Günnis Reviews

Autor: Günni (page 12 of 100)

Stefan Theurer – Frei ab 16

Als ein gutes Geschenk zum sechzehnten Geburtstag bewarb der Frankfurter Eichbornverlag das im September 1993 herausgegebene großformatige Hardcover-Comicalbum „Frei ab 16“ des Autors und Zeichners Stefan Theurer, das mit 22,80 DM alles andere als ein Schnäppchen war. Auf rund 50 leider unnummerierten Seiten finden sich ein- bis dreiseitige, farbenfroh getuschte und großzügig gestaltete, weil nur ein bis zwei rahmenlose Panels pro Seite umfassende und mit riesigen Sprechblasen versehene, pointierte Gags im Funny-Stil, die sich mit favorisierten Themen Heranwachsender wie Liebe und etwas Sex, Musik und Zukunftsplänen befassen. Auffallend ist der starke jugendsubkulturelle Bezug; so finden sich immer wieder vor allem Punks und Headbanger unter den Protagonist(inn)en.

Herzstück des Bands ist jedoch die stilistisch aus der Reihe fallende, weil sich über ganze 20 Seiten erstreckende Geschichte „Suse und Kalle“, die in wesentlich klassischerer Comicform mit weit mehr Panels in variierenden Grids aufwartet. Sie erzählt von den titelgebenden Figuren, die sich ins nächtliche Partyleben stürzen und dabei u.a. ein Punk-Konzert besuchen (illustriert in Form eines schönen Wimmelbilds), Abenteuer mit den Bullen und Rocker-Rowdys erleben und schließlich am nächsten Morgen mit Mick, den sie gerade erst kennengelernt haben, an den Strand fahren. Anarchischer, antiautoritärer, wenn auch recht simpler Humor bestimmt die Handlung, deren Zeichnungen zudem mit echten Songtext-Zitaten damaliger (oder auch wesentlich älterer) Hits und authentischen Bandnamen auf T-Shirts, Plakaten u. ä. angereichert wurden.

Das hat seinen Charme, zeichnet aber auch ein reichlich naives Bild einer Jugend, wie sie 1993 längst nicht mehr war, und verwendet häufiger (zumindest mittlerweile) veraltete Jugendsprache. Als kleiner Spaß zwischendurch geht „Frei ab 16“ ebenso durch wie als Zeitdokument in Bezug auf die Präsenz von Jugendsubkulturen in Comics, der hohe Preis dürfte seinerzeit aber abschreckend gewirkt haben. Mein Exemplar bekam ich tatsächlich vor einiger Zeit geschenkt, wenn auch in antiquarischem Zustand. Passt super, denn als Punk bleibt man bekanntlich immer 16! (Wenn auch in mittlerweile möglicherweise ähnlich antiquarischem Zustand…)

Charles M. Schulz – Die Peanuts: Werkausgabe, Bd. 7: 1963 – 1964

„Es gibt keine schwerere Bürde als großes Potenzial!“ – Linus, 22. März 1963

Sämtliche aus je vier Panels bestehenden Zeitungsstrips sowie großformatigen Sonntagsseiten der „Peanuts“-Reihe Charles M. Schulz‘ aus den Jahre 1963 und ’64 in ihrer deutschen Übersetzung umfasst chronologisch sortiert der siebte Band der gebundenen Hardcover-Werkausgabe im Schutzumschlag aus dem Hamburger Carlsen-Verlag. In der vierseitigen Einführung berichtet diesmal Bill Mendelez, Regisseur der „Peanuts“-Filme, davon, wie es die Reihe ins Fernsehen schaffte, und schwärmt von der Zusammenarbeit mit Schulz. Wie gewohnt finden sich im Anhang des rund 330 Seiten starken Bands Gary Groths Nachwort, ein Stichwortindex sowie das Glossar mit Erläuterungen zu zeit- und kulturbedingt nicht unbedingt selbsterklärenden Comicstrips.

„Ich sollte nicht draußen spielen…“ – Charlie Brown, 31. Dezember 1964

Was also war damals los bei Charlie Brown und Konsorten? Nun, erwartungsgemäß Charlies Unvermögen, einen Drachen steigen zu lassen, in immer neuen Variationen, seine tiefsitzende Verunsicherung in Bezug auf das kleine rothaarige Mädchen, das er sich nicht einmal anzusprechen traut, und natürlich die von Pleiten geprägte neue Baseball-Saison, die im März beginnt. 1964 bekommt er gar einen Baseball-Arm und Radierophagie. Der Running Gag um Lucy und den Football, den Charlie treten soll, ist längst ebenso obligatorisch wie Lucys Schwärmerei für Schröder (sie beginnt sogar mit Klavierunterricht, um ihn zu beeindrucken), ihr „Job“ als Psychiaterin und die Schmusedeckenmanie ihres kleinen Bruders Linus. Dieser will Anfang 1963 doch tatsächlich Rinderzüchter werden, hadert aber damit, im Frühjahr nicht Klassenbester geworden zu sein. An Halloween steigert er sich auch immer mehr in seinen Glauben an den „großen Kürbis“ hinein. Als seine Anti-Schmusedecken-Oma immer öfter zu Besuch kommt, ist Holland in Not.

„…ich sollte ,Gullivers Reisen‘ lesen und eine Buchbesprechung schreiben…“ – Charlie Brown, 31. Dezember 1964

Der Hitchcock-Film „Die Vögel“ stört Snoopys Verhältnis zu seinen gefiederten Freunden und seine Ohren müssen mehrmals als Antennenmetapher herhalten. Frieda wird nicht müde in ihren Versuchen, aus Snoopy einen Karnickeljäger zu machen, doch seine Reaktion darauf ist großartig (oh, dieser Satz klingt wie eine Clickbaiting-Überschrift). Im Sommer 1963 muss der Gute ins Krankenhaus, das er jedoch vollständig genesen verlassen kann. Nach wie vor schleift er Linus bei seinen Schmusedeckendiebstahlsversuchen über Stock und Stein. Seine Hundehütte wird grundgesäubert, renoviert und ein Fresko an seiner Decke angebracht. Bemerkenswert, was er so alles in seiner Hütte zu horten scheint: Fernseher, Radiowecker, einen Van Gogh, einen Billardtisch im Keller und noch vieles mehr… Kein Wunder, dass so gern Vögel bei ihm vorbeikommen, u.a. um Bridge zu spielen.

Als Reaktion auf die Einführung der Postleitzahlen in den USA führt Schulz den von seinen Eltern nummerierten Jungen „5“ als kurzlebige Figur innerhalb der Reihe ein. Darüber hinaus wimmelt es wieder vor Anspielungen auf historische wie zeitgenössische Persönlichkeiten, u.a. eine Biologin. So denkt Schröder nach seinem Fauxpas im vorherigen Band nun wieder brav an Beethovens Geburtstag und veranstaltet 1964 im Vorfeld besonders viel Brimborium um ihn. Am 21. Juni 1964 feiert Schulz auf einer Sonntagsseite den Vatertag und im Spätsommer erlaubt er sich eine Persiflage auf Protestbewegungen und deren Symbole. Einer der Höhepunkte ist Linus‘ Bewerbung als Schülersprecher, die zu einer Parodie auf politische Wahlkämpfe avanciert. Linus‘ im Herbst 1962 eingeführte Brille ist hingegen kein Thema mehr, diese Idee scheint Schulz schnell wieder fallengelassen zu haben. Auch imitiert Snoopy diesmal keine anderen Lebewesen mehr, möglicherweise war dieser Gag auserzählt und er bereitete sich gerade auf seine Paraderolle als roter Baron vor.

Diese beiden Jahrgänge scheinen den festen Figurenstamm, die einzelnen Rollen und die mit ihnen verbundenen Gags in erster Linie konsolidiert zu haben. Hier und da schimmert Schulz‘ Skepsis gegenüber Politik und ihren Lautsprechern durch, weltbewegende Ereignisse wie die Ermordung John F. Kennedys bleiben jedoch ausgespart. In erster Linie verharrt man im liebgewonnenen Mikrokosmos von Kindern, von denen das eine oder andere viel zu erwachsene Probleme mit sich herumträgt und in seinen Umgang damit sowie seinen Erfahrungen zu einer köstlichen Karikatur menschlichen Miteinanders in der US-Gesellschaft Mitte der 1960er-Jahre wird. Das macht neugierig darauf, inwieweit sich die gesellschaftlichen Veränderungen der Folgejahre in den weiteren „Peanuts“-Abenteuern niederschlagen werden.

Mad-Taschenbuch Nr. 31: Al Jaffee – Und noch ein paar kluge Antworten auf dumme Fragen

Im einunddreißigsten Mad-Taschenbuch, im Jahre 1976 im US-amerikanischen Original und 1981 in seiner deutschen Fassung erschienen, gibt Mads dienstältester Autor und Zeichner Al Jaffee zum fünften Mal eine Soloverstellung: Zum zweiten Mal tritt er in seiner Königsdisziplin, den klugen Antworten auf dumme Fragen, an – wie gewohnt auf rund 160 Schwarzweißseiten. Für alle, die noch nicht wissen, was sie erwartet, führt ein kurzes Vorwort in die Thematik ein, das sich letztlich selbstkritisch das Attribut „überflüssig“ bescheinigt. In zwölf „Abt.“ genannte Kapitel unterteilt wird das bewährte Konzept beibehalten: Je einen Dialog abbildende Comic-Doppelseiten enthalten mehrere Antwortmöglichkeiten inklusive je einer Sprechblase zum Selbstausfüllen und sich über mehrere Seiten erstreckende Comics liefern pro Dialog eine sarkastische Antwort, die sich jedoch als Pointe böse für den Antwortenden rächen. Schlagfertige Reaktionen auf ach so kluge Antworten üben das ursprüngliche Konzept aufs nächsthöhere Level hievende Doppelseiten ein. Und wie bereits in Mad-Taschenbuch Nr. 8 ist das finale Kapitel einem selbstironischen Gag vorbehalten, in dem Jaffee sein eigenes Konzept auf die Füße fällt. Durchzogen ist das Buch zudem von (frei erfundenen) Testimonials historischer Persönlichkeiten. Jaffees „kluge Antworten auf dumme Fragen“ sind neben Don Martins durchgedrehten Comics zurecht der vielleicht größte Mad-Kult – und der hilft insbesondere in heutigen Zeiten, in denen jeder Dummdödel seinen Sermon in asozialen Netzwerken ablädt und seine einfältige Weltsicht öffentlich zur Schau stellt, den dies ungläubig Beobachtenden als eine Art Ventil, womit auch der satirische Anspruch gewissermaßen noch immer erfüllt wird.

Matthias „Gonzo“ Röhr – Meine letzten 48 Stunden mit den Böhsen Onkelz

„Teilweise war der Gesang der Fans im Chor fast lauter als die Musik auf der Bühne.“

Ich bin ein Punk. Ich treibe mich vornehmlich auf kleinen AZ- und Club-Konzerten im musikalischen und subkulturellen Untergrund herum und fühle mich dort wohl. Zu meinen musikalischen Favoriten zählen zig Bands, die jeglicher Gigantomanie gänzlich unverdächtig sind. Come as you are. Seit ich als Knirps im Grundschulalter den Heavy Metal und Bands wie Iron Maiden und Venom für mich entdeckt sowie Berichte über die „Monsters of Rock“-Festivals der 1980er ehrfürchtig verschlungen habe, bin ich aber auch der Faszination für das große Spektakel erlegen, fürs unerhört Prätentiöse, für gigantische Kulisse und Pyroshow. So ist mir dann auch nicht entgangen, welche Dimensionen deutsche Festival-Dauerbrenner wie „Rock am Ring“ oder das „Wacken Open Air“ im Laufe der Jahre angenommen haben – aber ebenso wenig, dass ein spezielles Einzelereignis diese im Juni 2005 sogar noch überflügelt hat:  „Vaya con tioz“, das die damalige Bandtrennung besiegelnde Abschiedsfestival der Böhsen Onkelz am Lausitzring sprengte trotz des kultivierten Underdog-Status der Frankfurter Band mit 100.000 verkauften Tickets alle bisher dagewesenen Dimensionen. Doch während übers W:O:A längst auch in den normalen Nachrichten berichtet worden war, blieb dieses Festival aufgrund des seit jeher zerrissenen Tuchs zwischen der Band und den Massenmedien ein medial lediglich von der Lokal- und der Musikfachpresse aufgegriffenes Ereignis. Kernstück des Festivals waren die Auftritte der Böhsen Onkelz, die an zwei Abenden hintereinander jeweils 27 Songs aus den ersten bzw. zweiten zwölfeinhalb Jahren ihrer Existenz spielten.

Eine Möglichkeit, sich über dieses Festival im Nachhinein aus erster Hand zu informieren, bietet diese großformatige, rund 100 gebundene Hochglanzseiten umfassende Mischung aus Bildband, Sachbuch und Memoiren, die von Onkelz-Gitarrist Gonzo verfasst und von Fotokünstler Ralph Larmann im Jahre 2006 bei Iron Pages Books herausgeben wurde. Natürlich nimmt Gonzo diese Gelegenheit auch zum Anlass, zu resümieren, die Leserinnen und Leser an seinen Gedanken und Gefühlen zur Band und deren (wie man seit 2014 weiß vorläufigem) Ende teilhaben zu lassen. Die Bilder stammen von Ralph Larmann, der seine Festivalimpressionen zumeist künstlerisch verfremdete und sie dadurch unwirklich, schemenhaft, wie leicht verblasste Erinnerungen erscheinen lässt, diese aber mit gestochen scharfen Fotos Gonzos – sogar mit Frau und Kindern – kontrastiert. Aus der Bildauswahl wird deutlich, dass Gonzo hier um Mittelpunkt steht und es um seine ganz persönlichen Eindrücke und Erinnerungen geht – seine Bandkollegen spielen daher eine untergeordnete Rolle.

Nach einem Vorwort sowie einem Rückblick in seine musikalische Sozialisation reflektiert Gonzo einige Seiten lang seine Band und ihr Wirken, stellt noch einmal klar, dass er keinesfalls als Rechtsradikaler in die Musikgeschichte eingehen wollte, äußert aber auch Verständnis für diejenigen, die der Band skeptisch gegenüberstehen. Das Selbstverständnis der Onkelz als ein möglichst breites Spektrum an Hörerinnen und Hörern erreichen und ihnen universelle, von Tages-/Parteipolitik losgelöste Botschaften vermitteln wollende, für Rebellion gegen Kleingeistigkeit, Angepasstheit und Mitläufertum stehende Band lässt sich ebenso herauslesen wie das gespaltene Verhältnis zur Presse. Interessant ist seine Aussage zum Wechsel zur Plattenfirma Bellaphon Anfang der 1990er: „Die Presse hatte uns bis dahin gar nicht zur Kenntnis genommen oder uns einfach totgeschwiegen.“ Das stünde in einem gewissen Widerspruch zu den bereits vorher veröffentlichten Songs „Lügenmarsch“ und „10 Jahre“, in denen Presse/Medien kräftig ihr Fett wegkriegen. Das dürfte sich jedoch widersprüchlicher lesen, als es gemeint war, denn in der Tat waren auch vor den großen Kampagnen Teile der Medienlandschaft zumindest vereinzelt in unseriöser Weise auf die Band angesprungen, die sich wiederum bis ins Jahr 1986 hinein aufgrund ihrer Bühnenpräsentation Rechtsextremismusvorwürfe zurecht gefallen lassen musste. Das in diesem Zusammenhang von Gonzo erwähnte Interview mit der Postille „Metal Hammer“, das er aufs Jahr 1988 datiert, dürfte jenes aus dem Jahre 1987 gewesen sein. Aber das nur am Rande.

Der Hauptteil des Buchs dreht sich schließlich ums Festival, das laut Gonzo seine Idee gewesen ist. Wie selbstverständlich erzählt er davon, wie er in einem Luxushotel residierte, und es fallen Sätze wie „Die nächsten Tage werden dann erst einmal mal mit Einkäufen zugebracht. Meine Bühnengarderobe muss vervollständigt werden […]“, die der Street Credibility nicht wirklich zuträglich sind. Man erfährt aber auch, dass er sich seine Gitarren mittlerweile selbst zusammenbaute, um den verschiedenen Sounds der unterschiedlichen Songs vollauf gerecht werden zu können – was nach nerdigem Soundtüftler klingt, der nichts dem Zufall überlässt. Und dass er sich privat für Hot Rods interessiert passt zu den Autorennen, die Teil der Rahmenprogramms waren: Dragster-Rennen trafen auf verrückte bis absurde Kleinwagenduelle. Sein eigentlicher Festivalbericht ist dann ein weitestgehend gelungener Spagat aus dem Versuch, zahlen- und faktenunterfüttert das Ausmaß auch technisch und logistisch begreifbar zu machen (Tonmeister Gerd Gruss und Tourleiter Thomas Hess kommen persönlich zu Wort), aus diversen, auch erheiternden Anekdoten und seinen Gefühlen auf der Bühne.

Schade ist jedoch, dass Gonzo mit kaum einer Silbe auf die zahlreichen Vorgruppen eingeht, darunter immerhin Kaliber wie Motörhead und Rose Tattoo. Ebenfalls kaum Erwähnung findet Onkelz-Bandkopf Stephan Weidner, mit dem sich Gonzo seinerzeit im Clinch befand – worüber man hier jedoch auch nichts erfährt. Auch der Hauptgrund für die Bandauflösung – Sänger Kevin Russells Polytoximanie und Drogenabhängigkeit, die ein Weitermachen nicht mehr erlaubte – bleibt ausgespart. Darüber, diese nicht an die Öffentlichkeit zu tragen, bestand Einigkeit in der Band. Ein inhaltlicher Fehler hat sich auf S. 52 eingeschlichen: Das erste Liveset erstreckte sich nicht von den Alben „Böse Menschen – böse Lieder“ bis „Wir ham‘ noch lange nicht genug“, sondern von „Der nette Mann“ bis „Heilige Lieder“. Irgendwo steht „Blackmoore“ statt „Blackmore“, aber das sei ebenso wie die nur wenigen Interpunktionsfehler verziehen.

