Die deutsche Ostseeinsel Hiddensee war für mich schon lange ein kleiner Sehnsuchtsort. Da traf es sich gut, im Fundus meiner Großmutter auf dieses Buch zu stoßen, das ich auf meiner im Frühjahr endlich angetretenen Reise in den Hiddenseer Kurzurlaub zu lesen begann und gemütlich in der Pensionskoje liegend beendete – schräg gegenüber übrigens ein Buchhandel, der historische Hiddensee-Bücher führt und unter anderem eben dieses im Schaufenster ausliegen hatte.
Konkret geht es um dieses rund 220-seitige, mittelgroße gebundene Buch mit Schutzumschlag, das im Jahre 1983, noch zu DDR-Zeiten also, im Rostocker Verlag Hinstorff veröffentlicht wurde. Herbert Ewe schreibt einführend über Hiddensee in der Lyrik und bildenden Kunst, über Berühmtheiten, die dort verweilten, und reißt die frühe Geschichte und Geologie des Eilands inklusive Erosion und Sedimentation ab. Denn: „Hiddensee bietet ein besonders anschauliches Bild der Wirkungen des Meeres, so elementar und einfach, so vollständig übersehbar in Ursache und Wirkung und allen Einzelheiten wie an wenigen Stellen der Erde.“ – So laut Ewe der Geologe Otto Jaekel einst über Hiddensee.
Mangelnder Küstenschutz und diverse Naturkatastrophen haben der Insel zugesetzt, die dadurch zwischenzeitlich – im 19. Jahrhundert – gar in zwei Teile zerriss. In diesem Kontext übt Ewe viel Kritik an preußischer Bürokratie. Als man endlich den Sinn des Küstenschutzes erkannte und ihn praktizierte, kam es dennoch zu Sturmfluten und ähnlichen Naturgewalten, von Ewe belegt anhand zahlreicher Originalzitate. Seine Katastrophenberichterstattung reicht bis ins 20. Jahrhundert hinein und endet versöhnlich mit aktuellen, verbesserten Küstenschutzmaßnahmen.
Es folgt ein Kapitel über die Naturschutzgebiete der Insel und die massive Aufforstung ab dem 19. Jahrhundert, Fauna und Flora werden detailliert beschrieben. Der starke Sympathien für Umwelt- und Naturschutz hegende Autor erlaubt sich einen Abstecher in die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Geschichte des Umweltschutzes. In diesem Zusammenhang kommt erstmals auch die DDR zur Sprache: „Bestrebungen um eine saubere Umwelt, wie wir sie uns auch auf Hiddensee wünschen, wurden und werden durch das 1970 von der Volkskammer der DDR verabschiedete Landeskulturgesetz wesentlich gefördert.“
Weitere Themengebiete sind Archäologie, Frühgeschichtliches, Wikinger und Dänen auf Hiddensee, frühe christliche Bauten wie Klöster und Kirchen, Tonabbau zwecks Keramikproduktion in Stralsund, Käufe und Verkäufe der ganzen Insel durch „hohe Herren“, endlich das Ende der Junkerzeit, Schulbauten, Leuchttürme etc. und schließlich die damals jüngsten Entwicklungen: LPG-Gründung und laut Autor massiver Aufbau und Fortschritt durch den Sozialismus. Bis hierhin war das Buch frei von jeglicher DDR-Propaganda. Und auch trotz Sozialismus-Loblied: Wer glaubt, es handle sich um ein auf sozialistisch-industrielle Verwertungslogik hin ausgerichtetes Buch, irrt, denn weiter davon entfernt könnte es kaum sein. Auf den nächsten Seiten widmet Ewe sich der Fährinsel und der Fährmannstätigkeit ebenso wie den Dörfern im Süden der Insel und beschreibt in diesem Zusammenhang noch einmal, was genau Leibeigenschaft in der Vergangenheit für die Menschen bedeutete. Dies führt ihn zur lange von Ausbeutung der Fischer bestimmten Fischereigeschichte Hiddensees, die er dem Genossenschaftsmodell der DDR gegenüberstellt.
Mit dem Schriftsteller Gerhart Hauptmann widmet Ewe sich dem wohl prominentesten (Sommer-)Bewohner der Insel, der hier auch begraben liegt und dessen Haus zu einem Museum umgestaltet wurde. Weitere von Ewe aufgeführte Einrichtungen sind die Biologische Station der Universität Greifswald, die Vogelwarte etc. Erst nun, fast schon gegen Ende, geht Ewe auf den Tourismus ein. Zu DDR-Zeiten brachte der FDGB alle auf die Insel, Häuser und Siedlungen für VEBs wurden gebaut. Ewe ergänzt seine Ausführungen um einen kurzen historischen Abriss inklusive durchklingender Pro-FKK-Haltung und schließt mit den Worten Hauptmanns.
Das Buch enthält mehrere umfangreiche Schwarzweiß-Bildstrecken auf Glanzpapier, erinnert mit seinem Duktus alter Schule an ältere Fernsehdokus und vermutlich auch ältere Sachbücher, liest sich damit sympathisch-anheimelnd, betont durchs Heranziehen zahlreicher historischer Quellen aber auch seine Sachlichkeit und seinen Informationsgehalt.
Ein schönes Buch über ein schönes Fleckchen Erde.
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