Günnis Reviews

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Horrorschocker Grusel Gigant #1

Ha, mein zweiter Weissblech-Comic! Nach „Derber Trash #1“ natürlich wieder ein Sammelband, diesmal aus der Horrorcomicsparte.  Dieser erschien im Jahre 2016 und vereint auf 148 vollfarbigen Seiten im Softcover und Heftchenformat die Inhalte der ersten fünf „Horror Schocker“-Ausgaben mit Ausnahme der Geschichte „Heimfahrt“ aus der Nummer 4. Hierfür werden nicht näher benannte rechtliche Gründe angegeben. Das ist alles sehr farbenfroh; die jeweilige Panelstruktur wurde individuell den Erzählungen angepasst, hier wirkt nichts in Form gezwängt. Für diesen Band wurden das Lettering überarbeitet und Rechtschreibfehler korrigiert – das ist sehr löblich. Wie im großen Vorbild, den in den 1950ern im US-amerikanischen EC-Verlag erschienenen Horrorcomics, gibt es einen Meta-Erzähler, der in die Geschichten einführt und sie zuweilen kommentiert: den Styx-Fährmann Charon.

Los geht’s mit „Unten am Sumpf“, einer schwer an die alten EC-Sumpfgeschichten erinnernden Geschichte über einen Mörder, der Opfer seiner eigenen Tötungsmethoden wird. Was im darauffolgenden „Winter 1389“ als typische mittelalterliche Anti-
Hexenjäger-Story beginnt, gibt mit einer am Schluss gezogenen kruden Parallele den Christen die Schuld am Ausbruch der Pest – als habe es sich um eine Rache der Hexen an ihnen gehandelt. Da bekanntlich nicht nur Christen unter der Seuche zu leiden hatten, scheint mir dies nicht ganz zu Ende gedacht. Bei „Martin der Entdecker“ handelt es sich um eine Geschichte über Massen- und individuellen Abenteuertourismus, zivilisationskritisch und mit herrlich bösem Ende – hier kriegen alle ihr Fett weg.

„Insektentod“ handelt von einem brutalen Gangsterboss, der von Wespen totgestochen wird, nachdem er eines seines Opfer mittels insektenspray umbrachte, gefolgt von Niniwes Fluch, einer längeren, abenteuerlichen Mär über eine antike Totengöttin mit lebenden Leichen, Skeletten – und einem offenen Ende in der Gegenwart. In ihrem Anschluss findet sich mit „Im Tal des Drachen“ eine etwas unspektakuläre Ritter- und Drachen-Story.

Dafür geht’s mit „Der Bote“, die vom Kampf Mensch gegen Ameise – erzählt aus Sicht einer Ameise! – handelt, umso origineller weiter. „Maria!“ entpuppt sich als cooler Rape’n’Revenge-Fetzer mit einer Werwölfin und „Der Schlächter von Oakwood Manor“ als schwarzhumorige Kurzgeschichte um einen Geisterjäger. „Der Bestatter“ zeigt, wie ein ebensolcher zu einem seltsamen Assistenten gelangt.

„El Dorado“ präsentiert Konquistadoren auf ihrer fatalen Suche nach diesem mythischen Ort, hier siegt – wie so oft in diesen Comics – eine höhere Gerechtigkeit. Wiederum nicht der Fall ist dies in „Gute Nacht Geschichte“, einer Geschmacklosigkeit über Alpträume und Kopfschmerzen als Symptome eines Gehirntumors. Im Anschluss erhält Charon eine kurze Origin-Story.

Das letzte Heft des Sammelbands eröffnet mit „Tauwetter“, einem lakonischen Schocker über ein Mordkomplott in einem vereisten Bergsee. „Flurbereinigung“ thematisiert ein Hünengrab, einen ignoranten Bauern und einen vermeintlichen Fluch, der diesen das Leben kostet. In „Der Kuss der Seejungfrau“ begibt sich ein schiffbrüchiger Abenteurer auf die Suche nach einer ebensolchen und in die „Die Wüste lebt!“ fahndet eine Expedition nach einer neuen Spezies, auf die sie auch trifft, aber niemandem mehr über sie berichten kann…

Als Bonusmaterial erhält man drei Seiten Historie über die Heftreihe und einige Hintergrundinformationen sowie „Der Sturm“, eine Geschichte über den Kapitän eines Sklavenschiffs, der sein Ziel knapp verfehlt.

Die mal noch etwas unbehauenen, mal aber auch sehr filigranen und zum Teil hübsch-morbiden Zeichnungen verschiedener Künstler wissen zu gefallen, die mal sarkastische, mal düster-gruselige, mal moritatische oder makabre Erzählweise überzeugt größtenteils und die überwiegend wirklich guten Texte stechen hervor. Liebloser Schund geht definitiv anders und mit dem hommagenartig an EC angelehnten Konzept rennt man bei mir offene Türen ein – wenngleich sich der spezielle Geist der 1950er-Jahre-Originale natürlich nicht ohne Weiteres kopieren und/oder auf die Neuzeit übertragen lässt. In all den Jahren ist es auch nicht leichter geworden, auf diesem Gebiet originell zu sein, und so fallen diese Geschichten und Geschichtchen denn auch etwas weniger erinnerungswürdig als die Klassiker aus. Unterhaltsam und kurzweilig ist die Lektüre aber allemal!

Der beste Horror aller Zeiten

Von 1972 bis 1984 – also mit mehreren Dekaden Verspätung – erschienen die kultigen, dieses Genre begründenden E.C.-Horrorgeschichten in Heftform auch beim deutschen Ableger, dem Williams-Verlag. Dieser veröffentlichte bereits im Jahre 1973 ferner einen groß- bzw. überformatigen, 128-seitigen Sonderband mit dem Titel „Der beste Horror aller Zeiten“. Ein Teil der enthaltenen Geschichten ist noch schwarzweiß gedruckt.

Das Vorwort liefert dem interessierten Publikum einen historischen Abriss, die erste Geschichte „Auge um Auge“ ist dann in einer Postapokalypse auf der von Monstern beherrschten Erde angesiedelt – in der für die Monster die letzten Menschen die eigentlichen Monster sind. Da kaum mit Sprechblasen gearbeitet wird, handelt es sich mehr um eine betextete Bildergeschichte. Von nun an wird jeweils das Cover des Originalhefts abgebildet, das mit Angabe des Erstveröffentlichungsdatums sowie einer kurzen Einführung zum Zeichner und dessen Stil einhergeht. „Wüstentod“ um einen entflohenen Schwerverbrecher, der es mit einem hungrigen Geier in der Wüste zu tun bekommt, ist mir als „Der Aasgeier“ aus der „Geschichten aus der Gruft“-Fernsehserie bekannt. Mit „Verlies des Terrors“ folgt eine makabre Story über Lebensmittelrationierung im Krieg, die immer wieder vom Crypt Keeper kommentiert wird, aus dem man im Deutschen den „Fleischwolf“ machte. Auf ein ganzseitiges Künstlerporträt Jack Davis‘ folgt die bitterböse Romanze „Im Morgengrauen“ und mit „Schöner Traum“ eine nicht minder böse, in China spielende Geschichte über einen opiumsüchtigen Familienvater, der vom Tod Angehöriger träumt, welcher dann eintritt.

Weiter geht’s mit der modernen Vampirgeschichte „Mitternachts-Genuss“ und der deftigen Story „Treibsandtriebe“ über einen zurückgebliebenen Serienmörder, die gar zu Bodyhorror mutiert. „Ein Weltraumleben“ hingegen entpuppt sich als abgefahrene Garten-Eden-Variation im Science-Fiction-Gewand. Das nächste Künstlerporträt ist Al Williamson gewidmet; und die darauffolgende Geschichte „Treibjagd“ um eine Frau, die scheinbar mehrfach nacheinander auf grausamste Weise ermordet wird, spielt gekonnt mit dem Surrealismus. Auch Johnny Craig erhält ein Künstlerporträt, bevor „Im Sumpf“ von einem kannibalischen Einsiedler handelt, der sich zwischen Sumpf und Treibsand eine Hütte gebaut hat – erzählt von seiner Hütte! Einer der Höhepunkte ist zweifelsohne „Herrenrasse“, eine hervorragend gemachte Geschichte um einen KZ-Überlebenden, die zehn Jahre nach dessen Befreiung in den USA spielt, wo er einem ehemaligen KZ-Kommandanten begegnet – mit überraschender Wendung.

Melodramatisch wird’s in „Knopfaugen blicken dich an“, einer Weihnachtsgeschichte um einen blinden Jungen mit ebenso genialem wie krudem Ausgang. Graham Ingels wird porträtiert und die „Friedhofsnacht“, eine bizarre Story über den Leiter einer Irrenanstalt, dem die Bewohner ans Leder wollen, bekommt eigenartigerweise Titelblatt und Einführung erst hintenangestellt. Die Geschichte arbeitet mit schönen Point-of-View-Perspektivzeichnungen und einer interessanten Lebendig-begraben-Variation. „Gerettet“ ist eine Kreuzung aus Science-Fiction und Vampirhorror, und die letzte Geschichte greift bereits der nach der US-Zensur der E.C.-Comics etablierten Satirezeitschrift „Mad“ vorweg: Herrlich selbstironisch erklimmt man die Meta-Ebene und lässt Jack Kamens von seiner Arbeit für E.C. berichten.

Die orthographischen und grammatikalischen Fehler dieser deutschen Sonderausgabe (Beispiele: „Vampiere“, „viel“ statt „fiel“, „Sagen-Sagengestalten“, „hount“ statt „haunt“) lassen die Geschichten schundiger erscheinen als sie sind. Was sich da in flexibler, aber meist aufgeräumter, klarer Panelstruktur abspielt, ist nichts Geringeres als höchst verdienstvolle Comicgeschichte, deren pop- und subkultureller Einfluss gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann – und die mit ihrem Stil, ihrer Erzählweise und ihrer moritatischen, häufig schwarzhumorigen Moral auch aus heutiger Perspektive noch immer sehr unterhaltsam ist. Ob dieser Sonderband tatsächlich die besten E.C.-Horrorgeschichten enthält, sei aber einmal dahingestellt.

Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – „Staatsbürgerliche Pflichten grob verletzt“. Der Rauswurf des Liedermachers Wolf Biermann 1976 aus der DDR

„Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, kurz: BStU, von 2011 bis zum Schluss in Person: Roland Jahn, hat zahlreiche Publikationen zum Thema Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR herausgegeben – einige entgeltlich, andere gratis. Zu den Gratispublikationen, derer ich bereits zwei durchgesehen (und hier besprochen) habe, zählt auch dieser rund 110-seitige, großformatige Softcover-Band aus dem Jahre 2016, in dem wie gewohnt Originalauszüge aus MfS-Akten auf Hochglanzpapier nachgedruckt sind.

Wie der RAF-Band ist auch diese Sammlung in fünf chronologisch aufeinander aufbauende Kapitel („Der Plan entsteht“, „Kein Interesse am Protest gegen Franco“, „Die ,Zange der Konterrevolution‘“, „Das Konzert“ und „Der Protest“) unterteilt, denen jeweils eine Seite mit Hintergrundinformationen vorangestellt ist. Den Band eröffnen jedoch zwei allgemeinere Vorworte, eines davon von Biermann persönlich. In diesem unterstellt er dem MfS einen Mordversuch (der sich so in den Akten nicht wiederfindet). Doch auch unabhängig davon ist es natürlich ein ungeheuerlicher Vorgang, dass ein eigentlich sozialistischer Liedermacher aus einem sozialistischen Staat ausgebürgert wird, weil er zu unbequem ist. Entsprechend aufschlussreich und interessant bis spannend liest sich diese Aktensammlung (sofern man die Ambition aufbringt, in solchen bürokratischen Originalquellen zu stöbern), die aber auch Eintrittskarten, Ausweiskopien und transkribierte Interviews enthält.

So wird deutlich, dass das Kulturministerium eher auf Biermanns Seite war, aber das MfS dazwischengrätschte (S. 36). Honecker und Hager waren in diese Vorgänge auch involviert. Ab 1976 genoss Biermann den Schutz der Kirche, die ja für so viele Oppositionelle in der DDR eine große Rolle spielte. In einem Interview mit dem NDR zeigt sich Biermanns Unerfahrenheit im Umgang im Medien, im Prinzip aber auch das Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Kulturen. Biermann war damals noch ein DDR-sozialisierter bekennender Kommunist. Zudem geht aus dem Gespräch hervor, dass er damals noch an einem konstruktiven Mitwirken am Aufbau des Sozialismus interessiert war. Es ist fatal, dass das MfS dies nicht erkannte und ihm stattdessen derart reaktionär zusetzte. Ungeachtet dessen äußerte er sich fortwährend gegen Republikflucht und übte kritische Solidarität mit der DDR ggü. dem Westen.

Die ganze Verkommenheit der CDU und CSU zeigt folgende, auch hier festgehaltene Posse: Nach Biermanns Ausbürgerung am 16. November 1976 beschloss die ARD, sein wenige zuvor in Köln gegebenes Konzert auszustrahlen. Die Ausstrahlung musste auf Initiative dieser Parteien hin jedoch im Nachtprogramm versteckt werden und war im bayrischen Sendegebiet gar nicht zu empfangen. Da spielt der Club Deutscher Unternehmer also lieber dem MfS und der DDR-Führung in die Hände, statt einen kapitalismuskritischen Liedermacher in einer Form stattfinden zu lassen, dass Millionen DDR-Bürgerinnen und -Bürger (die ARD empfingen) daran nicht erst zu nachtschlafender Zeit hätten partizipieren können.

Leider ist Biermann später selbst ein CDU-unterstützender Popanz geworden. Hatten Stasi & Co. also doch Recht? Sicher nicht. Um es noch einmal klar zu sagen: Eine solche Ausbürgerung ist ungeheuerlich und nicht zu rechtfertigen, lässt diejenigen, die sie beschließen, zudem höchstgradig unsouverän wirken. Dass Biermann später zum strammen Reaktionär devolutionierte, ist aber der größte Gefallen, den er seinen einstigen Peinigern tun konnte. Vielleicht ist es also schlicht die politische Naivität, die sich durch Biermanns Vita zieht. Sowohl bei dieser Reflektion als auch beim groben Nachvollziehen der skandalösen Ereignisse des Jahres 1976 – inklusive der anschließenden Dynamiken in der DDR, der zahlreichen Solidaritätsbekundungen anderer Künstlerinnen und Künstler sowie der Rechtfertigungsversuche der Obrigkeit – half mir dieser Band (wenngleich Biermanns späterer Werdegang in anderen Quellen nachgelesen werden muss).

Im Anhang finden sich das obligatorische Abkürzungsverzeichnis und die BStU-Kontaktdaten.

Marc-Uwe Kling – Die Känguru-Apokryphen [Hörbuch]

Klings „Känguru-Chroniken“ sowie die beiden Fortsetzungen, „Das Känguru-Manifest“ und „Die Känguru-Offenbarung“ (aus den Jahren 2009 bis 2014) um das Leben eines nicht unsympathischen, aber eher zurückhaltenden und introvertierten Kleinkünstlers mit einem plötzlich auftauchenden kommunistischen und sich überraschend menschlich verhaltenden, nun ja, Känguru eben, sind Bestseller. Die sich jeweils aus etlichen kurzen, pointierten Episoden zusammensetzenden Bände gab ich mir in Hörbuch-Form, live aufgenommen während Lesungen Klings, der sein literarisches Kleinkünstler-Alter-Ego sowie das Känguru (mit leicht verstellter Stimme) selbst liest. Die authentischen Publikumsreaktionen unterstützten den lebendigen Eindruck. Am besten gefielen mir jene, insbesondere frühen Episoden, in denen das Känguru, wenngleich mit sämtlichen menschlichen Schwächen ausgestattet, äußerst treffende Gesellschaftsanalysen in kabarettistisch-humoriger Form vornimmt und es den Anschein hat, als sage und tue es all das, was Kling vielleicht denkt und selbst gern täte, sich aber nicht traut – bzw. schlicht lieber einer klar als solche erkennbaren Kunstfigur in den Mund legt. Spätere Episoden, in denen das Känguru immer mehr Hintergrundgeschichte bekam, sind i.d.R. zwar noch immer gehobener Humor, wurden mir aber etwas zu abstrakt und verrückt.

Mit ein paar wenigen Jährchen Abstand gönnte ich mir dann auch dieses Bonus-Material, das 2018 veröffentlicht wurde. Ich legte mir wieder das Hörbuch auf und lauschte rund 50 Episoden lang dem Alltag der beiden. Auch hier gilt: Je bissiger politischer oder je mehr den stinknormalen Alltag aufs Korn nehmend, desto besser. Die Klassiker finden sich in den anderen Bänden, aber verkehrt ist auch das hier nicht – insbesondere mit ein wenig Abstand macht es Laune, die „beiden“ wieder zu hören. Besonders hervor stechen hier die Kabbeleien und kleinen Duelle, die sie sich liefern, mitunter herrlich ins Absurde übersteigert. Nicht jeder Schuss ist ein Treffer und die frühen Bände sind definitiv zwingender, aber Zeitverschwendung sieht anders aus.

Bisher habe ich zu Hörbüchern nichts geschrieben, es angeregt durchs Deliria-Italiano-Forum nun aber doch getan. Viel vorenthalten habe ich da niemandem, denn normalerweise höre ich gar keine Bücher und hätte es in diesem Falle wohl auch nicht getan, hätte ich Teile der Reihe nicht im Tauschschrank gefunden (und Fehlendes aus der Sammlung meiner Lebensgefährtin aufstocken können). Davon unabhängig werde ich mich vielleicht so nach und nach mal dem übrigen Werk Klings annähern…

Bill Watterson – Calvin und Hobbes

Nach „Irre Viecher aus dem All“ und „Was sabbert da unterm Bett?“ konnte ich auf einem Flohmarkt nun auch des (selbstbetitelten) ersten Softcover-Bands der in den Nullerjahren beim Hamburger Carlsen-Verlag erschienen elfbändigen Funny-Zeitungsstrip-Reihe habhaft werden. Im US-Original ist er bereits 1987 erschienen.

Über 130 Schwarzweiß-Seiten erstrecken sich die überwiegend aus vier Panels bestehenden Strips sowie die sonntags in den Tageszeitungen veröffentlichten Onepager. In seinem zweiseitigen Vorwort hebt „Doonesbury“-Schöpfer Garry Trudeau Wattersons Realismus in Bezug auf kindliche Erlebniswelten lobend hervor und beschreibt die Funktion dieser Comics für eine ausgewachsene Leserschaft:

„Dieses Gefühl des Ausgeschlossenseins verleitet viele Erwachsene zu dem Versuch, die Unbeschwertheit der Jugend wiederzuerlangen, das Unwiederbringliche zurückzuholen. Ein paar Verzweifelte greifen zu Mitteln, die über kurz oder lang in die Betty-Ford-Klinik führen. Wir anderen, etwas Vernünftigeren, lesen ,Calvin und Hobbes‘.“

Die Fantasiesituationen des sechsjährigen Einzelkinds Calvin, in denen sein Stofftiger Hobbes lebendig und ihm Spielkamerad und Familienmitglied zugleich wird, machen einen Großteil der Strips aus; ihre Pointe ist die jeweilige Auflösung in der Realität – ein Konzept, das Watterson hier noch sehr stringent verfolgt. Jedoch: Manchmal ist’s spaßigerweise auch umgekehrt. Watterson etabliert einige Running Gags und wiederkehrende Motive sowie Figuren wie die Mitschülerin, den Schulschläger, Raumfahrer Spiff (ein Alter ego Calvins, vergleichbar mit Snoopys Weltkriegsflieger-Ambitionen), Calvins Fernsehsucht und die Beurteilungen seines Vatis, als handele es sich um bei diesem um einen gewählten Politiker. Das ist mal niedlich, öfter frech, immer charmant und meist irre komisch.

