An diesem Samstag sollte ich mein letztes Konzertticket aus der pandemiebedingten Shutdown-Zeit einlösen. Dieses kleine Indoor-Festival hatte eigentlich schon 2020 stattfinden sollen, wurde dann erfolglos auf 2021 verschoben und – leck mich fett! – fand nun ganz wirklich und ohne jede Covid-19-Auflage statt. Auf meinem VVK-Ticket von damals standen mit TROOPERS statt OXO 86 und EMSCHERKURVE 77 statt THE OFFENDERS noch ganz andere Bands, und gerade jene beiden mal wieder live zu sehen, wäre schön gewesen. Andererseits hielt es manch Beobachter seit jeher für eher unwahrscheinlich, dass die TROOPERS sich tatsächlich würden aufraffen können, und insgeheim war’s mir ehrlich gesagt so’n bischn egal, denn Hauptgrund meines Erscheinens waren – ohne Flachs – NORMAHL. Die Schwaben waren eine der ersten Punkbands, die ich als Kiddie gehört hatte, nicht wenige Songs der bereits Ende der 1970er gegründeten Band sind mir in Fleisch und Blut übergegangen. Mir ist klar, dass die auch einigen Stuss rausgehauen haben, vom unsäglichen Funpunk-Album bis hin zu Schlagerpunk… Neben den alten HC-Punk-Krachern konnte ich aber durchaus auch etwas mit der rockigeren, ein breitergefächertes Publikum ansprechenden Ausrichtung von Platten wie „Blumen im Müll“ oder „Auszeit“ (mit Abstrichen) anfangen. Wer sonst hat jemals so geil Reinhard Meys „Diplomatenjagd“ gecovert?! Am geilsten aber sind die Alben mit Best-of-Charakter: der ‘85er-Totalabriss „Live in Switzerland“ (quasi das Beste der Frühphase), der anarchosozialistische Politpunk pur und live auf der „Lebendig II – Ernst ist das Leben…“, auf der man einen nach dem anderen raushaut und auch ohne Aggrogesang oder sonderliche musikalische Brutalität unheimlich viel Druck und Energie erzeugt, sowie die „Das ist Punk“ betitelte Zusammenstellung der Klassiker in Neuaufnahmen, wodurch das Songmaterial wie aus einem Guss und glücklicherweise kein Stück überproduziert klingt. Letztere zog ich mir vorm Konzert noch mal rein, wodurch meine Vorfreude stieg. (Noch ein Geheimtipp für Freunde von No-Budget-Filmen: der Spielfilm „Jong’r“ mit NORMAHL-Mitgliedern!) NORMAHL haben sich zwar beileibe auch in diesen Breitengraden nicht rar gemacht, aber irgendwie hatte es nie sollen sein. Entweder gab’s Terminüberschneidungen oder, so meine ich mich zu erinnern, hatte ich damals schlicht keine Kohle übrig, denn in den ganz kleinen Underground-Clubs, die ich irgendwann bevorzugt aufsuchte, spielten sie eher nicht. Bei den Alben ab den 2000ern bin ich dann doch musikalisch auch weitestgehend raus, weshalb mich die Tourneen dazu seinerzeit nicht so reizten. Es musste also erst der November 2022 kommen, damit ich diese Band erstmals livesehen würde.
