begangenen grausamen Mord am Asylbewerber Oury Jalloh hin (u.a. thematisiert im TV-Krimi „Tatort: Verbrannt“). Den Hamburger Bullen fiel nichts Besseres ein, als deren Entfernung zu veranlassen, womit sie sich einmal mehr über geltendes Recht hinwegsetzten. Schämt euch! Und an die Feuerwehr, die dafür ihre Drehleitern zur Verfügung stellte: Ihr müsst auch nicht jeden Scheiß mitmachen, nur mal so als kleiner Tipp…

Worum’s bei „Viva la Bernie“ geht, lässt sich u.a. hier nachlesen.

Flo & Co. suchten nun Zerstreuung und Vergnügen im Riesenrad und wie ich dem so beiwohnte, überlegte ich, wie es Keith wohl am Tag zuvor darin ergangen wäre – von den anderen Foltergeräten dort ganz zu schweigen. Nachdem wir uns von Flos Bekannten verabschiedet hatten, zogen wir uns das durchaus beeindruckende Feuerwerk rein und schauten noch mal an der Onkel-Otto-Bühne vorbei, wo mein Highlight dieses Tages gerade die Bühne betrat: Die Bremerin und Bremer NEUROTIC EXISTENCE um Szene-Urgestein Tati (ex-LOST WORLD, ex-APOKALIPSTIX) bliesen zur Attacke und brannten ein irrsinniges Feuerwerk an melodischem, hochatmosphärischem Crust (o.ä.) ab. Fette Gitarrenwände und weiblich-männlicher Wechselgesang sorgten für eingängigen organisierten Krawall düsterer Ausrichtung, der ihrem fulminanten Gig im Gängeviertel 2017, als ich sie erstmals sah, in nichts nachstand. Das war richtig, richtig gut und flashte mich hart. Einziger kleiner Kritikpunkt: Tati hat ’ne Mörderstimme und weiß diese auch einzusetzen, lediglich die vereinzelt eingeschobenen Kreischer sind mir bischn zu viel. Alles andere scheint mir nah an der Perfektion und wenn man dann auch noch einen solch differenzierten, druckvollen Sound bekommt, wie ihn Mischmeister Norman wieder zauberte, ist nun wirklich alles im giftgrünen Bereich. Top!

Zur fortgeschrittenen Stunde war das aber noch längst nicht alles, denn eine weitere Überraschung stand an: Damit meine ich jetzt nicht, dass mir UNFUG/SPIKE-Paule seine letzten Bierbons vermachte (Danke, Alter!), sondern die mir vollkommen unbekannte Band, die den musikalischen Teil des Abends besiegeln sollte: Ich weiß (noch) nicht, wie MISTER X aus Russland auf Platte klingen, live war’s aggressiver Oi!-/Streetpunk mit Hardcore-Attitüde. Der agile Sänger gab Songs auf Russisch und Englisch zum Besten, einen auf Italienisch (!) und sogar einen mit deutschem Text! Sprachgenie oder wat? Wenn seine Bandkollegen solierten, verschwand er schattenboxend an den Bühnenrand. Zwischen den Songs zeigte er sich begeistert von der Onkel-Otto-Bühne und wies mehrfach darauf hin, dass so etwas in seiner Heimat nicht möglich wäre. Er äußerte sich gegen Diskriminierung u.a. von Frauen und verwies aufs Schlagzeugtalent der Band-Drummerin, unterstrich die Bedeutung des Spruchs „No need to be a cop“ und war so aufgedreht, dass ihm die Leidenschaft aus jeder einzelnen Pore zu quellen schien. Eine geniale Coverversion des OXYMORON-Klassikers „Crisis Identity“ passte perfekt zum eigenen Material. Ganz großer Gig einer Band, die ins Gedächtnis rief, dass Freiräume, wie wir sie in Hamburg genießen, keine Selbstverständlichkeit sind und man sich woanders noch ernsthaft mit unhaltbaren Thesen wie „Frauen haben in einer Oi!-Band nichts zu suchen!“ herumschlagen muss. Schade nur, dass man trotz zahlreicher Aufforderungen keine Zugabe mehr spielte.

Einen letzten Absacker genehmigten wir uns auf der Balduintreppe, bevor’s „fast“ nüchtern nach Hause ging. Damit endete mein Hafengeburtstag, reizüberflutet und bischn geschafft, aber glücklich. Flo jedoch stattete der Jolly-Roger-Bühne auch am nächsten Tag noch einen Besuch ab – Respekt! Respekt und tausend Dank auch an Sven Brux und die Jolly-Roger-Meute für die Auftrittsmöglichkeit und die vielen geilen Bands, an alle ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer, die an den Punkrock-Bühnen mit anpacken, Getränke ausschenken etc., an alle, die sich ums vernünftiges Essen bemühen und zu fairen Preisen klasse Veggievraß anbieten, an Coyote, Norman & Co., die wieder einmal erstklassige Bands teilweise von verdammt weit weg auf die Onkel-Otto-Bühne geholt haben usw. usf… Und natürlich danke an ICHSUCHT und THE GUMS fürs unkomplizierte Zusammenwirken nicht nur in Sachen Equipment, an Flo und Cheenz Dell Corvo für die Fotos unseres Gigs und last but not least an alle, die sich uns zur frühen Stunden reingezogen haben!

Unermüdlich auch am dritten Tag unterwegs war natürlich auch Kollege SCHRAIBFELA: