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Ein neues VERLORENE-JUNGS-Album ist immer etwas Besonderes. Daher habe ich beschlossen, die Veröffentlichung des sechsten Longplayers der Band aus dem Ruhrpott durch dieses Special zu würdigen.
Seit Erscheinen des ersten Albums „Einer von uns“ im Jahre 1997 hat sich die Band stetig weiterentwickelt. War „Einer von uns“ noch ein klassisches Oi!-Album mit starkem Skinhead-Bezug, verließ man mehr und mehr den eng gesteckten Oi!-Rahmen, sowohl in musikalischer als auch in textlicher Hinsicht, was sich vor allem in zunehmend persönlichen, nachdenklichen Texten äußerte und sich schließlich in der Verstärkung durch den zweiten Gitarristen „Schwefel“ manifestierte, der ab dem vierten Album „Ungeliebt“ aus dem Jahr 2003 die Band in eine neue musikalische Richtung hin zu mehr Experimentierfreudigkeit steuerte und neue Einflüsse einbrachte. Diese „natürliche“, also nicht fremdgesteuerte oder aus kommerziellen Gründen heraus entstandene Weiterentwicklung zu beobachten, hat mir immer großen Spaß gemacht, ebenso die Reaktionen auf selbige. Während sich einige Oi!-Punk-Puristen von der Band abwandten, mussten andere eingestehen, positiv überrascht worden zu sein und festgefahrene Denkstrukturen überdenken – sofern sie dazu fähig waren. Natürlich gab und gibt es immer selbsternannte Szenepäpste, die lieber tot umfallen würden, als zuzugeben, sich geirrt oder dazugelernt zu haben – aber ganz ohne wär’s ja auch irgendwie langweilig, oder? So erspielte man sich im Laufe der Zeit ein breiter gefächertes Publikum als zu Anfangstagen und entwuchs der „Oi!-Punk“-Schublade nach und nach, ohne seine Markenzeichen abzulegen: Authentizität, lyrisches Geschick, kompromisslose Texte, Pathos und Peters markanter Gesang.
Ich verfolge die Veröffentlichungen der VERLORENEN JUNGS bereits seit der ersten Platte und hatte nie das Gefühl, dass die Band sich oder ihre Ideale verraten hätte, faule Kompromisse eingegangen wäre oder sich von ihrem Publikum entfernt hätte – ganz im Gegenteil. Die aus dem Leben gegriffenen Texte von Sänger Peter wirken noch genauso ehrlich und authentisch wie auf dem ersten Album, die Entwicklung verlief glaubwürdig und nachvollziehbar. Die Position, die die VERLORENEN JUNGS heute in der deutschen Underground-Musikszene einnehmen, haben sie sich hart erkämpft und erarbeitet, ohne sich jemals untreu geworden zu sein. Darüber legt auch das neue Album „…für ein Stück Leben“ Zeugnis ab, das ich nachstehend Song für Song sezieren werde. Hierbei ließ ich meine eigenen Interpretationen der Songs einfließen, die natürlich keinerlei Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben:
(ICH WEISS NICH’) WOHIN
Das Album wird eröffnet mit einem nachdenklichen Song über die verzweifelte Suche nach einer besseren Welt, die es nicht zu geben scheint und stellt quasi den Ausgangspunkt für alle weiteren Songs dar, die von persönlichen Erfahrungen im Hier und Jetzt und die entsprechenden Reaktionen auf sie handeln. Peters Gesang wirkt wütend und verletzlich, fast, aber eben nur fast resignierend; Metaphoriken wie „eine handvoll Menschenrechte hängen wie gebrochene Flügel“ unterstreichen die getragene Stimmung. Die musikalische Umsetzung erfolgt durch eine clean gespielte Gitarre in den Strophen, die passend zum Aufschrei im Refrain verzerrt wird. Sehr guter Opener.
AUSEINANDERGELEBT
Zweiminütiger, wütender Kracher über eine sich in einer Sackgasse befindende Beziehung, der so auch gut zu den ersten beiden Songs auf der Split mit SOKO DURST („Schluss und aus“ und „Das letzte Mal“) gepasst hätte. Wenn man sich nichts mehr zu sagen hat und sich emotional verschließt („…und die scheiß Arroganz nur vermeintlich überlegen“), wartet man nur noch darauf, dass einer von beiden die Notbremse zieht und einen Schlussstrich zieht. Rockige Riffs unterstreichen den fatalistischen Charakter. Großartiger, desillusionierender Song.