Bereits um 18:00 Uhr sollte das Festival in der Altonaer Fabrik beginnen, einem der u.a. aufgrund seiner festen Verwurzelung im Stadtteil und seiner aus den architektonischen Besonderheiten resultierenden speziellen Atmosphäre sympathischeren Kommerzläden Hamburgs. Quasi auf dem Weg dorthin schlenderten meine Liebste und ich noch über den Weihnachtsmarkt in Altona und glühten mit Glühwein vor. Dieser zählt zwar nicht unbedingt zu meinen Lieblingsgetränken, aber nachdem 2020 öffentlicher Glühweingenuss fast schon etwas Subversives an sich hatte und 2021 jede Glühbude eingezäunt und nur nach Angabe der eigenen Personalien, Impfnachweis etc. zu betreten gestattet war, war es tatsächlich irgendwie anheimelnd und gemütlich, sich die Plörre wie unter präpandemischen Bedingungen hinter die Binde zu gießen. Man wird ja so demütig… nicht zuletzt allerdings angesichts der Preise für den Mampf, der da so angeboten wird. Eigentlich ja nett, vielleicht mal anderes Straßenessen als das ganze übrige Jahr zu bekommen, nur gibt’s da leider für unter 8,- EUR kaum noch etwas. Da kannste ja kaum noch gegenanverdienen… also doch wieder zur Dönerbude, Börek, 3 Euro, bitte, danke.
Der Einlass in die Fabrik verzögerte sich etwas, vor den Türen tummelten sich neben einigen bekannten Gesichtern auch etliche nie gesehene. Offenbar zog das Festival auch zahlreiche Gelegenheitskonzertgänger(innen) und Punks von außerhalb an. Einem schon vor Konzertbeginn rotzevollen Iroträger im „Unantastbar“-Shirt wurde der Einlass verwehrt, vermutlich weil er der Security zu breit war. Der Eckkiosk bot für die Zeit vor der ersten Band und zwischen den weiteren eine günstige Alternative zu den überhöhten Bierpreisen im Fabrikinneren, wo man für 0,4-L-Becher Carlsberg schlappe 4,70 EUR aufrief. Jesses… Dafür konnte man an der Garderobe seine Plünnen abgeben und sich die ganze Sause auch auf dem Geländer lehnend von der Empore aus betrachten, was mal was anderes, bei einem Opener wie HERZBLUT aber trotzdem kein reines Vergnügen ist. Die Berliner, von denen ich vorher noch nie etwas gehört hatte, spielen angepunkten Midtempo-Deutschrock, den sie vollmundig Punkrock nennen, doch dafür fehlen – u.a. – Rotz und Dreck. Fast jeder Song wurde mit einem unpassenden Moshpart angereichert, bei dem der Drummer auf sein Chinabecken eindrosch. Gegen Ende wurde bei „Du bist Bulle“ (oder so) mal bischn Gas gegeben, ansonsten war gefühlt jeder zweite Song gegen Nazis oder mit Pathos der eher unangenehmen Sorte versehen. Zur totalen Harmlosigkeit dieser Band passte die Konfettikanone, die gezündet wurde. HERZBLUT wirkten auf mich wie ein Retortenprodukt, aufgesetzt und unauthentisch. Nun wird es sich bestimmt dennoch um eine echte Band handeln, mir erscheint das aber alles zu kalkuliert und auf möglichst niemandem wehtuende Massentauglichkeit getrimmt.
Meine Laune stieg erst wieder bei den Berlinerischen Italienern THE OFFENDERS, die ich ebenfalls bisher jedes Mal verpasst hatte. Offenbar angefangen als Ska-Punk-Band, zockte man in der Fabrik in Quartettgröße englischsprachigen melodischen Streetpunk mit feinen Melodien und immer wieder einer Mandoline anstelle einer Leadgitarre, was der Musik einen unaufdringlichen Folkpunk-Touch verlieh. THE OFFENDERS coverten „I Fought The Law“ und ich war zufrieden. Sollte mich mal mit deren Œuvre in Ruhe auseinandersetzen.
Etwas überrascht war ich, dass sie noch vor den Lokalheroen EMILS aufgetreten waren, die nun ein gut eingestimmtes Publikum vorfanden. Die mittlerweile nicht mehr ganz taufrischen EMILS sind in Sachen deutschsprachigem Hardcore-Punk der End-‘80er-Schule nach wie vor un-fucking-schlagbar, wie sie heute erneut wie auf jedem ihrer Gigs, denen ich seit der Reunion beiwohnte, unter Beweis stellten. Die Band ist perfekt eingespielt, topfit, hungrig und mit spürbarem Bock bei der Sache, Shouter Ille ein Meister der Mimik und Gesten und Aktivposten, der hier trotz Absperrgitter vor der Bühne ständig den Kontakt zu den Fans suchte und zusammen mit den ersten Reihen sang. Wenn ich mich recht entsinne, sprang er auch übers Gitter und unternahm einen Ausflug ins Publikum. Ich liebe diese Band und grölte fast alles begeistert mit. Das Absperrgitter hatte den Vorteil, dass ich mich bequem anlehnen und der Band zuglotzen konnte, während sich hinter mir zunehmend ausgetobt wurde. Aufgrund einer immer noch nicht ganz auskurierten Handverletzung (auf die ich vielleicht doch mal jemanden vom Fach draufschauen lassen sollte…?) hielt ich mich diesbezüglich diesmal zurück, was angesichts von Knallern wie „Viel zu langsam“, „Wer frisst wen?“, „Wir müssen draußen bleiben“, „Kampfsignal“, „Kirche nein“, dem markerschütternden „Krieg und Frieden“ und wie sie alle heißen, nicht leichtfiel. Fest zum Set gehören auch das BUTTOCKS-Cover „Nein nein nein“ und mittlerweile offenbar auch das Medley aus SLIME-Klassikern, das endgültig alle zum Ausrasten brachte. Zwischendurch aber – hört, hört! – gab’s mit „Hopp, hopp“ (keine Ahnung, ob der wirklich so heißt) noch ‘ne brandneue Nummer, die genauso geil wie der Rest klang und Hoffnung auf neues Studiomaterial dieser so bescheidenen Band macht, die nie einen Merchstand aufbaut und kein einziges T-Shirt im Angebot hat, von anderem Klimbim ganz zu schweigen. Den Gitarristen sprach ich darauf nach dem Gig an, denn gerade die „Wer frisst wen?“ und „Es geht uns gut“-Covermotive schreien eigentlich danach, auf T-Shirts gedruckt zu werden, aber den EMILS scheint tatsächlich jeglicher kommerzielle Antrieb zu fehlen. Statt Faulheit vermutlich eine heutzutage selten gewordene Form punkiger Integrität – Chapeau!
Mittlerweile war ich längst dazu übergegangen, meinen Fuffi hauptsächlich am Carlsberg-Stand zu versaufen, war gut angetrunken und euphorisiert – was sich mit dem NORMAHL-Gig potenzierte. Ich hatte so sehr gehofft, dass sich die Band in guter Form präsentieren würde, offenbar völlig unbegründet: Ohne jede Preziose betrat Lars im RAMONES-Shirt die Bühne, an der Klampfe Mick Scheuerle, der seit Anfang der 1990er dabei ist. War das am Viersaiter echt Fast-Urmitglied Manny Rutzen? Sah bischn jung dafür aus…? Hinter der Schießbude jedenfalls der erst 2019 hinzugestoßene Scobo. Es ging unmittelbar mit einem meiner Lieblingssongs, dem dystopischen „Am Tage X“, los, gefolgt von „Komm, erzähl mir über Punk“ und „Weiße Mäuse“. Zwischendurch wunderte sich Lars augenzwinkernd darüber, in Hamburg backstage ausgerechnet Bremer Bier gereicht zu bekommen, woraufhin jemand auf die Bühne lief und ihm offenbar ein süddeutsches Helles überreichte. Ich war sofort wieder im Skandier- und Mitsingmodus und fand mich kurze Zeit später dann doch mitten im Tanzmob vor der Bühne wieder. „Keine Überdosis Deutschland“ erklang, während ich an meiner Bierüberdosis arbeitete. „Es ist an der Zeit“ von Hannes Wader wurde gecovert, ich konnte etwas durchatmen. „Schlägerpolizist“, „Aufrecht“, „Deutsche Waffen“, „Trümmertango“ und „Geh wie ein Tiger“ – wat war das geil, ich war wieder 17. Den „Biervampir“ musste man über sich ergehen lassen, auch wegen seines seltsam gedrosselt wirkenden Tempos eher ein Fremdkörper im hitgespickten Set. Dann schon lieber „Wein, Weiber und Gesang“, „Fahneneid“ und natürlich „Fraggles“, gerne auch die („Sag doch bitte, bitte, bitte, bitte…“) „Drecksau“. DAILY TERROR zollte man mit einem gelungenen „Kleine Biere“-Cover auf sehr sympathische Weise Tribut. Meine Biere waren eher so mittel, in labbrigen Einwegpappbechern umso schneller leer, wenn sie im Pogomob zerquetscht wurden, nicht minder schnell leer, wenn ich sie mir wegen der großen Öffnung und eben jener Quetschgefahr umso rascher hinter die Schrankwand nagelte. Wie immer bedankten sich NORMAHL überaus freundlich mit „Danke“ („…für euer gutes Geld für dieses Scheißkonzert“) beim Publikum. Ob’s dann noch ‘ne Zugabe gab oder das schon das Ende eines etwaigen Zugabenblocks war, weiß ich nun nicht mehr. Was ich weiß: Das war ein arschgeiler Gig, den ich in dieser Qualität nicht erwartet hatte, der fast durchgängig Riesenspaß gemacht hat und dank dem ich nun endlich, während vermutlich fast alle anderen denken: „Wat willer, ‘n NORMAHL-Gig halt, spielen doch ständig irgendwo immer die gleichen ollen Kamellen“, einen fetten Haken auch an diese Band meiner Jugend machen kann.
Der Rest des Festivals war nun eigentlich vollkommen wumpe – wenngleich ich wusste, dass die Kirsche auf der Sahnehaube folgen sollte: Jede Menge Bernauer Bierchansons vom neuen Headliner OXO 86, der so leichtes Spiel wie selten gehabt haben dürfte, traf er doch auf eine fertig betrunkene und feierwütige Meute, die er nur noch mitzunehmen brauchten. Sänger, Rampensau und Entertainer Willi stieg sofort aufs Absperrgitter und hängte sich ins Publikum, um seiner heiseren Ostberliner Schnauze Unterstützung angedeihen zu lassen und sämtliche Grenzen zum Pöbel einzureißen. Oi!-, Street- und Ska-Punk, Punk-, Skinhead- und partykompatibel, mal mit, mal ohne Trompete, aber immer mit jeder Menge Spaß inne Backen, Selbstironie und Witz in den proletarischen Texten. Ich zollte meiner mittlerweile ausgeprägten Breitseite Tribut und begab mich nach kurzer Zeit des Herumgeschubstwerdens an den Rand des Geschehens, schüttete rein, was noch ging, haute die letzten Penunsen auf den Kopp und erfreute mich sowohl an der Band als auch an daran, wie sich andere an ihr in einer angenehm vollen, aber nicht überfüllten Fabrik erfreuten. Zwischendrin unternahm Willi Crowdsurfing auf einem echten Surfbrett, an mehr kann ich mich dann aber auch echt nicht mehr erinnern – außer dass OXO 86 sich den Headliner-Status für solche und andere Veranstaltungen in all den Jahren redlich erkämpft und verdient haben. Teile meiner Fotos illustrieren sehr gut meinen Zustand und meine Sicht zum Zeitpunkt ihres Entstehens.
Pleite, völlig durch, aber glücklich trat ich den Rückweg von diesem – vom Opener abgesehen – hochkarätigen „Deutsch- meets Streetpunk“-Festival an, das mir u.a. einmal mehr vor Augen führte, wie recht …BUT ALIVE seinerzeit hatten: Irgendwas bleibt immer 17…
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