Die deutsche Bearbeitung legte Calvin auf S. 110 Paul Kuhns „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ in den Sangesmund, die Reminiszenz an den Horrorklassiker „Die Fliege“ auf S. 114 wiederum ist international verständlich. Eigenartigerweise folgt in meiner Ausgabe auf Seite 72 die Seite 85, es scheinen also 12 Seiten zu fehlen. Nach einem Herausriss sieht’s aber nicht aus. Ein Fehldruck? Oder doch eine spurenlose Entfernung?

Wie auch immer: „Calvin und Hobbes“ würde ich gern irgendwann komplettieren, weitere Bände liegen schon bereit.

Paolo Eleuteri Serpiere – Aphrodisia

Als ich aus einer Gebrauchtartikel-Wühlkiste eines Comichändlers dieses 1999 im Münchner Verlag Schreiber & Leser erschienene 56-seitige, vollfarbige Softcover-Album mitnahm und dann irgendwann auch las, wusste ich nicht, dass es sich um den im italienischen Original „Druuna“ betitelten zweiten Teil der berüchtigten achtteiligen „Morbus Gravis“-Reihe Serpieris um die eben Druuna heißende Protagonistin handelt, die der Zeichner ab 1985 innerhalb einer dystopischen, surrealen Science-Fiction-Welt auftreten ließ, die er mit drastischen Horror- und Erotik-Elementen mischte.

Meine Ahnungslosigkeit erklärt auch, weshalb ich während der Lektüre der Ansicht war, Serpieri habe es sich mit dem in reiner Schriftform vorangestellten (und in dieser deutschen Übersetzung leider viele Zeichensetzungsfehler aufweisenden) Prolog etwas sehr einfach gemacht – hielt ich diesen Band doch für eine in sich abgeschlossene Geschichte. Dem ist nicht so und entsprechend herausfordernd ist es auch, sich in die Handlung einzufinden. Deren Prämisse wird in einem Dialog im letzten Drittel auf den Punkt gebracht: „Du, ich und diese ganze Umgebung“, so lässt Druuna ihr dortiges Gegenüber wissen, „gehören zum Traum eines ,Geistes‘. Einst war er ein Mensch, jetzt ist er reine Energie mit unglaublichen Kräften.“

Der sich an eine erwachsene Leserschaft richtende Comic ist in einem hyperrealistischen Stil hervorragend gezeichnet, handgelettert und mit expliziten Sexszenen durchsetzt, die eine eigenwillige, gewöhnungsbedürftige, reichlich abgefahrene Angelegenheit aus der Geschichte machen – die, zumindest in diesem einzigen mir bisher bekannten Band, hinter den Schauwerten zurücksteht.

Die „Morbus Gravis“-Reihe rief sodann auch die deutschen Sittenwächter auf den Plan. Vor Schreiber & Leser veröffentlichte hierzulande der Alpha-Verlag die Alben, der sich, so steht’s in der Wikipedia, von vornherein in Selbstzensur geübt habe. Dies habe deutsche Behörden jedoch nicht daran gehindert, im Zuge der bis dahin beispiellosen Beschlagnahmeaktion im Jahre 1995 auch „Morbus Gravis“-Titel zu unterschlagen. Gut möglich daher, dass es sich auch bei dieser Schreiber-&-Leser-Auflage um eine bereits entschärfte Fassung handelt. Unzensierte Gesamtausgaben seien 2015 und 2016 ebendort erschienen.

Diese Zensurgeschichte ist ehrlich gesagt spannender, als dieses Album auf mich wirkte, das mich mit Serpieris Stil, den dynamischen Panelstrukturen und der mal trist-graustichigen, dann wieder lebendig fleischfarbenen Kolorierung in erster Linie gestalterisch zu überzeugen wusste.

Midam – Kid Paddle, Band 4: Full Metal Cracker

Mit „Kid Paddle“ brachte der belgische Comiczeichner Midam seine erste Reihe heraus. Der Hamburger Carlsen-Verlag erstveröffentlichte sie hierzulande in Form von sechs jeweils 48-seitigen, vollfarbigen Softcoveralben im Zeitraum Februar 1997 bis August 2001. Zwei Jahre später brachte sie es sogar zu einer Zeichentrickserie. Der vierte Comic-Band „Full Metal Cracker“, ein Zufallsfund in einem Freiburger Antiquariat, ist meine erste Konfrontation mit „Kid Paddle“.

Im Mittelpunkt der Funny-Reihe steht mit Kid Paddle ein Schüler im Kindesalter, der Computer- und Videospielen verfallen ist. Er hat zwei Freunde: den hornbebrillten, zu ihm aufblickenden Horsti, der leicht zu beeindrucken ist (und seltsamerweise ein bisschen wie ein Opa aussieht) sowie Bigbang, den Naturwissenschafts-Nerd mit Stoppelhaarschnitt, der permanent eine VR-Brille zu tragen scheint. Kid Paddle schikaniert gern seine Schwester, fällt seinem Vater auf die Nerven und steht mit dem Spielhallenaufseher auf Kriegsfuß.

Die sich über ein bis zwei handgeletterte Seiten mit jeweils vier Reihen flexibler Panels erstreckenden, unbetitelten Gags sind nicht unbedingt immer videospielspezifisch. Zwar karikieren sie u.a. Videospielinhalte, aber auch die Interessengebiete und Freizeitgestaltung zehn- bis 14-jähriger Rotzlöffel, worin sich auch ältere Semester wiederfinden dürften. Die letzte Geschichte endet mit einer besonders beeindruckenden seitenfüllenden Zeichnung. Der Humor ist frech, ohne allzu provokant zu sein, dabei aber sehr gelungen (also keinesfalls zu kinderspezifisch), und der aufgeräumte, aber witzige Zeichenstil überaus gelungen. Im Design der Tischlampe Kid Paddles Vaters findet sich zudem eine Charlie-Brown-Hommage.

Klasse Stoff, von dem auch die übrigen fünf Alben hermüssen!