DIE LIEBE DEINER KINDER
Zynisch-fiese Abrechnung mit Leuten, die bei aller vermeintlicher Überlegenheit vergessen, dass sie so unangreifbar letztlich doch nicht sind – z.B. dann nicht, wenn was sie am meisten lieben sich mehr zum Kontrahenten hingezogen fühlt. Zwischenmenschliche Beziehungen lassen sich eben nur schwer kontrollieren. „Kann schon sein, es klingt für dich dreckig und gemein“ – ebenso wie dieser Song.
OHNE MICH
Einer meiner Favoriten dieses Albums. Ein Song über die Zwänge dieses Lebens, dieses Systems, das einen zu vereinnahmen und zu einem Teil seiner Selbst zu machen versucht. Genial gelöst ist der stattfindende Dialog zwischen der großartigen Bridge, in der Peters Stimme verzerrt auf ihn einredet, bis er im Refrain die einzig richtige Antwort gibt: „Ohne mich!“ Im ersten Teil des Songs wurden bei mir Erinnerungen an den einen oder anderen gesellschaftskritischen ONKELZ-Song wach, im zweiten Teil an textliche fitte deutsche Punkbands. Musikalisch wie gesanglich hervorragend umgesetzt.
FREUNDSCHAFT IST
Wunderschöne Hymne an die Freundschaft. Sentimentale Strophen und ein Refrain, der zum Mitsingen aus voller Kehle einlädt.
UNZERSTÖRBAR
Es gibt Phasen im Leben, in denen man trotz aller Rückschläge und negativer Erfahrungen nicht unterzukriegen ist, stattdessen sogar seine Kraft und Energie aus ihnen zieht. Hat man einen Partner gefunden, dem es ähnlich geht, gibt das dem Selbstbewusstsein einen zusätzlichen Kick und die Kraft des Einzelnen wird um ein vielfaches potenziert. Straighte Punkrocknummer.
GEH LOS
Durch die Texte der VERLORENEN JUNGS zieht sich ein gewisser Fatalismus, ein Aufruf zu konsequentem Handeln, zum Hören auf seine Zweifel anstelle von völliger Selbstaufgabe und emotionaler Abhängigkeit, gerade im Zwischenmenschlichen Bereich. „Nimm die Beine in die Hand, lauf so schnell du kannst“, wenn es abermals heißt „er hat noch eine Chance verdient“ oder „sie denkt darüber nach, sie ist noch nicht soweit“. Dieser Song schlägt dir die rosarote Brille von der Nase.
KINDERAUGEN
Premiere! Dieses ist einer der Songs, der für am meisten Aufmerksamkeit bei den Hörern sorgen und verdammt polarisieren dürfte. Musikalisch sphärisch, mit poppigem Drumbeat und – jetzt kommt’s – klarem Gesang! Peter verzichtet hier erstmals komplett auf den Dreck in seiner Stimme und versucht, „richtig“ zu singen! Das gab’s noch nie und ist – zugegeben – gewöhnungsbedürftig. Und erst der Text: Übers Vaterglück. Einfach nur sentimental und schön, ohne Wut, Verzweiflung oder gar Zynismus. Und am Ende singt Schwefels Tochter sogar noch den Refrain. Haha, das dürfte für Manche schockierender sein als der schlimmste Punkrock-Text. Ich wusste zunächst nicht, was ich davon halten sollte, aber nach zwei, drei mal Hören übermannte mich der Charme dieses Songs einfach. Dazu beigetragen dürften vor allem der tolle Hintergrundgesang und die gelungene musikalische Umsetzung irgendwo zwischen TIGER-ARMY-Schnulze und emotionaler Indie-Ballade haben.
ICH GLAUBTE DIR
Wer in seinem Leben mal die Erfahrung machen musste, wie hässlich ein einst als so schön empfundener Mensch plötzlich wirken kann, wenn er das ihm entgegengebrachte Vertrauen missbraucht und auf deiner Seele herumgetrappelt hat, weiß, wie oberflächlich und bedeutungslos äußere Schönheit sein kann. „Ich hab’ dein wahres Ich gesehen – Jetzt bist du hässlich, wenn du lachst, hässlich, wenn du weinst ….“ Musikalisch und textlich erste Sahne – und als Sahnehäubchen griff man auf Zitat-Samples aus dem „Ungeliebt“-Album zurück.
