Günnis Reviews

Monat: April 2021

Matthias „Gonzo“ Röhr – Meine letzten 48 Stunden mit den Böhsen Onkelz

„Teilweise war der Gesang der Fans im Chor fast lauter als die Musik auf der Bühne.“

Ich bin ein Punk. Ich treibe mich vornehmlich auf kleinen AZ- und Club-Konzerten im musikalischen und subkulturellen Untergrund herum und fühle mich dort wohl. Zu meinen musikalischen Favoriten zählen zig Bands, die jeglicher Gigantomanie gänzlich unverdächtig sind. Come as you are. Seit ich als Knirps im Grundschulalter den Heavy Metal und Bands wie Iron Maiden und Venom für mich entdeckt sowie Berichte über die „Monsters of Rock“-Festivals der 1980er ehrfürchtig verschlungen habe, bin ich aber auch der Faszination für das große Spektakel erlegen, fürs unerhört Prätentiöse, für gigantische Kulisse und Pyroshow. So ist mir dann auch nicht entgangen, welche Dimensionen deutsche Festival-Dauerbrenner wie „Rock am Ring“ oder das „Wacken Open Air“ im Laufe der Jahre angenommen haben – aber ebenso wenig, dass ein spezielles Einzelereignis diese im Juni 2005 sogar noch überflügelt hat:  „Vaya con tioz“, das die damalige Bandtrennung besiegelnde Abschiedsfestival der Böhsen Onkelz am Lausitzring sprengte trotz des kultivierten Underdog-Status der Frankfurter Band mit 100.000 verkauften Tickets alle bisher dagewesenen Dimensionen. Doch während übers W:O:A längst auch in den normalen Nachrichten berichtet worden war, blieb dieses Festival aufgrund des seit jeher zerrissenen Tuchs zwischen der Band und den Massenmedien ein medial lediglich von der Lokal- und der Musikfachpresse aufgegriffenes Ereignis. Kernstück des Festivals waren die Auftritte der Böhsen Onkelz, die an zwei Abenden hintereinander jeweils 27 Songs aus den ersten bzw. zweiten zwölfeinhalb Jahren ihrer Existenz spielten.

Eine Möglichkeit, sich über dieses Festival im Nachhinein aus erster Hand zu informieren, bietet diese großformatige, rund 100 gebundene Hochglanzseiten umfassende Mischung aus Bildband, Sachbuch und Memoiren, die von Onkelz-Gitarrist Gonzo verfasst und von Fotokünstler Ralph Larmann im Jahre 2006 bei Iron Pages Books herausgeben wurde. Natürlich nimmt Gonzo diese Gelegenheit auch zum Anlass, zu resümieren, die Leserinnen und Leser an seinen Gedanken und Gefühlen zur Band und deren (wie man seit 2014 weiß vorläufigem) Ende teilhaben zu lassen. Die Bilder stammen von Ralph Larmann, der seine Festivalimpressionen zumeist künstlerisch verfremdete und sie dadurch unwirklich, schemenhaft, wie leicht verblasste Erinnerungen erscheinen lässt, diese aber mit gestochen scharfen Fotos Gonzos – sogar mit Frau und Kindern – kontrastiert. Aus der Bildauswahl wird deutlich, dass Gonzo hier um Mittelpunkt steht und es um seine ganz persönlichen Eindrücke und Erinnerungen geht – seine Bandkollegen spielen daher eine untergeordnete Rolle.