Téhem – Malika: (1) Ausgeträumt! / (2) Nervous Breakdown

Der Franzose Thierry Maunier alias Téhem zeichnete von 1998 bis 2008 die neunbändige Comicreihe „Malika Secouss“, von der in deutscher Übersetzung leider nur zwei Softcover-Alben in den Jahren 2001 und 2002 im Hamburger Carlsen-Verlag (unter dem verkürzten Titel „Malika“) erschienen sind. Diese sind vollfarbig gestaltet und bringen es ganz klassisch auf jeweils 48 Seiten.

Die Jugend-Funnys spielen im Original innerhalb einer dunkelhäutigen Community einer Plattenbausiedlung in den französischen Banlieus, die die deutsche Bearbeitung kurioserweise in Deutschland verortet. Dort vertreibt sich die kesse, hübsche, sportliche Malika mit dem kräftigen Stiefeltritt zusammen mit dem coolen, adipösen Dooley und dem tumben Basketballer Jeff die Zeit. Sozialarbeiter und andere, die es gut mit den Heranwachsenden meinen, werden dabei häufig düpiert. Pro Seite mit flexibler dreizeiliger Panel-Struktur bekommt man im ersten Band eine (unbetitelte) Geschichte inklusive Pointe geboten.

Während ich mir zunächst noch dachte, dass der Humor zwar angenehm ist, für meinen Geschmack aber gern etwas deftiger ausfallen hätte dürfen, entwickelt er sich von Seite zu Seite tatsächlich in diese Richtung. Manch Pointe geht dabei auch auf Kosten Malikas oder ihrer Clique. Nicht jeder Gag sitzt, aber mir gefällt der Zeichenstil und am Ende ist mit dem Trio sowie den Vorstadt-Hooligans, der Bibliothekarin und dem Sozialarbeiter vertraut. Einige simpel anmutende Gags entpuppen sich als tiefgründiger, als es zunächst den Anschein hat, und setzen sich auf zwar humorige Weise, aber dennoch kritisch mit der Situation in den Banlieus zwischen Wohnghetto, Sportplatz und Supermarkt auseinander. Malika taugt trotz eigener Schwächen als Identifikationsfigur insbesondere für Teenagerinnen.

Im zweiten Band erhalten die kleinen Geschichten Titel – und Malika einen etwas zu jungen Verehrer, was zum Anlass mehrerer Gags wird. Eine Ausfahrt aufs Land mit dem Sozialarbeiter gerät gar zu einer längeren zusammenhängenden Abfolge pointierter Culture-Clash-Ereignisse. In die Falle, müde politisch korrekte Betroffenheitscomics zu zeichnen, tappt Téhem indes nie, denn er lässt sich seine Figuren wiederholt als ignorant und resistent gegenüber den gutgemeinten pädagogischen und sozialen Maßnahmen der Stadtverwaltung erweisen und sie zahlreiche Klischees bedienen. Dennoch findet er die richtige Balance zwischen mit ihnen und über sie lachen und karikiert sie auf liebevolle Weise.

Schade, dass Carlsen die Reihe nach nur zwei Alben eingestellt hat.

Horst Oden – Das Horror Picture-Buch – Die besten Horrorfilme von RTLplus

Dieses ein wenig kleiner als im A4-Format gedruckte, 100-seitige Buch im Softcover aus dem Jahre 1991 mit dem seltsamen denglischen Titel ist nicht etwa ein Bilderbuch, wenngleich es innerhalb jener Fan-Buch- und Bildband-Reihe im Verlag der „edel Company“ erschien, die seinerzeit in den Musik- und Filmabteilungen großer Kaufhäuser angeboten wurde. Es erinnert an die seligen Privatfernsehzeiten, als RTLplus und Konsorten manch Genre-Film, darunter eben auch Horrorfilmen, einen zweiten Frühling bescherte. Dass ein Buch mit diesem Titel existiert, ist in Indiz dafür, welche Aufmerksamkeit die damals noch jungen Sender mit ihren Spielfilmausstrahlungen erzeugten.

Der für den bebilderten und in großzügiger Schriftgröße geletterten Textteil zuständige Autor Horst Eden beruhigt die Leserschaft im Vorwort, dass es ganz normal sei, Freude an fiktionalem Horror zu empfinden. Es folgt eine nach Jahrzehnten aufgeteilte kurze, aber jeweils auf den Punkt gebrachte und bis auf „Whales“ (statt „Whale“) meines Erachtens fehlerfreie Abhandlung über die Entwicklung des Genres. Schade, dass diese nach den 1950ern abrupt endet und Einschnitte, wie sie allen voran Roman Polanski mit „Rosemaries Baby“ verantwortete, somit ausgespart bleiben. Das matte, chlorfrei gebleichte (und gutriechende) Papier mit Schwarzweißdruck wird von einer Fotostrecke auf hochwertigem Farbpapier mit Standbildern aus diversen Horrorfilmen abgelöst, leider ohne Quellenangaben.

Kurze Kapitel geben Einblicke in verschiedene Horror-Subgenres, jedoch längst nicht alle. Oden lässt wissen, dass ihm die modernen Zombiefilme zu weitgingen und lässt sich in diesem Kontext zu einer „Man-Eater“-Diskreditierung hinreißen, obwohl es sich bei diesem gar nicht um einen Zombiefilm handelt. Die Aneinanderreihung der seines Erachtens besten Filme besteht eher aus Vorstellungen der jeweiligen Streifen, um guten Gewissens als solche zu bezeichnenden Kritiken oder gar Analysen handelt es sich dabei nicht. Zudem hat er dann doch eine äußerst knappe und willkürlich erscheinende Auswahl getroffen. Gemeinsamer Nenner scheint zu sein, dass sie alle auf RTLplus ausgestrahlt wurden. Leider fehlen dabei einige Filme, an die ich mich erinnere, sie seinerzeit erstmals auf RTLplus gesehen zu haben (z.B. „Hexensabbat“ oder Larry Cohens „It’s Alive“-Filme).

Die Tipp-, Grammatik- und Setzfehler häufen sich leider mit der Zeit, sodass das Buch einen recht unprofessionellen Eindruck hinterlässt. Es scheint mir mit Abstrichen als niedrigschwelliger Einstieg in die Welt des Horrorfilms geeignet, gerade auch für junge Menschen – zumindest zum damaligen Zeitpunkt. In seinen besten Momenten erzeugte dieser antiquarische Fund während meiner Lektüre ein wenig Fernseh- und Genre-Entdeckungsnostalgie – und Erinnerungen an die Kaufhausabteilungen mit Büchern wie diesem.

