Wenn man ein Germanistik-Studium begonnen hat und zunächst einmal mit Martin Opitz konfrontiert wird, können einem durchaus Zweifel kommen. Eine regelrechte Wohltat ist es hingegen, wenn man sich im Anschluss dem „Sandmann“ widmen darf, jener schauerromantischen Kurzgeschichte aus dem 1816 veröffentlichten Zyklus „Nachtstücke“ des deutschen Schriftstellers E.T.A. Hoffmann, handelt es sich doch um eine einigen altertümlichen Begriffen zum Trotz problemlos lesbare Mischung aus Horror, Science-Fiction und Psycho-Thriller, gepaart mit einer gehörigen Portion Wahnsinn und etwas schwarzem Humor.

Zu Kindheitszeiten wurde Nathanael traumatisiert, als er heimlich seinen Vater dabei beobachtete, wie dieser mit dem Advokaten Coppelius alchemistische Experimente durchführte. Dabei wurde Nathanael entdeckt und von Coppelius misshandelt. Bei einem weiteren Experiment starb Nathanaels Vater gar durch eine Explosion. Seither bringt er Coppelius mit dem Sandmann aus dem Märchen in Verbindung, das ihm zum Einschlafen vorgelesen wurde. Als Erwachsener Mann ist er mit der mit beiden Beinen fest im Leben stehenden Clara verlobt. Als er auf den Wetterglashändler Coppola trifft, gerät Nathanaels Welt jedoch erneut ins Wanken: Er glaubt, in ihm Coppelius wiederzuerkennen und verrennt sich in diese fixe Idee, das alte Trauma bricht wieder auf. Von Clara entfremdet er sich und verliebt sich stattdessen in Olimpia, die Tochter seines Professors Spalanzani – die sich als lebloser Roboter entpuppt. Nach einem stationären Aufenthalt in der Irrenanstalt wird Nathanael als geheilt entlassen, doch ein Wiedersehen mit Coppola nimmt kein gutes Ende.

„Der Sandmann“ verbindet den Horror eines Kindheitstraumas und den daraus resultierenden Wahnsinn mit früher Science-Fiction um einen Androiden, der zur Reflektionsfläche des beziehungsunfähigen, narzisstischen Nathanaels wird. Olimpia widerspricht Nathanael nie, scheint ihn in seinen Ansichten eher zu bestärken – was er nie bemerkt. Mit seinen Schauerelementen, starken Gefühlswallungen und unbewussten Ängsten ist er ein typisches Kind der Epoche der Romantik, wiederkehrende Motive sind die Augen als Wahrnehmungsorgan und metaphorischer Spiegel der Seele, Feuer, Teufel und Schwärze als Höllensymbolik, diabolisches Lachen, Lärm, die puppenähnliche Dissoziation menschlicher Körper und schließlich der Tod. In den Personen Coppelius und Coppola, die für Nathanaels eins sind, findet die Traumatisierung Nathanaels Ausdruck, die immer wieder hochkommt, die er emotional ein ums andere Mal durchlebt.

In seinem Aufbau nimmt „Der Sandmann“ eine Ausnahmestellung ein und wurde damit zu einem beliebten Studienobjekt für Germanistiklehrende und die Literaturforschung: Die Erzählung beginnt mit drei aufeinanderfolgenden Briefen: Nathanael wendet sich an seinen Jugendfreund Lothar, sendet den Brief jedoch irrtümlich an Clara, seine Verlobte und Schwester Lothars, die ihm schriftlich antwortet. Der dritte Brief ist ein weiterer Nathanaels an Lothar. Erst dann meldet sich der Erzähler zu Wort, der Nathanael als einen alten Freund bezeichnet und sich als ein Autor zu erkennen gibt, der den Leser direkt anspricht. Bei ihm handelt es sich um einen hetero- und extradiegetischen Erzähler mit Nullfokalisierung, also jemanden, der selbst eigentlich nicht Teil der Handlung ist und alles über Nathanael zu wissen scheint. Dennoch nimmt er zwischenzeitlich eine interne Fokalisierung an, wenn er in bestimmten Momenten lediglich über Nathanaels subjektive Sichtweise verfügt, wird also vom allwissenden Erzähler zu einem, der nur über den Wissensstand (einer) der Figuren verfügt. Dabei könnte es sich um einen Kniff Hoffmanns gehandelt haben, um auf die Parallelen zwischen dem Erzähler und Nathanael hinzuweisen: Beide sind Dichter, Nathanael jedoch ein erfolgloser. In beiden glüht eine „innere Glut“, beide projizieren Bilder aus ihrem Inneren nach außen, und romantischen Dichtern sagt man ohnehin nach, an der Grenze zum Wahnsinn zu leben. Doch der Erzähler gießt seinen Wahnsinn als Autor in Form, ist Herr seines Stoffs und kann ihn dadurch verarbeiten – was der Geisteskranke nicht kann. Insofern handelt es sich bei Nathanael evtl. um ein Alter Ego des Erzählers, einen Teil seiner selbst, den er mit dem Tod Nathanaels sterben lassen möchte. Zweifelsohne jedenfalls ist Nathanael jemand, mit dem sich der Erzähler stark identifiziert, was auch sein kaum vorhandenes Interesse an den geistig gesunden Figuren seiner Erzählung verdeutlicht.

Meine Ausgabe aus der Universal-Bibliothek des Reclam-Verlags bildet die Geschichte auf 47 Seiten ab; es folgt ein fünfseitiger Teil mit Anmerkungen, der vor allem heutzutage nicht mehr gebräuchliche Begriffe erläutert. Sechsseitige Literaturhinweise bieten einen Überblick über Ausgaben, Quellen sowie begleitende und vertiefende Literatur. Ein ausführliches siebzehnseitiges Nachwort ordnet Hoffmanns Erzählung ein und liefert erste Interpretationsansätze. Für schlanke 2,- EUR kommt man bereits in den Genuss – und für diesen muss man nun wirklich kein Germanistik-Student, nicht einmal sonderlich interessiert an tiefergehender Auseinandersetzung mit Literatur sein, sondern einfach nur Lust auf eine gelungene, klassische und einflussreiche Schauermär haben.