Gonzo schließt seine Ausführungen mit einem positiven Ausblick, der gewissermaßen an seine spontane letzte Bühnenansage auf dem Lausitzring anknüpft, in der er sich gegen Trauer und Schwermut richtete und richtigerweise darauf verwies, dass die Platten und die Songs doch erhalten bleiben – was leider nichts daran änderte, dass unmittelbar nach Bandauflösung die nervigsten Epigonen und Kopisten von der Musikindustrie gehypt wurden, auch von denjenigen, die die Onkelz zuvor jahrelang mit dem Arsch nicht angeguckt hatten. Bourgeoise völkische Nationalisten wie die Italiener Frei.Wild galten plötzlich als tragbar und sollten die kommerzielle Lücke füllen, die nun entstanden war. Um einen ersten Eindruck von diesem Festival aus Sicht eines Onkelz-Musikers zu erlangen, scheint mir Gonzos und Ralph Lermanns Buch ebenso gut geeignet wie als Erinnerungsstück für diejenigen, die vor Ort waren. Wer große Überraschungen oder Enthüllungen, bisher unter Verschluss gehaltene Band-Interna oder gar persönliche Abrechnungen erwartet, ist hier aber an der falschen Adresse.

Frank Schäfer (Hrsg.) – The Boys Are Back In Town. Mein erstes Rockkonzert – ein Lesebuch

Im Jahre 2000 gab der promovierte Braunschweiger Literaturexperte, Musikjournalist, Romanautor und ehemalige Heavy-Metal-Gitarrist Frank Schäfer im Berliner Schwarzkopf-&-Schwarzkopf-Verlag dieses rund 240-seitige Lesetaschenbuch heraus. Über 40 Personen, zumeist aus den Bereichen Literatur und Journalismus, darunter einige durchaus prominente Namen, erinnern sich auf jeweils einer Handvoll Seiten nicht unbedingt immer an ihr tatsächlich erstes, aber zumindest an ihr erstes auf irgendeine Weise bedeutendes oder besonders memorables Rockkonzert, um ihre Eindrücke mit den Leserinnen und Lesern zu teilen. Auch der Begriff „Rock“ wird eher großzügig ausgelegt.

In seinem Vorwort scheint sich Schäfer für die naive Begeisterungsfähigkeit für populär- oder auch subkulturelle Konzertereignisse beinahe zu entschuldigen und für diese Sammlung zu rechtfertigen, bevor Harry Rowohlt (ja, der Harry Rowohlt!) den chronologisch sortierten Reigen mit Bill Haleys Konzert in Hamburg im Jahre 1957 eröffnet, auf dem er kurioserweise eigentlich gar nicht war. Michael Krögers Erinnerungen an den Münsteraner Gig der Rolling Stones 1965 wurden mit der antiquarischen Eintrittskarte, selbstgeschossenen Live-Fotos und einem Liebesdrama angereichert, Wolfgang Doeblings Bericht vom Kinks-Konzert 1966 in Stuttgart ist von Erinnerungen an seinen Nazi-Lehrer geprägt und Herbert Müllers Besuch von Casey Jones & The Governors 1966 oder ’67 in Gaggenau-Ottenau (bitte wo?) endet tragisch. Werner Pieper verschlug es an Ostern 1967 zu Geno Washington ins Londoner Marquee, was er für eine heute fast unvorstellbare Liebeserklärung an England nutzt. Den Stellenwert Londons als so etwas wie die europäische Musikhauptstadt wird von mehreren Autoren unabhängig voneinander betont und angesichts der Bescheidenheit der Beitragenden während ihrer Jugend ist man fast zu Demut geneigt. Es waren eben andere Zeiten…

Eugen Egner versucht sich zunächst aus der Affäre zu ziehen, ließ sich dann aber dazu überreden, seine Eindrücke vom The-Pretty-Things-Gig im Wuppertal des Jahres 1967 mit der Leserschaft zu teilen – wie von nun doch einige weitere Beiträge mit zeitgenössischen Fotos, Zeitungsartikeln und Erinnerungsstücken versehen. Bruchmann und Potthoff interviewten 1968 sogar The Who für ihre Herforder Schülerzeitung, Wolfgang Welt bringt die Essener Song- und Blues-Tage desselben Jahres mit Fußball in Verbindung. Fast noch interessanter als Rainer Balcerowiaks Besuch des Berliner Jimi-Hendrix-Konzerts 1969 sind seine Details zu einem Schachverein. Ralf Sotschek wiederum schildert, wie und warum ein Auftritt der Edgar Broughton Band in Berlin 1971 in einer Straßenschlacht endete, wie überhaupt gerade bei den frühen Berichten immer wieder von Polizeiterror und Gewalt die Rede ist und der Eindruck entsteht, die Exekutive habe Konzerte gern als willkommene Anlässe betrachtet, den Knüppel zu schwingen. Michael Bonder lässt uns daran teilhaben, weshalb er sich nach einem Besuch eines Festivals mit Birth Control und anderen Bands in Salzgitter an Weihnachten 1972 wie ein Held fühlte, während Fritz Tietz anlässlich der Reminiszenz an Ekseption in Bielefeld irgendwann während der frühen Siebziger herrlich sarkastisch die Unannehmlichkeiten größerer Konzerte, seine traurige Kindheit und den Hippiescheiß seiner Jugend beschreibt. Michael Quasthoff kann sich an den Auftritt des Tenorspielers (was soll das sein?) Ben Webster in Hildesheim im August 1973 gar nicht mehr erinnern, bei Pete Maestrani, den Andreas Schäfler 1973 in St. Gallen gesehen haben will, handelt es sich offenbar um fiktionale Figur und Jörg Güldens Abhandlungen über Jerry Lee Lewis versus Chuck Berry kratzt gehörig am Legendenstatus beider Rock’n’Roll-Pioniere.

Wenzel Storch hingegen liefert gleich eine ganze lakonische Anekdotensammlung und schließt mit einem wunderbar bekloppten Gedicht, Jörg Feyer beschäftigt sich mit Udo Lindenberg, Dietrich zur Nedden verpasste zwar Hendrix, ist dafür aber gewissermaßen mit auf der Live-Doppel-LP von Jane gelandet, und sicherlich nicht nur für Michael Sailer waren die Synthiepioniere Tangerine Dream 1976 Science-Fiction – urkomisch, wie er beschreibt, was ihn auf deren Münchner Konzert erwartete und wie er daraufhin zum Punk fand. Spannend: Friedhelm Rathjen war 1977 auf dem abgefackelten „First Rider Open Air Festival“ in Scheeßel dabei (inklusive Zeitungsartikel und Foto!). Dirk Knipphals kann seine präpubertäre Begeisterung für Status Quo nicht mehr nachvollziehen und hat diese an den Punk verloren; Matthias Wehrhahn (was ein Name) wiederum war 1979 bei Frank Zappa in Hannover und von da an immer enttäuschter von ihm, schafft es aber prima, mir dessen sperriges Œuvre zu erklären. Was Punk-Literat Jan Off über seinen musikalischen Horizont als immerhin schon Sechstklässler und seine Beweggründe, zusammen mit seinen Klassenkameraden die verfickten Teens zu hören, zu Protokoll gibt, ist einfach nur traurig – was ihm hoffentlich bewusst ist. Irgendwie war er anscheinend auch unangenehm frühreif. Dafür, dass sich seine Geschichte sehr ausgedacht liest, ist die Pointe eher schwach. Vollends enttäuschend ist diese bei Gerhard Henschel ausgefallen, der dadurch wie ein ignoranter, reaktionärer Spießer wirkt.

Doch dann endlich geht’s um Punk, mit Luka Skywalker kommt zudem auch endlich einmal eine Dame zu Wort. Ihre Erinnerungen an Aheads, Out of Order, Neurotic Arseholes und Notdurft Anfang der Achtziger in Bielefeld ist zugleich die Geschichte ihrer Metamorphose vom Hippiemädchen zur Punkette. die konsequent auf großschreibung verzichtende christina nemec hörte 1982 ebenfalls punk, ging aber auch zu drahdiwaberl in villach, fand falco gut und machte damit alles richtig. Und als einziger gab Oliver Maria Schmitt selbst ein Konzert, bevor er eines besuchte. Chapeau! Jürgen Roth muss dann lange im Hinterstübchen kramen, bis er auf Manfred Mann (Köln 1983) als erstes bedeutsames Konzert kommt, Ulrich Blumenbach besuchte im selben Jahre Loudon Wainwright III – bitte wen? Egal, denn das war in London, wo er sich von einer heißen Uschi aufreißen ließ. Rüdiger Wartusch bricht eine Lanze für die NDW-Band Fee, insbesondere ihre Gitarrenarbeit und Texte. Einer meiner persönlichen Höhepunkte des Buchs ist Bernadette Hengsts Beitrag über Ton Steine Scherben und Rio Reiser – ähnlich wie ihr ging’s mir während meiner Pubertät zunächst mit den Böhsen Onkelz und dann sehr bald mit Nirvana, Slime und schließlich allen weiteren deutschsprachigen Punkbands, die wirklich etwas zu sagen hatten.