Nach einem Vorwort sowie einem Rückblick in seine musikalische Sozialisation reflektiert Gonzo einige Seiten lang seine Band und ihr Wirken, stellt noch einmal klar, dass er keinesfalls als Rechtsradikaler in die Musikgeschichte eingehen wollte, äußert aber auch Verständnis für diejenigen, die der Band skeptisch gegenüberstehen. Das Selbstverständnis der Onkelz als ein möglichst breites Spektrum an Hörerinnen und Hörern erreichen und ihnen universelle, von Tages-/Parteipolitik losgelöste Botschaften vermitteln wollende, für Rebellion gegen Kleingeistigkeit, Angepasstheit und Mitläufertum stehende Band lässt sich ebenso herauslesen wie das gespaltene Verhältnis zur Presse. Interessant ist seine Aussage zum Wechsel zur Plattenfirma Bellaphon Anfang der 1990er: „Die Presse hatte uns bis dahin gar nicht zur Kenntnis genommen oder uns einfach totgeschwiegen.“ Das stünde in einem gewissen Widerspruch zu den bereits vorher veröffentlichten Songs „Lügenmarsch“ und „10 Jahre“, in denen Presse/Medien kräftig ihr Fett wegkriegen. Das dürfte sich jedoch widersprüchlicher lesen, als es gemeint war, denn in der Tat waren auch vor den großen Kampagnen Teile der Medienlandschaft zumindest vereinzelt in unseriöser Weise auf die Band angesprungen, die sich wiederum bis ins Jahr 1986 hinein aufgrund ihrer Bühnenpräsentation Rechtsextremismusvorwürfe zurecht gefallen lassen musste. Das in diesem Zusammenhang von Gonzo erwähnte Interview mit der Postille „Metal Hammer“, das er aufs Jahr 1988 datiert, dürfte jenes aus dem Jahre 1987 gewesen sein. Aber das nur am Rande.

Der Hauptteil des Buchs dreht sich schließlich ums Festival, das laut Gonzo seine Idee gewesen ist. Wie selbstverständlich erzählt er davon, wie er in einem Luxushotel residierte, und es fallen Sätze wie „Die nächsten Tage werden dann erst einmal mal mit Einkäufen zugebracht. Meine Bühnengarderobe muss vervollständigt werden […]“, die der Street Credibility nicht wirklich zuträglich sind. Man erfährt aber auch, dass er sich seine Gitarren mittlerweile selbst zusammenbaute, um den verschiedenen Sounds der unterschiedlichen Songs vollauf gerecht werden zu können – was nach nerdigem Soundtüftler klingt, der nichts dem Zufall überlässt. Und dass er sich privat für Hot Rods interessiert passt zu den Autorennen, die Teil der Rahmenprogramms waren: Dragster-Rennen trafen auf verrückte bis absurde Kleinwagenduelle. Sein eigentlicher Festivalbericht ist dann ein weitestgehend gelungener Spagat aus dem Versuch, zahlen- und faktenunterfüttert das Ausmaß auch technisch und logistisch begreifbar zu machen (Tonmeister Gerd Gruss und Tourleiter Thomas Hess kommen persönlich zu Wort), aus diversen, auch erheiternden Anekdoten und seinen Gefühlen auf der Bühne.

Schade ist jedoch, dass Gonzo mit kaum einer Silbe auf die zahlreichen Vorgruppen eingeht, darunter immerhin Kaliber wie Motörhead und Rose Tattoo. Ebenfalls kaum Erwähnung findet Onkelz-Bandkopf Stephan Weidner, mit dem sich Gonzo seinerzeit im Clinch befand – worüber man hier jedoch auch nichts erfährt. Auch der Hauptgrund für die Bandauflösung – Sänger Kevin Russells Polytoximanie und Drogenabhängigkeit, die ein Weitermachen nicht mehr erlaubte – bleibt ausgespart. Darüber, diese nicht an die Öffentlichkeit zu tragen, bestand Einigkeit in der Band. Ein inhaltlicher Fehler hat sich auf S. 52 eingeschlichen: Das erste Liveset erstreckte sich nicht von den Alben „Böse Menschen – böse Lieder“ bis „Wir ham‘ noch lange nicht genug“, sondern von „Der nette Mann“ bis „Heilige Lieder“. Irgendwo steht „Blackmoore“ statt „Blackmore“, aber das sei ebenso wie die nur wenigen Interpunktionsfehler verziehen.