MANCHMAL IN DER NACHT
Für dieses Stück hat Peter erneut, wie seinerzeit bei „Dein schwerster Gegner“, die Knastthematik aufgegriffen. Auch hier wieder eine clean gespielte Gitarre unter einer feinen, ergreifenden Melodie, die sehr gut die unendliche Sehnsucht nach Freiheit musikalisch untermalt. Klasse Song mit einem Wermutstropfen: Der Hintergrundgesang beim Refrain ist leider zu leise.
NICHTS VON ALLEDEM
Mein zweiter absoluter Favorit dieses Albums. Ein Song über späte Rache, lässig-abgeklärt mit sentimentalem Unterton auf einer stampfenden Melodie vorgetragen. Höhepunkt des Songs sind der Chor und der Bläsereinsatz nach dem letzten Refrain. Für mich eine Art geheimer Hit.
SO VIEL MEHR
Nicht bei jeder Trennung hat man sich so sehr „AUSEINANDERGELEBT“, dass man sich nichts mehr zu sagen hätte. Manchmal hat man noch unendlich viel auf dem Herzen, findet aber keine passende Situation oder schlicht nicht den Mut, es auszusprechen. Langsamer, gefühlvoller, ruhiger Song ohne verzerrte Gitarre oder dergleichen. Die zweite wirklich große Überraschung dieses Albums. Allerdings scheint dort nicht Peter zu singen…? Gelungen!
00:52
Kurz, pogotauglich, auf den Punkt gebracht: Kontrastprogramm zum vorherigen Song. Vier Zeilen Text reichen manchmal einfach, dann wird’s eben nonverbal. „Wenn du’s brauchst“… Auf jeden Fall brauche ich diesen Song auf diesem Album.
SCHEMA F
Es muss doch auch einen Song geben, der mir überhaupt nicht gefällt, oder? Richtig, hier ist er. Leider hat man sich anscheinend nicht dazu durchringen können, das Album mit einem der beiden vorigen Songs abzuschließen, die meines Erachtens beide bestens dazu geeignet gewesen wären. Stattdessen übertreibt man’s mit der Experimentierfreude und kreiert einen textlich zwar gewohnt guten, ansonsten aber schwer nervenden monotonen Song im NDW-Stil mit Elektronikeinflüssen. Passt weder zur Band noch aufs Album und wirkt im Gegensatz zu den anderen für VJ bisher untypischen Songs tatsächlich fehl am Platz.
AN MEINEN GRAB (Bonus-Track)
Nur auf der limitierten Edition der CD befindet sich dieser OHL-Coversong. Wusste gar nicht, dass OHL mal so gute, traurige Songs geschrieben haben. Dieser Song ist wie geschaffen für eine Veredelung durch die VERLORENEN JUNGS – Groß!
Ich muss zugeben, dass ich nach dem ersten Hören des neuen VERLORENE-JUNGS-Werks skeptisch war. Das liegt daran, dass die Band mit der Erwartungshaltung der Hörer bricht, statt Altbekanntes, vermeintlich Bewährtes wiederzukäuen und sich selbst zu kopieren. Dieses Album gewinnt mit mehrmaligem Hören an Größe, es wächst nach und nach zu einem wirklich verdammt guten und ausgereiften Werk heran, das sich in den Gehörgängen, im Hirn und im Herzen festsetzt und seinen Platz dort bis an die Zähne mit tollen, emotionalen Texten und abwechslungsreicher Musik bewaffnet verteidigt. Dieses Album wird mit Sicherheit alte Fans verprellen, aber dafür auch jede Menge neue dazugewinnen.
Zur Aufmachung der CD: Es gibt zwei verschiedene Versionen. Beiden gemeinsam ist das liebevoll gestaltete, stilistisch ansprechende Booklet mit vielen Fotos, allen Texten und Wendecover. Die auf 1000 Exemplare limitierte Edition hat neben dem OHL-Bonussong und einem witzigen „Making Of“-Video einen VJ-Metall-Pin im durchsichtigen Tray und als absoluten Knaller einem „Lentikularcover“. Das sind diese Bilder, die, je nachdem, in welchem Winkel man sie hält, etwas anderes darstellen. Man kennt so was häufiger (allerdings nicht als Plattencover) mit zwei Bildern, in diesem Fall liegen aber gleich VIER Bilder übereinander – meines Wissens noch nie dagewesen!
Fazit. Hochinteressantes und –qualitatives Album mit viel Liebe zum Detail, das seinen vollen Glanz erst nach mehrmaligem Hören entfaltet.
Die für Crazy United obligatorische Note:
2
Günni