Gerald Fricke war 1986 bei den Simple Minds, was ihm etwas unangenehm zu sein scheint. Studentenpunk Martin Büsser schreibt ansprechend und witzig über Nomeansno und was sie in den Achtzigern dem dahinsiechenden Punkrock an Innovation und Erneuerung einhauchten, scheint angesichts seines Rundumschlags gegen jene musikalische Dekade aber sowohl den Metal als auch Gruppen wie Depeche Mode & Co. verpennt zu haben – und unter „Mauerfall“, Implosion des Sozialismus und Ende der Rockmusik macht er’s nicht. Uff… Köstlich hingegen, wie Hartmut El Kurdi seine anfängliche Abneigung gegen Ton Steine Scherben zu Papier brachte – und wie er ausgerechnet über die von TSS-Fans so ablehnend aufgenommene Solokarriere Reisers zu eben jenem fand, den er 1988 in Eschwege live sah. Seine bizarren Erlebnisse auf jenem Konzert teilt er ebenfalls mit uns. Herausgeber Schäfer höchstpersönlich wurde das Privileg zuteil, dem „Monsters of Rock“-Festival 1988 im Bochumer Ruhrstadion beizuwohnen, wo Headliner Iron Maiden ihr damals aktuelles Götteralbum „Seventh Son of a Seventh Son“ vorstellten. Dafür hätte ich als 9-jähriger Knirps, der gerade den Metal für sich entdeckt hatte, meinen linken Arm gegeben, doch Schäfer? Macht daraus „… of the Seventh Son“, aus Karlsquell „Carlsquell“, aus Kiss’ „Deuce“ „Deuth“ – und ging mitten im Maiden-Set. Sakrileg! Christian Kortmann war im selben Jahr bei Kim Wilde und Michael Jackson, wofür ich meinen anderen Arm gegeben hätte, hadert aber ebenfalls mit diesem epochalen Ereignis der Popmusik. Was stimmt mit diesen Menschen nicht?

Mit Birgit Fuß bleiben wir im Jahre 1988: Sie war bei Bon Jovi in der Münchner Olympiahalle und schreibt sehr schön darüber. Ja, das „New Jersey“-Album fand ich damals auch ganz cool und hatte es mir zu Weihnachten schenken lassen. „Born To Be My Baby“, „Wild is the Wind“, „Bad Medicine“ … Wenn schon kalkulierter Schlüpferstürmer-Hardrock, dann so! Ob ihr letzter Absatz stimmt und es sich wirklich niemandem mehr vermitteln lässt, weshalb einem Twisted Sister, Guns N’ Roses oder eben Bon Jovi einst sehr viel bedeuteten…? Arne Willander vermittelt einen Eindruck davon, welch hartes Brot es sein kann, als Redakteur einer Lokalzeitung auf Konzerte gehen zu müssen und stellt eine amüsant widersprüchliche Liste an Regeln auf, Andreas Klotz hat sich Schäfers Lieblings-AC/DC-Anekdote ausgeliehen und gibt diese in Gedichtform wieder, Christian Göttner beschreibt das Phänomen The Prodigy in blumigen Worten und Knarf Röllem war bei den verdammten Kiss und steht zu diesem Guilty Pleasure. Ilse Holze, angeblich Lyrikerin und Ergotherapeutin in Leiferde bei Gifhorn, war 1999 in Wacken und schreibt verdächtig dem Schäfer ähnlich („Carlsquell“) … Interessant lesen sich die dort stattgefundenen Band-Reunions – als habe sich die Metal-Welt gerade auf ihre große Renaissance in den 2000ern vorbereitet.

Abschließend war Ulrich Holbein 1999 bei den Bad-Hersfeld-Hippies, hört eigentlich gar keine „U-Musik“ und berichtet in extrem blumiger bis verschwurbelter Sprache seinem Freund Sommerbert in Briefform davon. Damit wird das breite Spektrum dieses Buchs, sowohl was Beitragende als auch Musikstile betrifft, abgerundet. Der Zeitraum der beschriebenen Ereignisse, der sich über 42 Jahre erstreckt, macht aus dem Buch ein Stück weit auch eine Geschichtsabriss der Live-Musik im deutschsprachigen Raum, die einiges über den sich verändernden Zeitgeist, aber auch die gesellschaftlichen Bedingungen und Begleiterscheinungen verrät. Der besondere Zauber, der aus Rockmusik eine Alltagsflucht und Verheißung einer anderen, besseren, weil aufregenderen Welt machte, weicht in den Berichten zunehmend anderen Faktoren – parallel dazu sinkt aber auch die Gefahr, sein familiäres oder gesellschaftlichen Ansehen oder seine körperliche Unversehrtheit – Stichwort Bullenterror – durch einen Konzertbesuch aufs Spiel zu setzen. Anekdotenreich erfährt man zudem von ganz unterschiedlichen Herangehensweisen an Live-Ereignisse, von verschiedenen Erwartungshaltungen und ebensolchen Schlüssen, die gezogen werden. Der überwiegende Teil der in Buchform gebrachten bunten Mischung ist lesenswert und unterhaltsam, wobei die Laienautorinnen und -autoren den Profis der schreibenden Zunft nicht zwangsläufig nachstehen. Der nach einem Hit der ewigen Frank-Schäfer-Lieblinge Thin Lizzy betitelte Sammelband lässt sich prima häppchenweise zu Gemüte führen, lädt meist dazu ein, das jeweils nächste Kapitel zumindest kurz anzulesen (um dann doch dranzubleiben) und liefert ganz nebenbei zahlreiche Musiktipps mit.

Für diejenigen, die solchen Anthologien nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, gern persönlich geprägte Konzertberichte und Artverwandtes lesen und über den eigenen musikalischen Tellerrand hinausblicken (und es sei nur, um sich in ihm bestätigt zu sehen), dürfte das Konzept aufgegangen sein. Nicht verkneifen kann ich mir aber, das Lektorat des Verlags die „Never growing old-Tour“ (S. 72 oben) als anschauliches Beispiel dafür zu nennen, dass auch Eigennamen enthaltende Wortzusammensetzungen, wirklich, ganz in echt, durchgehend mit Bindestrichen versehen gehören. Denn wer würde schon freiwillig auf eine niemals wachsende Alttour gehen?

Mad-Taschenbuch Nr. 30: Don Martin geht in die Tiefe

„Mad-Chefdenker Don Martin“ (so bezeichnet man ihn in diesem Buch) ging innerhalb der deutschen Mad-Taschenbuch-Reihe im Jahre 1981 bereits in die sechste Runde. Die im US-amerikanischen Original bereits 1979 veröffentlichten Comic-Strips erstrecken sich wie gehabt über 160 (diesmal leider unnummerierte) Schwarzweiß-Seiten und gehen recht großzügig mit dem vorhandenen Platz um, mehr als ein bis zwei Panels pro Seite bekommt man nicht geboten. Den ersten Gag liefert dafür bereits das Cover, das den Titel dahingehend interpretiert, eine typische Don-Martin-Figur nasebohrend abzubilden. Textliche Unterstützung erhielt Martin von Dick de Bartolo, Don Edwing, John Gibbons, Frank Jacobs und Nick Meglin – eine fruchtbare Kooperation, die neben nur wenige Seiten umfassenden Gags um Soundwords, Slapstick und Absurditäten „Die Star-Story“ zu bieten hat, die nicht weniger als eine hervorragend gealterte Parodie auf typisch US-amerikanische Geschichten um Aufstieg und Fall von Rockstars darstellt, mit einer Persiflage der Anatomiestudien da Vincis aufwartet, ein grandioses neues Kriminalabenteuer Käpt’n Hirnis, diesmal im Zirkus, erzählt und Okkult-Horror à la „Der Exorzist“ oder „Das Omen“ aufs Korn nimmt – ganz zu schweigen davon, wie TV-Seifenopern in „Familie Fröhn“ durch den Kakao gezogen werden (ähnlich der „Feinbein-Saga“ aus Martins Mad-TB Nr. 17). Meines Erachtens handelt es sich bei diesem Büchlein um die bis zum damaligen Zeitpunkt besten und lustigsten Arbeiten Don Martins, mit denen er seinen Kultstatus untermauerte. Tatsächlich auch eines meiner liebsten Mad-Taschenbücher!

Cinema-Filmbuch Nr. 6: Erotik im Film – Kino der Lüste

ISBN: 3-88724-006-5

Das sechste Filmbuch der Kino-Zeitschrift „Cinema“ ist deren erstes, das sich dem erotischen Film widmet, scheint aber ungefähr im selben Zeitraum wie der vierte Cinema-Sonderband „Sex im Kino – Höhepunkte des erotischen Films“ entstanden zu sein. „Kino der Lüste“ wurde 1982 in der Zweiter Kino-Verlag GmbH veröffentlicht und von Jürgen Menningen, Berndt Schulz sowie Adolf Heinzlmeier verfasst. Wichtiger ist über weite Strecken jedoch die grafische Gestaltung, für die Lutz Kober verpflichtet wurde.