Gonzo schließt seine Ausführungen mit einem positiven Ausblick, der gewissermaßen an seine spontane letzte Bühnenansage auf dem Lausitzring anknüpft, in der er sich gegen Trauer und Schwermut richtete und richtigerweise darauf verwies, dass die Platten und die Songs doch erhalten bleiben – was leider nichts daran änderte, dass unmittelbar nach Bandauflösung die nervigsten Epigonen und Kopisten von der Musikindustrie gehypt wurden, auch von denjenigen, die die Onkelz zuvor jahrelang mit dem Arsch nicht angeguckt hatten. Bourgeoise völkische Nationalisten wie die Italiener Frei.Wild galten plötzlich als tragbar und sollten die kommerzielle Lücke füllen, die nun entstanden war. Um einen ersten Eindruck von diesem Festival aus Sicht eines Onkelz-Musikers zu erlangen, scheint mir Gonzos und Ralph Lermanns Buch ebenso gut geeignet wie als Erinnerungsstück für diejenigen, die vor Ort waren. Wer große Überraschungen oder Enthüllungen, bisher unter Verschluss gehaltene Band-Interna oder gar persönliche Abrechnungen erwartet, ist hier aber an der falschen Adresse.

Frank Schäfer (Hrsg.) – The Boys Are Back In Town. Mein erstes Rockkonzert – ein Lesebuch

Im Jahre 2000 gab der promovierte Braunschweiger Literaturexperte, Musikjournalist, Romanautor und ehemalige Heavy-Metal-Gitarrist Frank Schäfer im Berliner Schwarzkopf-&-Schwarzkopf-Verlag dieses rund 240-seitige Lesetaschenbuch heraus. Über 40 Personen, zumeist aus den Bereichen Literatur und Journalismus, darunter einige durchaus prominente Namen, erinnern sich auf jeweils einer Handvoll Seiten nicht unbedingt immer an ihr tatsächlich erstes, aber zumindest an ihr erstes auf irgendeine Weise bedeutendes oder besonders memorables Rockkonzert, um ihre Eindrücke mit den Leserinnen und Lesern zu teilen. Auch der Begriff „Rock“ wird eher großzügig ausgelegt.

In seinem Vorwort scheint sich Schäfer für die naive Begeisterungsfähigkeit für populär- oder auch subkulturelle Konzertereignisse beinahe zu entschuldigen und für diese Sammlung zu rechtfertigen, bevor Harry Rowohlt (ja, der Harry Rowohlt!) den chronologisch sortierten Reigen mit Bill Haleys Konzert in Hamburg im Jahre 1957 eröffnet, auf dem er kurioserweise eigentlich gar nicht war. Michael Krögers Erinnerungen an den Münsteraner Gig der Rolling Stones 1965 wurden mit der antiquarischen Eintrittskarte, selbstgeschossenen Live-Fotos und einem Liebesdrama angereichert, Wolfgang Doeblings Bericht vom Kinks-Konzert 1966 in Stuttgart ist von Erinnerungen an seinen Nazi-Lehrer geprägt und Herbert Müllers Besuch von Casey Jones & The Governors 1966 oder ’67 in Gaggenau-Ottenau (bitte wo?) endet tragisch. Werner Pieper verschlug es an Ostern 1967 zu Geno Washington ins Londoner Marquee, was er für eine heute fast unvorstellbare Liebeserklärung an England nutzt. Den Stellenwert Londons als so etwas wie die europäische Musikhauptstadt wird von mehreren Autoren unabhängig voneinander betont und angesichts der Bescheidenheit der Beitragenden während ihrer Jugend ist man fast zu Demut geneigt. Es waren eben andere Zeiten…