Frank Schäfer – Kultbücher. Was man wirklich kennen sollte

Kürzlich schrieb ich über Frank Schäfers im Erftstädter Area-Verlag erschienenes Werk „Zensierte Bücher“, in dem er mit einer Ausnahme (von der ich aus dem Stegreif gar nicht wüsste, um welche es sich handeln sollte) diejenigen Bücher aussparte, die der Braunschweiger Autor musik- und literaturzentrierter Sachbücher bereits in „Kultbücher“ besprochen hatte. „Kultbücher“ war im Jahre 2000 ursprünglich bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen, in der verbesserten, stark erweiterten Neuauflage, die Gegenstand dieser Rezension ist, jedoch erst 2005, nun ebenfalls bei Area. Der 400-seitige Umfang des gebundenen Wälzers entspricht dem von „Zensierte Bücher“, vorgestellt und besprochen werden von Schäfer sage und schreibe 71 Werke.

Einleitend stellt Schäfer acht sehr richtige Thesen zum Thema auf, um anschließend in chronologischer Reihenfolge in die Vollen zu gehen: In knapper Essay-Form kanonisierend, sortiert er die Bücher in ihren jeweiligen historischen Kontext ein. Doch handelt es sich tatsächlich allesamt um Kultbücher? Nun, mit „kennen“ meint Schäfer mitnichten „lieben“ und reflektiert seinen Kanon kritisch, statt ihn oberflächlich abzufeiern (oder „abzukulten“).

So zitiert er Arno Schmidts Herausarbeitungen der Homoerotik, die Karl May – aus bestimmten Gründen? – seiner Winnetou-Figur angedeihen ließ, und übt scharfe Kritik an Rudyard Kiplings Dschungelbüchern: „Hier wird der Lesejugend die streng hierarchische, imperialistische Weltsicht des viktorianischen Großbürgertums eingebimst (…).“ (S. 24) Hochinteressant wird es bei Karl Kraus‘ „Die Fackel“, den Schäfer als frühen Kämpfer für sexuelle Selbstbestimmung, pressekritischen Sprachkritiker und wortgewaltigen Kriegsgegner während des Ersten Weltkriegs adelt. Es geht also keinesfalls darum, einer breiten Masse liebgewonnene Bücher systematisch zu besudeln und zu verreißen. Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ interpretiert er relativ anspruchsvoll philosophisch, macht klar, welch Faschist und Schlächter Ernst Jünger war, und arbeitet aus Hermann Ungars „Die Verstümmelten“ die sexualpsychopathologische und homosexuelle Ebene heraus. Walter Serners „Die Tigerin“ beschreibt er als stilistisch mutige, abseitige Liebesgeschichte mit einer im Wortsinn ganz eigenen Sprache. Den russischen „Alle Fälle“-Autor Daniil Charms stellt Schäfer als Initiator der Neuen Form vor, der unter dem stalinistischen Terror zu leiden hatte und ihn nicht überlebte. Er bricht eine Lanze für die Naivität und rührende Schönheit Pus des Bären von Alan Alexander Milne und zitiert in diesem Zusammenhang Harry Rowohlt.

Ein weiteres „Kultbuch“, mit dem Schäfer abrechnet, ist John Cowper Powys‘ „Wolf Solent“ aufgrund dessen Fortschritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit. Wilhelm Reichs Sachbuch „Die sexuelle Revolution“ nimmt er zum Anlass, zu beleuchten, wie man Sexualrevolutionär Reich während der NS-Diktatur fertigmachte, worüber dieser anscheinend den Verstand verlor und zum Esoterikspinner mutierte. Er nähert sich James Joyces „Finnegans Wake“ an, ruft anlässlich „Ich – Arturo Bandini“ John Fante als herausragenden Literat italienischer US-Immigranten, dessen Werke auch Bukowski gefielen, ins Gedächtnis, und geht dabei auch auf Fantes Sohn ein. Antoine de Saint-Exupérys Kinderbuch „Der kleine Prinz“ klassifiziert Schäfer als Geschichte über sonderbare Außenseiter und die Kraft der Freundschaft. Woodys Guthries Autobiographie „Bound for Glory“ umschreibt er als gossenpoetisches „Sittenbild der Unterschichten in den 20er und 30er Jahren“.

Die Nachkriegszeit eröffnet Schäfer mit Salingers „Der Fänger im Roggen“, einem Bildungsroman übers Erwachsenwerden und „den Antagonismus von Kunst und Leben“. Ian Flemings „James Bond“-Romane kritisiert er für ihren Schreibstil, vor allem aber für ihre reaktionären und sexistischen Inhalte – danke dafür, Frank! J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ scheint nicht sein Fall zu sein, offenbar erlag er dessen Faszination nicht. (Da ich fürchte, dass es mir ähnlich erginge, habe ich es trotz gefühlten sanften gesellschaftlichen Drucks noch immer nicht gelesen.) Zurecht wesentlich mehr anfangen kann Schäfer mit Philip K. Dicks klugen Science-Fiction-Dystopien, mit denen „die ästhetische Moderne im Science-Fiction-Genre Einzug“ gehalten habe. Seinen verfilmungskritischen Passus zu „Minority Report“ kannte ich allerdings schon aus einer seiner Essay-Sammlungen. Anhand „Jerry Cotton“ bricht er eine Lanze für Heftromane und sprach mit deren fleißigstem Verfasser Friedrichs, was mir aus „Homestories – Zehn Visiten bei Schriftstellern“ ebenfalls bereits bekannt war. Und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich in einem seiner anderen Bücher auch schon seine Auseinandersetzung mit Nabokovs „Lolita“ gelesen. Doch Redundanz ist die Mutter der Didaktik, also sei’s drum.

Ginsbergs „Howl“ hebt Schäfer als lyrisches Manifest der Beat-Generation hervor, Kerouac charakterisiert er als naiv-träumerischen, konservativ-regressiven Beat-Autor. Er kommentiert die Werke des psychisch schwerkranken Robert Lowry, um schließlich eingehender auf sein vermeintlich antisemitisches „Lebendig begraben“ einzugehen und es von diesem Vorwurf freizusprechen. Das satirische und humoristische Potenzial von „Naked Lunch“ erkennt Schäfer, bleibt aber leider eine Antwort darauf schuldig, inwieweit Borroughs „reaktionäre Anwandlungen“ gehabt habe. Sein Essay über Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“ ist leider fast ausschließlich eine Zusammenfassung des Inhalts, zudem ohne ein Wort über die fulminante Verfilmung zu verlieren. Und kenne ich seinen Text über Anthony Burgess‘ „A Clockwork Orange“ nicht auch schon? Wie dem auch sei: Schäfer ehrt den Roman als Plädoyer für die Wahlfreiheit des Menschen und gegen Totalitarismus. Harold Brodkeys „Unschuld“ hingegen verreißt er aufgrund dessen pubertärer, dusselig verliebter Sprache – obwohl mir die Zitate sehr zusagen. Sie lesen sich wie authentisch im Affekt geschrieben. Es folgt ein Loblied auf Charles Webbs „Die Reifeprüfung“ und dessen „liberalistische Intention“. Folk-Nuschler Bob Dylans „Tarantula“ wiederum ist offenbar unlesbarer Schwachsinn, was auch Schäfer vermittelt.