Das Konzept des 230 Seiten starken, großformatigen Schmökers im broschierten Einband setzt nämlich nach einem knappen Vorwort ungefähr 200 Seiten lang auf Setfotos noch und nöcher, teils großformatig und seitenfüllend, teils mehrere auf eine Seite. Eine untergeordnete Rolle spielt da der Begleittext, der – eingeteilt in die Hauptkapitel „Das erotische Objekt: Die Frau“, „Das erotische Subjekt: Der Mann“, „Die erotische Inszenierung“, „Die erotischen Symbole“ und „Das erotische Karussell“ – in zahlreiche von etwas längeren Vorwörtern eingeleitete Unterkapitel aufgegliedert sämtliche visuellen Aspekte der Filmerotik abzudecken versucht und zunächst die weibliche Anatomie Stück für Stück auseinandernimmt.

Das Schöne daran ist, dass er sich nicht etwa auf „Muschi, Titten und Arsch“ beschränkt, sondern ein Bewusstsein für subtile Erotik schafft, indem er mit Augen und Haaren beginnt, sich über Lippen, Filmküsse und Berührungen zum Hals und schließlich zum Busen vortastet, nur kurz im Schoß verweilt und über die Beine und den Rücken zum Gesäß findet. Einige Seiten sind im Anschluss dem Mann in einigen aufreizenden Posen gewidmet, mehr als einmal jedoch auch umringt von willigen Frauen. Generell muss konstatiert werden, dass das Buch überwiegend eine heterosexuell männliche Perspektive einnimmt, was größtenteils der damaligen Zielgruppenorientierung von Sekundärliteratur zum Thema Film, aber auch erotischer Kinoproduktionen geschuldet gewesen sein dürfte.

Im Kapitel um die erotische Inszenierung geht es weniger um Regie, Kameraperspektiven oder gar Filmanalyse, sondern um Kostüme und das Ablegen derselben sowie um Tanz. In den nächsten Abschnitten thematisiert man Filmschauplätze fleischlicher Gelüste wie Bordelle, (natürlich) Betten und Badewannen bis hin zur freien Natur. Das Kapitel um Symbolik bezieht sich leider lediglich auf Phallussymbole, Stiefel und spritzende Sektflaschen – insbesondere hier wäre wesentlich mehr möglich gewesen. So weit, so gut, so harmlos, wenngleich der etwas arg gestelzte oder schwülstige, um keine Metapher verlegene Text mitunter an den Nerven zerrt respektive die Grenze zur unfreiwilligen Komik überschreitet (S. 103: „So wie die Anatomie der Frau in ihre Bestandteile zerlegt und je nach Geschmacksrichtung zu pikanten Leckerbissen hergerichtet ist, entspricht ihre Darbietung auf der erotischen Speisekarte saftigen Fleischstücken, süßen Crêpes und flaumigen Soufflés. Es darf geschlürft, geschleckt und geleckt werden…“).

„Das Spektrum der sexuellen Temperamente und Spielarten vervielfacht sich zu einem grellbunten rauschenden Liebeskarussell“, schließt das Vorwort zum „Das erotische Karussell“-Hauptkapitel, das an verschiedenen Beispielen die neue Diversität erotischer Darstellungen im Film seit der sexuellen Revolution aufzeigen will. Im Subkapitel „Vom Zauber der Nymphe“ blickt einem dann jedoch gleich mehrfach die minderjährige, unbekleidete Eva Ionescu entgegen, ohne die mehr als fragwürdige Rolle, die sie damit im Erotikgeschäft einnahm, auch nur mit einer Silbe zu problematisieren. „Inzestuöse Gelüste“, wie die Autoren hier Pädophilie zu nennen scheinen, scheint hier ebenso gleichberechtigt akzeptiert zu sein wie Sex mit Tieren, der in einem Oshima Nagasi zugeordneten Zitat angerissen wird: „[Ein Regisseur] will einen Mann und eine Frau filmen oder einen Mann und einen Mann oder eine Frau und eine Frau oder einen Menschen und ein Tier, während sie sexuellen Verkehr miteinander haben.“ Danke, nein.

Weibliche Selbstbefriedigung, Frauen in Nonnenkluft (ohne dass der Begriff Nunploitation fiele), das Spiel mit den biologischen Geschlechtern (Travestie u. ä.) und gleichgeschlechtlicher Sex bilden die vertretbaren nächsten Punkte ab, wobei die Autoren zu letzterem wissen: „Der schwule Mann ist weniger attraktiv fürs Publikum. Männliche Homoerotik wird ungleich schamhafter behandelt als die weibliche.“ Mit dieser nüchternen Bestandsaufnahme bringt das Buch den damaligen Status quo auf den Punkt, den es jedoch zugleich unangetastet lässt. Mit über rein filmischer Darstellung von Erotik und Sexualität hinausgehendem Skandalpotential beschäftigt sich dann noch in aller Kürze der Abschnitt „Sexplosion“, der „Lustgreise“, „Rassen“grenzen überschreitende Lust und das Überwinden bzw. Ignorieren von Schönheitsidealen erwähnt, im Vorwort aber auch bilanziert: „Partnertausch, Perversionen, Pädophilie, Kindersex, Exhibitionismus, Gruppensex, Sodomie… die Eskalation schien ihren Gipfel erreicht zu haben.“ Auch hier lässt man eine eindeutige Distanzierung von Kindesmissbrauch vermissen, ja, nennt ihn ebenso wie Sodomie in einem Atemzug mit Partnertausch und Gruppensex. Unfassbar.

Die letzten 18 Seiten sind jedoch vollkommen anderer Gestalt. Sie gehören Berndt Schulz, der die Leserinnen und Leser auf einen sehr textlastigen Streifzug durch die „Geschichte des erotischen Films“ mitnimmt, der beim ersten Filmkuss aus dem Jahre 1897 ansetzt und Anfang der 1980er endet. Dieser Essay ist inhaltlich um einiges gehaltvoller, wenngleich auch die 200 vorausgegangenen Seiten interessanterweise nicht erst bei der sexuellen Revolution einstiegen, sondern u. a. auch alte Schwarzweißfilme aus Zeiten der Zensur berücksichtigten. Mit dem deutschem Sexfilm geht Schulz hart ins Gericht: „Sein Klima ist eigentlich antierotisch, seine Finessen sind plump. Sexualität wird meist als heimliches Getue vorgeführt. Klamauk herrscht vor. Mann und Frau bewegen sich in überholten Rollenklischees. Sex wird nicht aus Lebensfreude praktiziert, sondern um Vorteile zu erlangen. Traditionelle Vorurteile gegen Minderheiten oder Außenseiter feiern Urständ. Sex wird exekutiert, nicht genossen. Sexfilme sind so stereotyp wird Präservative. Sie sind nicht schweinisch, sie sind noch unter aller Sau, nämlich phantasielos.“ Der Mann spricht mir aus der Seele. Vermisst habe ich in seiner Geschichtsstunde jedoch den sog. Skandalfilm „Die Sünderin“ mit Hildegard Knef, und die Behauptung, Jayne Mansfield habe am Ende ihrer Karriere in Pornos mitgespielt, konnte ich nicht verifizieren. Ist ihm da ein Lapsus unterlaufen?

Arbeitet man sich durch den Text, fällt unweigerlich auf, wie viele als in irgendeiner Form bedeutsam genannte Filme es leider nicht ins DVD-, ja, häufig nicht einmal ins VHS-Zeitalter geschafft haben und somit kaum oder gar nicht verfügbar sind. Leider wird gar nicht erst zu jedem Filmbild die Quelle genannt; auch der Filmindex im Anhang hilft da kaum weiter, da er nicht nach Seitenzahlen, sondern nach Titeln sortiert wurde. Dafür verweist eine Bibliographie auf möglicherweise weiterführende Literatur. Insgesamt macht dieses Filmbuch einen äußerlich recht professionellen Eindruck, es ist sauber gelayoutet und Rechtschreibfehler halten sich in engen Grenzen. Berndt Schulz dürfte sich geärgert haben, dass man „Berdt“ aus ihm machte, und wenn auf Seite 83 aus Mario „Maria“ Adorf wird, kann man sich ein Schmunzeln dennoch nicht verkneifen – wenngleich einem das Lachen aufgrund weiter oben erwähnter Versäumnisse auch schon mal im Halse stecken bleibt. Fazit: Als Bildband gut, textlich durchwachsen und vielfach mehr ein Sittenportrait der damaligen Zeit denn fundiertes Nachschlagewerk.

