Endlich wieder Gaußfest! Das Open-Air-Festival des Wagenplatzes im Herzen Altonas mit anschließendem (traditionell ohne mich stattfindendem, weil sonntäglichem) Fußibuff hatte ich 2019 aus irgendwelchen Gründen verpasst, die vergangenen beiden Jahre war’s pandemiebedingt ausgefallen. Pünktlich zum 30-jährigen Bestehen des Platzes (Glückwunsch!) aber lud man wieder bei freiem Eintritt und Inflation, Krise und Krieg zum Trotz stabilen Preisen (Halber Liter kaltes Markenbier: ein schlapper Euro! Warme Mahlzeit: ein schlapper Euro!) zur rustikalen Punkparty. Freitag war ich erst noch mit DMF im Proberaum, wo’s bereits feuchtfröhlich zuging. Besuch war da, die Kannen kreisten. In kleiner Gruppe ging’s schließlich auf den Platz, wo mit LIQUOR SHOP ROCKERS und FRONTALANGRIFF leider gleich zwei Bands krankheitsbedingt hatten absagen müssen.

Die Berliner SPLITTIN‘ IMAGE hatten wir verpasst, über sie war nur Positives zu vernehmen. Das kolumbianische Frauentrio POLIKARPA Y SUS VICIOSAS hingegen fing gerade an und zockte begeisternden, mitreißenden Hardcore-Punk mit wechselndem Gesang in Landessprache, der zurecht schwer abgefeiert wurde. Besonders die Drummerin hatte ein sehr brutales Organ. Ich war von der Menschenmasse und den vielen bekannten Gesichtern erst einmal überfordert – zu lange war so etwas zuletzt her gewesen. Eigentlich hatte ich mir auch vorgenommen, nicht so doll zu machen, um am nächsten Tag fit und pünktlich zu erscheinen, aber das war natürlich wieder leichter gesagt als getan. Hier ‘nen Plausch, da ein Anstoßen, noch ‘n Bierchen, na klar…

Und dann folgte auf den famosen Gig der Kolumbianerinnen zu allem Überfluss das Hamburger Elektropunk-Duo KID KNORKE & BETTY BLUESCREEN, das überraschend eingesprungen war. Mit seinen Elektroklängen polarisierte es, brachte diejenigen, die ihm zusprachen, aber zum Tanzen und überzeugte nicht zuletzt mit seiner Show voller Laser und Blingbling bei mittlerweile nächtlichem Firmament. Mit meiner gewissen Schwäche für Synthiepop in Kombination mit meiner Partylaune und entsprechendem Pegel lief mir das gut rein, zumal offenbar tatsächlich viel kreative Arbeit und Liebe zum Detail dahintersteckt. Machte Laune und traf den Nerv vieler Besucherinnen und Besucher, die sich den Stock aus dem Arsch gezogen haben. Anschließend gelang mir glücklicherweise der Absprung nach Hause.

Mit nur leichtem Kater traf ich ohne meine Gruppe vom Vortag, dafür mit meiner Liebsten gegen 18:00 Uhr ein, labte mich am Kokosgemüsecurry und vernahm die irritierenden ersten Klänge des Darmstädter Folklore-Duos THE INVASION. Phoenix erinnerte mich mit seinem Auftreten an Dennis Rodman, seinen Bass spielte er wie ‘ne Gitarre und jaulte dazu in schrägen Tönen. Drummer Bubblegumtrash spielte den Beat dazu und verfiel hin und wieder in schön räudiges Geschrei. Die Performance hatte Freejazz-Charakter, manch bekannte Melodie von Paulchen Panther bis zum House of the Rising Sun wurde vergewaltigt. Immer mal wieder bahnte man sich durchs Publikum, mal einer auf dem anderen huckepack, meist jedoch Phoenix allein, der mit dem Hals seines Instruments die um die verzückt tanzenden Schmerzbefreiten herumstehenden und mal ungläubig, mal fassungslos dreinblickenden, oft aber auch debil grinsenden Schaulustigen umzumähen Gefahr lief. Am Schluss des auffallend langen Sets war reichlich Konfetti geworfen worden – und ich am meisten schockiert darüber, dass Phoenix tatsächlich zwischendurch seinen Bass immer mal wieder nachgestimmt hatte. THE INVASION seien nicht repräsentativ für unsere Musik, erklärte ein Stammgast seinem offenbar erstmals mitgekommenen, verdutzten Besuch. Das kann man so sehen.