Sein Text über Richard Brautigans „Forellenfischen in Amerika“ verhandelt jenes Buch als mit der Hippiezeit korrespondierende, abermalige Sinnsuche in den mythologisierten USA in Form schräger Prosa, von der Schäfer begeistert ist, bei der ich jedoch abwinke. Hubert Fichtes „Die Palette“ skizziert er als „lapidares, teilnahmsloses, wenn nicht indolentes Stenogramm“, für dessen Stil er Verständnis äußert, ihn aber trotzdem bedauert. Der gute alte Charles Bukowski gefällt ihm, und so verteidigt er ihn gegen elitäre Behauptungen, er sei ach so antiliterarisch. Aus der Beat-Anthologie „Acid“ zitiert Schäfer die unfreiwillig komisch anmutenden Thesen Staffords und kommentiert sie sarkastisch. Günther Amendts „Sex Front“ sei ein freches, gelungenes Aufklärungsbuch – und auch, wenn man längst alles weiß, könnte es offenbar Freude bereiten, es einmal zu lesen.

Schäfers Essay zu Arno Schmidts „Zettels Traum“ weist die Struktur eines Dramas auf, das ein universitäres Gespräch abbildet, in dem Schäfer in die Rolle des Germanistik-Dozenten schlüpft, weit ausholt und Schmidt ästhetischen Nonkonformismus attestiert, bevor er zu dessen Opus magnum „Zettels Traum“ kommt. Das dürfte eher nichts für mich sein, denn schon das Lesen dieses Essays voller verquaster Verklausulierungen ist unnötig anstrengend – zumal es sich seitens Schmidt offenbar um einen Versuch handelte, E.A. Poe die Ehre abzuschneiden. Immerhin äußert Schäfer Kritik an Schmidts altersreaktionären Ressentiments.

In Hunter S. Thompsons „Angst und Schrecken in Las Vegas“ erkennt er eine ambivalente Aussage, schreibt daher von einer humorvollen Drogen-Apotheose und -Kritik zugleich sowie vom Abgesang auf die Hippies. Peellaerts und Cohns „Rock Dreams“ sei gar eine Illustration des Untergangs des Rock’n’Rolls und Jörg Schröders „Siegfried“ eine bewusst trashige, anarchische, aber auch eitle Abrechnung mit dem damaligen Literaturbetrieb. Helmut Salzinger sei ein seine Hoffnung in die „Yippies“ setzender Musikkritiker und -diskutant, der auf mich aber wie ein nerviger Hippie-Laberkopp wirkt. So oder so wurde er hoffnungslos von der Zeit niedergewalzt. Jerofejews „Die Reise nach Petuschki“ ist laut Schäfer ein russischer Suffroman voller russischem Weltschmerz, über den er gern noch mehr wissen würde – wie er abschließend durchblicken lässt. Ein Kuriosum unter den „Kultbüchern“ ist Heino Jaegers „Alkoholprobleme in Dänemark“-Schallplatte (!), offenbar ein herausragend komisches Spiel mit der Sprache.

„Gedichte/Lieder“ Wolf Wondratscheks seien überraschende Gedichtbände, Verena Stefans „Häutungen“ ein anscheinend gar nicht mal so gutes erstes literarisches Werk der Frauenbewegung in den 1970ern und Raymond Federman mit „Take it or leave it“ einer der zurecht bekanntesten Vertreter der literarischen Postmoderne gewesen. Auf S. 277 war Schäfer schon beim Feierabendbier, das hoffentlich kein „Giftpils“ war. Nichtsdestotrotz arbeitet er aus Bernward Vespers „Die Reise“, eine Art stellvertretender RAF-Terroristen-Biographie, sehr schön die Ambivalenz nicht nur dieser Figur heraus. Eckhard Henscheids „Geht in Ordnung – sowieso – – genau – – -“ sei für Schäfer ein empathisches humanistisches Denkmal für dämliche Kneipen-Dampfplauderer, auch wenn sich die Zitate eher sozialchauvinistisch herablassend für mich lesen. Uli Beckers „Gelegenheitsgedichte im besten Sinne“ aus „Meine Fresse!“ betrachtet Schäfer als Porträt des desillusionierenden Teils der 1970er und Brinkmanns „katastrophistische“ Text-Bild-Collage „Rom, Blicke“ als „rücksichtsloses und nachgerade dokumentarisches Stenogramm“. „Fuck off, Amerika“ aus der Feder Eduard Limonows attestiert Schäfer, ein „emotionaler Blitzableiter, zugleich aber auch ein aufrichtiges, sich selbst nie schonendes, die eigene Hybris, Ehrpusseligkeit und Larmoyanz nie beschönigendes Protokoll einer Selbstbehauptung“ zu sein, geizt dabei aber nicht mit Kritik am Autor.

Douglas Adams‘ Science-Fiction-Komödie „Per Anhalter durch die Galaxis“ sieht Schäfer ungewohnt kritisch, Jörg Fausers „Der Schneemann“ ordnet er als etwas undurchsichtigen Schelmenkrimi und Stenogramm des Dekadenwechsels zu den 1980ern ein und Rainald Goetz‘ „Irre“ als Infragestellung der Psychiatrie, aber auch Abgesang auf salonrevolutionäre Träumereien vom künstlerischen und revolutionären Potential Irrer – mit einem schwachen dritten Teil. Jim Dodges „Fup“ sei eine Art Erwachsenenmärchen, Gibsons „Neuromancer“ darf als Cyberpunk-Pionier nicht fehlen und Bret Easton Ellis‘ „Unter Null“ ist offenbar ein „American Psycho“-Vorläufer in Sachen Abrechnung mit den Yuppies. Philippe Djians „Betty Blue. 37,2° am Morgen“ mag Schäfer sehr, unterstellt aber beinahe Voyeuristisches beim Lesen. Wolfgang Welt mit seiner „Peggy Sue“ scheint mir ein ungefickter Journalist zu sein, der seinen persönlichen Frust in Musikkritiken auf andere projiziert, woraus eine Art unsympathischer Verliererprosa wird, was Schäfer in seinem wohlwollenden Essay zumindest anklingen lässt. Bei dieser Gelegenheit: Was soll eigentlich immer dieses Abarbeiten an Heinz Rudolf Kunze? Er schenkte uns immerhin die Evergreens „Dein ist mein ganzes Herz“ und „Finden sie Mabel“ – und was danach so alles aus Deutschland die Charts erklomm, war doch wohl zu großen Teilen wesentlich schlimmer. M.A. Numminens „Der Kneipenmann“ ist laut Schäfer so etwas wie ein ehrerbietendes Soziogramm finnischer Unterschichtstrinker – und damit der Gegenpol zu Henscheid?