Mad-Taschenbuch Nr. 29: Frank Jacobs / Paul Peter Porges – Mit Mad rund um die Welt

Als ideale Reiselektüre empfiehlt sich das 29. deutsche Mad-Taschenbuch, das 1981 – zwei Jahre nach der US-amerikanischen Originalausgabe – auch hierzulande erschienen ist und das Debüt des Duos Frank Jacobs (Text) und Paul Peter Porges (Zeichnungen) innerhalb dieser Reihe darstellte. Nach einem Vorwort des Redakteurs Nick Meglin wird in 17 abwechslungsreichen Kapiteln im gewohnten Umfang von rund 160 Schwarzweißseiten das Thema Reisen auf humorvolle bis satirische Weise abgehandelt. Zu aus einzelnen Karikaturen und etwas Text bestehende „Du weißt, du hättest lieber zuhause bleiben sollen, wenn…“– und „Die Lust am Reisen kann einem total vergehen, wenn…“-Gags, einem Reisequiz in mehreren Teilen und typischen Phrasen für verschiedene touristische Ziele gesellen sich erzählerische, mehrseitige kleine bebilderte Geschichten wie „Sechs langweilige Tage für langweilige Menschen“ oder der Comic vom Besuch bei einem Fluglotsen, mit grafischen Perspektiven operierende Gags wie verschiedenen Ansichten des schiefen Turms von Pisa und in Comicform dargereichte „Dumm und schlau auf Reisen“-Gegenüberstellungen. Textlastiger fallen die Urlaubskarten und ihre „Übersetzungen“ durch die Mad-Redaktion aus, schneller durchgeblättert hingegen sind die „ausländischen Warnschilder, die man unbedingt kennen muss“. Somit ist dieses Taschenbuch eine Sammlung thematisch verwandter Gags in verschiedenen Darreichungsformen, die zahlreiche Klischees aufs Korn nehmen, dabei insbesondere aus heutiger Sicht nicht immer politisch korrekt ausfallen und zu einem vergnüglichen Reisebegleiter für ironie- und sarkasmusbegabte Menschen mit einer Vorliebe für den typischen Mad-Humor werden – wenngleich aufgrund der globalen Entwicklungen seit Erscheinen des Buchs nicht alle aufgegriffenen und überspitzt verarbeiteten Beobachtungen noch Gültigkeit besitzen.

Charles M. Schulz – Die Peanuts: Werkausgabe, Bd. 6: 1961 – 1962

„Es hat was Symbolisches, von einem Fernseher überrollt zu werden, während man ein Buch liest…“ – Linus, 31. August 1961

Band 6 der „Peanuts“-Werkausgabe des Hamburger Carlsen-Verlags umfasst die deutsche Übersetzung sämtlicher aus je vier Panels bestehender Zeitungsstrips sowie der großformatigen Sonntagsseiten aus der Feder Charles M. Schulz‘ der Jahre 1961 und 1962, wie gewohnt unkoloriert, chronologisch sortiert und im Querformat auf festem mattem Kartonpapier zwischen zwei stabile Buchdeckel im Schutzumschlag gebunden. Jazzmusikerin Diana Krall beschreibt im dreiseitigen Vorwort den Einfluss der Peanuts auf ihr Leben, ihren Alltag und ihren Sprachschatz; Gary Groths übliches Nachwort, der Stichwortindex sowie das Glossar, das zahlreiche etwas Erklärungsbedarf aufweisende Strips erläutert, runden die ca. 330-seitige Edition ab.

Das neue Jahrzehnt beginnt aufwühlend für Linus: Lucy hat seine Schmusedecke vergraben! Snoopy hingegen freundet sich mit zunehmend mit Vögeln an und gestattet gar einem ganzen Schwarm, in seiner Hundehütte zu tagen, was, wie man weiß, nur der Vorläufer seiner späteren innigen Freundschaft zu Piepmatz Woodstock ist. Sein Herrchen Charlie Brown hat noch immer Probleme damit, seinen Drachen steigen zu lassen, kämpft beim Briefeschreiben ständig mit seinem Füller und fühlt sich seiner Rolle als Baseball-Team-Kapitän nicht mehr gewachsen – dabei wird er im Laufe der hier abgedeckten zwei Jahre sogar einen seiner seltenen Siege erringen! Am 6. März 1961 wird das Ensemble um die kleine Frieda ergänzt, eine besonders mitteilungsfreudige Figur, die nicht müde wird, selbstverliebt auf ihre Naturlocken hinzuweisen. Snoopy liegt sie ständig damit in den Ohren, dass er zu faul sei und eigentlich Kaninchen jagen sollte, doch ihre Vorstellungen davon, was ein „richtiger Hund“ zu tun und zu lassen habe, entsprechen nicht Snoopys. Der Beagle fürchtet sich zudem vor Konkurrenz durch eine Katze, und tatsächlich schleppt Frieda eines Tages Kater Faron an, ein besonders biegsames Exemplar, das sie permanent durch die Gegend trägt.

Lucys 1960 eröffnete „Psychopraxis“ brummt insbesondere wegen Charlie Browns Sorgen und Problemen, für Linus hat sie jedoch nur Fausthiebe übrig. Lehrerin Fräulein Othmar kehrt zurück und Linus ist entsprechend verzückt, was ihn jedoch nicht davon abhält, zu Halloween wieder vom „großen Kürbis“ zu schwadronieren – eine eigentlich doch sehr schöne Abwandlung der Halloween-Bräuche, wenngleich ihn niemand dafür ernstnimmt. Dauerbrennerthemen sind neben Baseball und Linus‘ Schmusedecken Snoopys Imitationen u.a. von Geiern, diesmal aber sogar von Lachsen (!) und natürlich Lucys unerwiderte Liebe zu Pianistenwunderkind Schröder, der diesmal doch tatsächlich Beethovens Geburtstag vergisst! Dafür findet im Dezember 1962 eine Beethoven-Geburtstagsfeier statt, die dem Anlass gerecht wird. Auf der Sonntagsseite vom 19. November 1961 erwähnt Charlie erstmals das kleine rothaarige Mädchen, die zu seiner großen Sehnsuchtsgestalt werden und es über Dekaden hinweg bleiben wird. Im Februar 1962 benötigt Linus plötzlich eine Brille, die er in den nächsten Monaten in zahlreichen Strips tatsächlich trägt – auch hier ist die weitere Entwicklung spannend. Am deutlichsten gealtert ist Charlies kleine Schwester Sally, die bald die Vorschule besuchen soll und sich davor fürchtet.

Die Jahre 1961 und ’62 des Peanuts-Kosmos sind von einer wunderbar ausgewogenen Mischung aus Evolution, Beibehalt und Fortführung von Gewohntem sowie Running Gags gekennzeichnet. Ferner wirken Sie auf mich ein wenig moderner als zuvor, was zum einen am karikierenden Aufgreifen psychologischer Gespräche und zum anderen an der recht detaillierten Beschreibung der persönlichen Belastungen, die Charlies Baseball-Leidenschaft für ihn mitbringt, liegt. Mit Frieda wird zudem eine weitere überaus selbstbewusste weibliche Figur etabliert, während zugleich dem damaligen US-Zeitgeist durch Themen wie Kennedy, Mediendebatten oder Bürgerkriegsmützen Tribut gezollt wird. Insbesondere Frieda vertritt Rollenbilder und fordert diese auch von anderen ein, woraus kleine Debatten um Individualität und Diversität entstehen, bei denen Schulz‘ Sympathien klar verteilt sind

Waren die Inhalte der bisherigen Werkausgabenbände komplett neu für mich, so finden sich hier ab dem 5. Juni 1961 die ersten mir schon bekannt gewesenen Strips. Es ist nach wie vor ein großes Vergnügen, mitzuerleben, wie die Kinder in ihrer eigenen Welt ohne sichtbares Eingreifen von Erwachsenen – diese finden wie üblich lediglich in den Dialogen der jungen Figuren statt – einerseits ganz Kinder sind und mit ihrer naiven Weltsicht auch die Erwachsenenwelt karikieren, andererseits Sorgen und Nöte verhandeln, die eigentlich Erwachsenen vorbehalten sein sollten, und mal seufzend, mal fragend und philosophierend versuchen, sich einen Reim auf die Welt zu machen. Diese ist ein überschaubarer Mikrokosmos, der mehr und mehr exemplarisch für die US-amerikanische Gesellschaft steht und damit viel über ihren damaligen Zustand verrät.

Frank Schäfer – 111 Gründe, Heavy Metal zu lieben

Zwischen seinen im Oktober-Verlag erschienenen Rezensionssammlungen „Alte Autos und Rock’n’Roll“ und „Rumba mit den Rumsäufern“ veröffentlichte der Braunschweiger Dr. phil. Frank Schäfer, seines Zeichens Literaturkenner, Journalist, Romanautor und Ex-Gitarrist der Band „Salem’s Law“, im Berliner Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf ein Taschenbuch mit dem Titel „111 Gründe, Heavy Metal zu lieben“. Das war im Jahre 2010 und nach seinem arg durchwachsenen ersten Versuch „Heavy Metal – Geschichten, Bands und Platten“ aus dem Jahre 2001 das zweite Mal, dass sich Schäfer bei seinen Buchveröffentlichungen explizit auf den Heavy Metal bezog. Wie sehr es sich der Gelehrte mittlerweile traute, offen zu seiner musikalischen Vorliebe zu stehen, lässt bereits der Titel erkennen. Wollte er 2001 vor allem seinen akademischen Kolleg(inn)en etwas beweisen, nämlich wie wissenschaftlich-verschwurbelt man auch als Metaller schreiben kann, so hatte er diese Marotte 2010 noch nicht ganz abgelegt, schrieb nun aber zu gleichen Maßen für Gleichgesinnte, sprich: für Metal-Fans. Den gesellschaftlichen Hintergrund werden Jüngere eventuell nicht mehr kennen, aber lange Zeit war es tatsächlich so, dass Hardrock und Heavy Metal als primitive Musik für ebensolche Menschen galten, und für je elitärer sich ein Bildungsbürger gebärdete, desto tiefer waren Vorurteile und Ablehnung verankert. Doc Schäfers Umgang damit ist somit auch ein aufschlussreiches Zeitzeugnis.