Der Trend geht zum Duo, denn auch die französischen AL’HYENA LUNA waren nur zu zweit und damit bereits der dritte solche Act auf diesem Festival. Die Sängerin und Bassistin spielte ihr Instrument ebenfalls mehr wie eine Gitarre, dazu ein Drummer – das war’s. Der Sound: Angepisster D-Beat. Dem Bandcamp-Profil nach zu urteilen gab‘s zumindest mal einen Dritten im Bunde. Und tatsächlich fehlte mir hier ein bisschen was. Klang eben nach D-Beat mit französischen Texten, relativ unspektakulär, nichtsdestotrotz für ein Duo sehr respektabel heruntergeholzt. Sicherlich ist dieser Sound repräsentativer für unsere Musik, wenn man so will – den spektakuläreren Auftritt hatten aber THE INVASION hingelegt.

Letztlich ist das natürlich wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen, weshalb ich mir weitere solcher Gegenüberstellungen verkneife. MALAKOV aus Braunschweig und Gelsenkirchen machen mir dies leicht, da sie tatsächlich in fast schon übertriebener Quintettgröße auftraten. Auf die Ohren gab’s amtlichen deutschsprachigen Punkrock mit Tempo, Schmackes und schön kehligem Gesang. Besonders haftengeblieben ist bei mir ein Stück mit ausgedehnter ruhigerer Passage und wiederholter „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“-Aufforderung. Aus den zwei Gitarren könnten MALAKOV noch etwas mehr herausholen, würden sie seltener das Gleiche spielen, den Tagessieg verhindert das aber natürlich nicht. Der Platz war mittlerweile wieder rappelvoll und als Zugabe gab’s TOXOPLASMAs „Ordinäre Liebe“, mitgebrüllt aus vielen heiseren Kehlen. So die Digitalpunks scheinen die Herren nicht zu sein, im Netz ist kaum etwas über sie zu finden. Ich weiß auch nicht, ob’s irgendeinen Tonträger gibt. Deshalb hier einfach mal ein Video, das auf einem anderen Open Air mitgeschnitten wurde:

Mittlerweile hatte ich ganz gut einen im Tee, es dämmerte und die Vorfreude auf die als eigentlichen Tageshöhepunkt gehandelten AKRABUT aus Israel stieg. Durch seine Verbindung zu den CITY RATS pflegt der Gaußplatz schon seit etlichen Jahren eine Freundschaft zu israelischen Punks. Unter anderem aus CITY-RATS-Mitgliedern rekrutieren sich auch AKRABUT, die einen rohen HC-Punk-Stiefel mit hebräischen Texten spielen, auf ihren Platten aber besser klingen als an diesem Abend. Der Gitarrensound bestand quasi nur aus Crunch, die Drums waren sehr in den Vordergrund gemischt. So richtig abgeholt hat mich das nicht; mir war’s ‘ne Weile zu krachig, wenngleich der Drummer sehr tight durchholzte und sich der Sound nach hinten raus zu bessern schien. Die „Hiroshima Palastina“-EP macht mir dagegen richtig Spaß. Die Ansagen gab’s in englischer Sprache und bestätigten mich in meiner Ansicht, dass, wer sich im Israel-Palästina-Konflikt stramm auf eine Seite stellt, reichlich suspekt ist – gleich ob „Antideutscher“ oder Israel am liebsten als ersten aller Nationalstaaten abschaffen wollender Antisemit. Vielmehr gilt es, sich mit progressiven Kräften beider Seiten zu solidarisieren – und AKRABUT scheinen zu diesen zählen.

Dieser sehr musikfokussierte Bericht vermittelt möglicherweise einen falschen Eindruck: Beim Gaußfest geht’s nicht unbedingt hauptsächlich um die Live-Acts, im Prinzip hätte ich auch mit keiner einzigen Band etwas anfangen und trotzdem meinen Spaß haben können. Das Gaußfest ist in erster Linie eine riesige Party in meist entspannter Atmosphäre und vielen Gästen von außerhalb. Dieses Jahr gab’s so wenig Glasbruch, dass zahlreiche Mädels barfuß tanzen konnten. Ein Vertreter eines ebenfalls sein 30-jähriges Jubiläum feiernden Schweizer Platzes war vor Ort und unterhielt sich mit uns in seinem drolligen Akzent. Ein Feuerspucker sorgte zwischen den Gigs für spektakuläre Unterhaltung, indem er sich ständig fast die Fresse zu verbrennen schien, und Höppi führte sein herzallerliebstes Punkrock-Marionettenspiel auf. Im Nachhinein ist’s nur etwas schade, dass ich am Freitag so gar keinen Sinn für das opulente Büffet hatte, das in der Platzkneipe El Dorado aufgebaut worden war und mit zahlreichen Leckereien aufwartete, als befände man sich im Luxushotel… Vornehm und mit Punk-Soundtrack geht die Welt zugrunde! Auf die nächsten 30 Jahre Gaußplatz!