Joachim Lottmanns „Mai, Juni, Juli“ definiert Schäfer als ersten deutschen Poproman, ein „fulminante[s] Stück Prosa“, das „nicht nur treffsichere[s] Szene- und Zeitdokument, sondern auch postmodernes Patchwork, ein Roman aus angefangenen Romanen“ sei. In Andreas Mands „Grovers Erfindung“ erkennt er nicht weniger als die Wiederauferstehung vergessener sensorischer, emotionaler, transzendentaler Potenziale der Kindheit, einen ebenso witzigen wie soziologisch interessanten und inhaltlich wie sprachlich überaus präzisen Roman über die Kindheit in den 1960ern. Mit „Generation X“ setze sich Douglas Coupland unklug zwischen die Stühle und biete „für einen Essay (…) einfach zu wenig Analyse – und für einen Roman zu viel.“ Irvine Welshs „Trainspotting“ lasse sich als verstörende und provokante „Apologie des Drogenkonsums“ zusammenfassen und Tobias Wolff Kriegserinnerungen „In der Armee des Pharaos“ als aus einer Dummheit heraus geborenes „deutlich Grausamkeit und Sinnlosigkeit [des US-Angriffskriegs auf Vietnam] spiegeln[des]“ Buch – weshalb dieses erst so spät, nämlich 1994, erschien, erfährt man leider nicht.

Kinners, wir ham’s gleich! Die letzte Rutsche: Nick Hornbys „High Fidelity“ beschreibt Schäfer als listenreiche, kluge Pop- und Erwachsenwerdungs-Prosa, deren auch von ihm erwähnte Erzählerlarmoyanz mir jedoch derart das Vergnügen trübte, dass eine Identifikation schwer- und mir die Verfilmung daher tatsächlich besser gefiel. McNeils und McCains US-Urpunk-Oral-History „Please Kill Me” empfinde Schäfer als spannend und souverän geführt, Stuckrad-Barres „Solocalbum“ hingegen als „Zeugma-lastigen, sprachlich ansonsten uninteressanten und inhaltlich abgeschmackt-polemischen, schaumschlägerischen Poproman über einen Teil der 1990er und das Herzeleid des Erzählers – touché! Aus ungefähr diesen Gründen, die sich mit meinen Befürchtungen decken, habe ich‘s bisher nicht gelesen, obwohl es eigentlich meine Kragenweite sein sollte. Große Lyrik mit „schier überbordende[m] Storytelling sei Fredy Neptunes „Am Fleischwolf“, Poesie auf bewusst „niederer Stilebene“ Forrest Gumps und Co. über die Grausamkeit des Menschen und die für mich unvorstellbare Möglichkeit, ihm zu verzeihen. Mit J.T. Leroys „Sarah“ stellt Schäfer zudem einen „so unbeschwert“ erzählten Roman „als ginge es um Burgenbauen im Sandkasten“ über pädophile und schwule Elendsprostitution vor, der offenbar autobiographisch und -therapeutisch, in „kindlich-glättende[m], harmonisierende[m] Erzählgestus“ verfasst ist. Frank Schulz‘ „Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien“ sei ein „ebenbürtige[r], nein, bessere[r] Nachfolger“ des „besten deutschen Trinkerroman[s] aller Zeiten“ – schade, dass er über diesen nicht auch geschrieben hat –, ein Roman über ein dem Wahnsinn verfallenden Schriftsteller, der zu lange gezwungen ist, Zeit und Talent für Anzeigenblättchen zu verschwenden.  Und noch interessanter liest sich Schäfers Abhandlung über Matias Faldbakkens seine eigene Rezeptionsgeschichte vorwegnehmenden, schwerst beleidigenden Anarcho- und Pornoroman „The Cocka Hola Company“, den ich unbedingt werde lesen müssen.

Zugegeben, mitunter spoilert Schäfer nicht zu knapp. Andererseits ist „Kultbücher“ zumindest für mich auch ein Buch, das man liest, um einen nicht unbeträchtlichen Anteil der besprochenen Bücher nicht lesen zu müssen. So manch eines macht Schäfer einem aber schmackhaft und gibt sich dabei durchaus angriffslustig und streitbar, scheut sich nicht, manch heilige Kuh zu schlachten und zitiert gern aus Kritiken, um diesen zu widersprechen. Das liest sich nicht zuletzt wegen seiner Fabulierkunst ebenso informativ wie unterhaltsam, wenn er es nicht gerade wie für ihn typisch mit den seltsamen Wörtern übertreibt: Panegyrikos (antike Prunkrede), spinozistisch (de Spinozas Lehren ablehnend/abwertend), defätistisch (resignativ), Suada (Redeschwall, Beredsamkeit) und Vademekum (Leitfaden) habe bestimmt nicht nur ich vorher nie gehört und „Fürnehmkeit“ (S. 385) muss er sich selbst ausgedacht haben, Google liefert exakt 0 (null) Treffer.

Zum Inhalt: Natürlich kann Schäfer nicht über jedes Buch schreiben, das von einer kleineren oder größeren Leserschaft zum Kultobjekt erklärt wird. Aus seiner spitzen Feder hätte ich beispielsweise aber gern auch über Christian Kracht gelesen. Dass Lovecraft komplett ausgespart wurde, irritiert mich noch mehr, und meine leise Hoffnung, dass Schäfer Stephen Kings „Es“ berücksichtigt haben könnte, wurde nicht erfüllt – obwohl durchaus Parallelen zwischen Schäfers sporadischem belletristischen Schaffen und Kings Coming-of-age-Epos erkennbar sind. Davon unabhängig überwiegt bei Weitem der positive Eindruck, den die „Kultbücher“-Lektüre hinterlassen hat, denn dümmer macht sie ganz bestimmt nicht. Und Respekt dafür, all diese Bücher wirklich gelesen zu haben…

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