Nachdem ich von Schäfers Stil, über Musik und Subkultur zu schreiben, einst durch seine „Metal Störies“ aus dem Jahre 2013 angefixt worden war, hatte ich mir die geschmackvoll gestaltete erweiterte Neuausgabe der „111 Gründe“ zu Weihnachten schenken lassen. Diese kommt nicht nur als rund 300-seitige gebundene Ausgabe im festen Deckel und mit Schutzumschlag daher, sondern wurde auch um satte 33 Bonusgründe ergänzt. Inklusive Hidden Bonus Track bringt es der Schmöker also auf 145 Kapitel, jeweils zwischen einer und vier bilderlosen Seiten lang und aufgeteilt in die neun Abschnitte Geschichte, Fans, Musik, Theorie, Kultur, Stile, Welt, Listen und Bonustracks, in denen Schäfer stilistisch zwischen Belletristik und Sachbuch mäandert. Ob es eine so gute Idee war, Motörhead-Lemmy auf den Umschlag zu packen, der zeitlebens mit dem Metal-Etikett fremdelte und stets angab, lediglich Rock’n’Roll zu spielen, sei mal dahingestellt – ein wesentlich ansprechenderer Blickfang als die hässliche Illustration auf der Erstauflage ist er in jedem Fall.

Um es gleich vorwegzunehmen: Die einzelnen Kapitel hätten größtenteils (von den „Weil…“-Überschriften einmal abgesehen) unverändert auch in Schäfers mittlerweile zahlreichen Sammlungen aus Anekdoten, Essays, Rezensionen, Glossen und Konzertberichten erscheinen können. Schäfer dürfte sich also nicht sein Konzept inklusive 111 bzw. 145 Gründen überlegt und dann zu den jeweiligen Themen etwas geschrieben, sondern seine bisher unveröffentlichten Texte eher nachträglich in Hauptkapitel eingeteilt und sich die zum jeweiligen Text passenden „Gründe“ abgeleitet haben. Das macht aber nichts, sondern sorgt vielmehr für eine große thematische Breite und schriftstellerische Freiheit – schließlich wurde eine zum Inhalt passende Form gefunden und nicht umgekehrt.

Nein einem hervorragenden Einführungstext geht’s dann Schlag auf Schlag, Kapitel für Kapitel. Anfangs zitiert Schäfer viel aus historischen Musikkritiken von Lester Bangs und Konsorten und behandelt die frühe Entwicklung des Genres. Auf Seite 22 blitzt erstmals der Schäfer’sche Humor in Form von Selbstironie hervor, wenn er seine eigene Kapelle als „ihrer Zeit um Jahrzehnte vorauseilende Prog-Metal-Band“ bezeichnet und als kleinen Running Gag etabliert. Schön, dass er auch auf Metal in der DDR eingeht – ein besonders spannendes Kapitel jüngerer deutscher Musikgeschichte, wie ich finde (und vor ungefähr zwei Jahren recht ausführlich in den Fachmagazinen Deaf Forever und Rock Hard aufgearbeitet). Dass „Die Königin der Verdammten“ einen Metal-Soundtrack haben soll, hat mich daran erinnert, mir den Film endlich einmal zu besorgen (und „Rock Star“ sollte ich mir wohl auch einmal ansehen). Schäfer datiert eine allgemeine ‘80er-Musikrenaissance, von der auch der Metal betroffen gewesen sei, auf den Beginn des neuen Jahrtausends und führt als Hauptgrund die nostalgischen Gefühle gealterter Metal-Hörer(innen) an. Das spielte sicherlich eine Rolle. Stärker würde ich jedoch gewichten, dass der Metal in den 1990ern seine experimentelle Phase durchgemacht hat, wie es wohl jedes Genre einmal tut, und sich danach genau angeschaut wurde, was davon gelungen war und was wegkann, um sich alsbald wieder auf seine eigentlichen Stärken zu berufen. Eine wichtige Rolle dürfte dabei die Veröffentlichung des Albums „Brave New World“ der wiedererstarkten Iron Maiden gespielt haben, einem Meilenstein des Genres und neuem Orientierungsfixpunkt für möglicherweise in den ‘90ern verirrte Headbanger(innen). Wenn Schäfer in diesem Kontext Heavy-Metal-Fans Konservatismus unterstellt, ist damit keinesfalls dessen gesellschafts- und parteipolitische, mit reaktionär besser umschriebene Entsprechung gemeint, sondern die positiv konnotierte Pflege und Erhalt des Pudels genre- und kulturkonstituierenden Kerns.

Im Fans-Abschnitt zitiert Schäfer mehrmals Chuck Klostermann, seines Zeichens Autor Poser-/Hair-/Glam-Metal verklärender Schriften, dem ich grundsätzlich skeptisch gegenüberstehe, und bringt mit Grund Nr. 23 eine Anekdote ohne erkennbaren Metal-Bezug unter. Aber er vermeidet glücklicherweise auch allzu soziologische Erklärungsversuche und erinnert sich daran, für die Fans zu schreiben, denen er ein paar eindeutig sympathisierende, informative oder schlicht erheiternde Anekdoten kredenzt. Geht es schließlich als Kapitelüberbau um die Musik, notierte ich mir zunächst, meiner Prog-Ignoranz zum Trotz (proggier als Iron Maiden und Mercyful Fate in so manch Komposition brauche ich’s wirklich nicht), dann doch noch mal in Rushs „Snakes & Arrows“ reinzuhören. Ein ganzes Kapitel widmet Schäfer der Entwicklung AC/DCs nach „Back in Black“, beginnt also bewusst mit deren Saure-Gurken-Zeit. Da scheiden sich die Geister, denn natürlich fiel es der Band schwer, an die Bon-Scott-Ära und das Brian-Johnson-Debüt anzuknüpfen, retrospektiv betrachtet war dann aber bei Weitem doch nicht alles scheiße, was nach Diesel, Fusel und australischem Schweiß stank: „Flick of the Switch“ kommt bei mir besser weg als „For Those About To Rock (We Salute You)“, denn am Titelstück kann ich im Gegensatz zu Schäfer nichts Kritikwürdiges entdecken, an „Bedlam in Belgium“ ebenso wenig, und neben dem von Schäfer positiv hervorgehobenen „Guns For Hire“ gibt’s doch wohl auch am etwas härteren „Brain Shake“ wenig auszusetzen. Ok, bei „Landslide“ hat er recht, der klingt wirklich recht gehetzt und kann das leider nicht mit einem memorablen Refrain ausgleichen. Dafür ist mir im Gegensatz zu Schäfer „Deep in the Hole“ zu lahmarschbluesig. „This House Is On Fire“ kann aber tatsächlich zu wenig. „[I]st hier auch nur ein einziger Song der Rede wert?“, fragt Schäfer in Bezug aufs Nachfolgealbum „Fly on the Wall“. Nun, hat man sich erst einmal an den nicht ganz optimalen Schlagzeugsound gewöhnt, wissen mindestens das Titelstück sowie „First Blood“ und „Playing With Girls“ so sehr zu gefallen, dass sie es in meine Best-of-Playlist geschafft haben. Auf die Soundtrack-Mini-LP „Who Made Who“ folgte dann aber auch schon mit „Blow Up Your Video“ ein starkes Album, das mitnichten lediglich einen einzigen erinnerungswürdigen Song enthält: Zu „Heatseaker“ gesellten sich mit „That’s The Way I Wanna Rock ’n‘ Roll“, „Nick Of Time“ und „Two’s Up“ ein paar richtig gute Songs, weshalb ich das Hit-Album „The Razors Edge“ eher als Steigerung des mit „Blow Up Your Video“ eingeschlagenen Weges betrachte denn als aus dem Nichts kommende Überraschung. Weit mehr als „ein lahmarschiger Ausrutscher“ ist dann auch der 1995er-Nachfolger „Ballbreaker“, meine Best-of zählt gleich sieben Einträge! Der von Schäfer skizzierten Entwicklung der Band muss ich also zumindest in Teilen widersprechen. Aber das nur am „Rande“ (ähem…).

Noch einmal zu AC/DC, weil Schäfer die Band im unmittelbar folgenden „Grund Nr. 35: Weil Heavy Metal nicht immer viel bedeuten muss“ ebenfalls erneut aufgreift und ihre „Rock’n’Roll Train“-Lyrics auseinandernimmt: Der Text ist leider falsch zitiert. Lag kein Booklet vor und er hat versucht, ihn eigenohrig herauszuhören? Oder eventuell irgendeine Internetquelle ungeprüft bemüht? Wer sich nun fragt, wie Heavy Metal und AC/DC eigentlich zusammenpassen, tut das zurecht, den egal, ob man die Band nun als Hard-, Blues-, Boogie-Rock oder Rock’n’Roll klassifiziert, Metal im eigentlichen Sinne ist’s nicht. Hardrock und Metal gingen aber schon immer Hand in Hand miteinander einher, die Übergänge („Heavy Rock“?) sind fließend und Schäfer hat ohnehin eine ausgeprägte Schwäche für Bands, die die reine Metal-Lehre nun nicht unbedingt verinnerlicht haben (Southern-Rock-Gedöns, skandinavischer Rotzrock, Thin Lizzy, unverständlicherweise sogar Ratt und Konsorten…) und berücksichtigt beispielsweise auch die Punkband Bad Religion in seinem Buch. Ein bisschen schade ist es schon, dass, geht es konkret um Bands, relativ wenig aus dem klassischen Metal-Bereich behandelt wird, der Großteil der Kapitel widmet sich aber ohnehin bandübergreifenden Belangen. Das gilt selbstverständlich nicht für die Metallica-Abhandlung, die in Details streitbar ist, ich nach meinen AC/DC-Abschweifungen nun aber nicht auseinanderklamüsern werden. Seinen Abschnitt über harte Gitarrenmusik aus Skandinavien hingegen hätte Schäfer gern in die einzelnen Länder aufteilen dürfen, denn die norwegische(n) Szene(n) unterscheiden sich doch stark von der/den schwedischen usw. In aller Kürze setzt sich Schäfer mit den Motörhead-Alben der Jahre 2002 bis 2008 auseinander, was mich anregt, es ihm bei Gelegenheit einmal gleichzutun – auch wenn sie nicht zu den großen Klassikern zählen, dürfte es auf den Alben des aktuellen Jahrtausends doch das eine oder andere zu entdecken geben.

Wenn Schäfer im Theorie-Teil gewissermaßen einen Schritt aus dem Musikzirkus herausmacht und mehr eine observierend Position einnimmt, ist das nicht minder lesenswert, insbesondere wenn er die bandübergreifend Hell/dunkel- bzw. Blond/schwarzhaarig-Kontrastierungen ausmacht und erläutert – das war mir neu und ist gut beobachtet. In den Kultur-Teil steigt Schäfer mit einer Van-Halen-Ehrerbietung ein, auf die hin man Lust bekommt, sich alle genannten Alben sofort ins Regal zu stellen bzw. besser noch: aufzulegen. Auch darüber hinaus ist dieses Hauptkapitel besonders interessant ausgefallen, da die Gelegenheit genutzt wird, diverse Besonderheiten ins Gedächtnis zu rufen, die üblicherweise nicht unbedingt mit Hardrock und Metal assoziiert werden. Hineingeschmuggelt hat Schäfer eine sehr persönliche Episode, die Bezug auf den (ungerechtfertigten) Verriss des einzigen Salem’s-Law-Albums in der Metal-Hammer-Postille sowie die einige Jahre später im Rock Hard veröffentlichte Minuskritik eines seiner Bücher nimmt und mit der Schäfer suggeriert, negative Kritik mit Humor nehmen zu können. Auf einer Doppelseite gibt es dann sogar doch etwas zu sehen, nämlich sechs von Christopher Szpajdel gestaltete Bandlogos.

Der Abschnitt Stile deckt streng subjektiv lediglich von Schäfer goutierte Spielarten der Musik ab, dafür jeweils erzählerisch gut verpackt. In Welt werden Schlaglichter auf regionale Eigenheiten geworfen und hier und da ein exotischer Touch eingebracht, während Listen (Metal-Fans lieben Listen!) Butter die Fische gibt und neben lesenswerten Metal-Büchern sowie sehenswerten Metal-Filmen Lemmys „vier beste Journalistenbeleidigungen“ aufführt und Schäfers persönliche Genre-Top-50-Songs auflistet. Allerdings fantasiert er sich auch eine All-Time-Albumcharts-Top-50 zusammen, der eher sein persönlicher Geschmack denn reale Verkaufszahlen zugrunde liegen dürften. Ein echter Fauxpas ist der Einstieg in dieses Kapitel, denn die Aufzählung vermeintlich „schönste[r] T-Shirt-Sprüche“ enthält fast ausschließlich peinlichen EMP-„Fun-Shirt“-Kokolores. Die Bonusgründe sind tatsächlich eine schöne Ergänzung, die die Neuauflage deutlich aufwertet. In Grund Nr. 137 findet sich einer der Schäfer-Klassiker schlechthin, seine in Variationen immer mal wieder aufgegriffene Lieblings-AC/DC-Anekdote.

Nein, man muss sicherlich nicht bei allem der Meinung des Autors sein oder gar seinen mitunter befremdlichen Geschmack teilen, aber das Schöne an dieser ideal zum häppchenweisen Lesen geeigneten Schwarte ist die ansteckende Leidenschaft, die Schäfer für den Gegenstand seiner Betrachtungen verspürt. So halte ich es durchaus für möglich, dass, wer noch nicht tiefergehender mit der Materie vertraut ist, nach der Lektüre die Faszination für diese Art von Musik besser wird nachvollziehen können. Zudem tritt Schäfer den Beweis an, dass es allen Unkenrufen zum Trotz mehr als Musik ist und um mehr als um Musik geht. Dieses bunte, eher lose angeordnete Mosaik vermittelt bei aller lockeren Schreibe und Neigung zum Anekdotischen zudem Wissen zu einigen wichtigen Bands, betreibt Liebhaberei für Interpreten aus der zweiten Reihe, kommentiert Phänomene und Entwicklungen und ist immer dann am besten, wenn Schäfer seinen Humor unterbringen kann, wofür er sich den einen oder anderen „Grund“ dann auch explizit reserviert. Wünschenswert wäre jedoch gewesen, Schäfer hatte etwas weniger kritiklos das Wacken Open Air abgefeiert und stattdessen ein, zwei andere Festivals zum Schauplatz seiner Episoden gemacht.

Nicht so wirklich komme ich auf den Irrglauben klar, Bandnamen seien etwas Heiliges, die in Komposita nicht mit so etwas Profanem wie Bindestrichen belästigt werden dürfen. Will sagen: Hier ist von „Thin Lizzy-Alben“ die Rede, nicht von Thin-Lizzy-Alben. Damit ist Schäfer aber keineswegs allein auf weiter Flur, dieser Unfug zieht sich durch viele Publikationen. Durch mehrere Publikationen Schäfers zieht sich übrigens auch das eine oder andere Kapitel: Mindestens jenes zu den Hellacopters war mir bereits bekannt, und, hey, über Grund Nr. 119 bin ich doch kürzlich erst in „Hühnergötter“ gestolpert, oder? Apropos stolpern: „Trash“ (statt Thrash), „Minor Thread“ (statt Minor Threat), „Death-Metall” und „throungh“ sind ein paar etwas unglückliche Fehler, die dem Lektorat durchgerutscht sind.

Davon unberührt bleibt, wie gut es Schäfer gelingt, beinahe alles in einem erzählerischen Stil zu formulieren, der nicht mal halb so trocken wie vermutlich diese Kritik hier ausgefallen ist, sondern im Gegenteil mit lebendiger Sprache überzeugt – wären da nicht diese Was-zur-Hölle-Momente, wenn Schäfer wieder zum Fremdwörterlexikon greift und uns „zirzensisch“ (S. 70), „Intrikatheit“ (S. 77 – gibt es das Wort überhaupt?), „Gallimathias“ (S. 126 – der Matze hat’s doch so mit der Galle…), „indigniert“ (S. 148), „Obstinatheit“ (S. 201 – kennt der Duden nicht, scheint sich also um eine Frankschäferheit zu handeln) u. ä. mehr um die Ohren hat, um dann doch wieder mit seinem Wortschatz zu protzen wie ein Yngwie J. Malmsteen in Schlangenlederstiefeln mit seiner Saitenflitzerei – und so wenig songdienlich wie letztere meist ist, ist Schäfers Vokabular dem Lesegenuss zugutekommend. Wer sich davon nicht abschrecken lässt, generell mit Schäfers Stil und Herangehensweise etwas anfangen kann, eine Schwäche für diese Musik hat oder schlicht neugierig ist, dürfte mit dem Buch seine Freude haben und sicherlich die eine oder andere Stunde damit verbringen, diesen oder jenen während der Lektüre aufgeschnappten musikalischen Tipp zu evaluieren. Meine Kritikpunkte sind konstruktiv zu verstehen, denn unterm Strich komme ich Pi mal Daumen auf 111 Gründe, die für dieses Buch sprechen.

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