Eugen Egner versucht sich zunächst aus der Affäre zu ziehen, ließ sich dann aber dazu überreden, seine Eindrücke vom The-Pretty-Things-Gig im Wuppertal des Jahres 1967 mit der Leserschaft zu teilen – wie von nun doch einige weitere Beiträge mit zeitgenössischen Fotos, Zeitungsartikeln und Erinnerungsstücken versehen. Bruchmann und Potthoff interviewten 1968 sogar The Who für ihre Herforder Schülerzeitung, Wolfgang Welt bringt die Essener Song- und Blues-Tage desselben Jahres mit Fußball in Verbindung. Fast noch interessanter als Rainer Balcerowiaks Besuch des Berliner Jimi-Hendrix-Konzerts 1969 sind seine Details zu einem Schachverein. Ralf Sotschek wiederum schildert, wie und warum ein Auftritt der Edgar Broughton Band in Berlin 1971 in einer Straßenschlacht endete, wie überhaupt gerade bei den frühen Berichten immer wieder von Polizeiterror und Gewalt die Rede ist und der Eindruck entsteht, die Exekutive habe Konzerte gern als willkommene Anlässe betrachtet, den Knüppel zu schwingen. Michael Bonder lässt uns daran teilhaben, weshalb er sich nach einem Besuch eines Festivals mit Birth Control und anderen Bands in Salzgitter an Weihnachten 1972 wie ein Held fühlte, während Fritz Tietz anlässlich der Reminiszenz an Ekseption in Bielefeld irgendwann während der frühen Siebziger herrlich sarkastisch die Unannehmlichkeiten größerer Konzerte, seine traurige Kindheit und den Hippiescheiß seiner Jugend beschreibt. Michael Quasthoff kann sich an den Auftritt des Tenorspielers (was soll das sein?) Ben Webster in Hildesheim im August 1973 gar nicht mehr erinnern, bei Pete Maestrani, den Andreas Schäfler 1973 in St. Gallen gesehen haben will, handelt es sich offenbar um fiktionale Figur und Jörg Güldens Abhandlungen über Jerry Lee Lewis versus Chuck Berry kratzt gehörig am Legendenstatus beider Rock’n’Roll-Pioniere.

Wenzel Storch hingegen liefert gleich eine ganze lakonische Anekdotensammlung und schließt mit einem wunderbar bekloppten Gedicht, Jörg Feyer beschäftigt sich mit Udo Lindenberg, Dietrich zur Nedden verpasste zwar Hendrix, ist dafür aber gewissermaßen mit auf der Live-Doppel-LP von Jane gelandet, und sicherlich nicht nur für Michael Sailer waren die Synthiepioniere Tangerine Dream 1976 Science-Fiction – urkomisch, wie er beschreibt, was ihn auf deren Münchner Konzert erwartete und wie er daraufhin zum Punk fand. Spannend: Friedhelm Rathjen war 1977 auf dem abgefackelten „First Rider Open Air Festival“ in Scheeßel dabei (inklusive Zeitungsartikel und Foto!). Dirk Knipphals kann seine präpubertäre Begeisterung für Status Quo nicht mehr nachvollziehen und hat diese an den Punk verloren; Matthias Wehrhahn (was ein Name) wiederum war 1979 bei Frank Zappa in Hannover und von da an immer enttäuschter von ihm, schafft es aber prima, mir dessen sperriges Œuvre zu erklären. Was Punk-Literat Jan Off über seinen musikalischen Horizont als immerhin schon Sechstklässler und seine Beweggründe, zusammen mit seinen Klassenkameraden die verfickten Teens zu hören, zu Protokoll gibt, ist einfach nur traurig – was ihm hoffentlich bewusst ist. Irgendwie war er anscheinend auch unangenehm frühreif. Dafür, dass sich seine Geschichte sehr ausgedacht liest, ist die Pointe eher schwach. Vollends enttäuschend ist diese bei Gerhard Henschel ausgefallen, der dadurch wie ein ignoranter, reaktionärer Spießer wirkt.

Doch dann endlich geht’s um Punk, mit Luka Skywalker kommt zudem auch endlich einmal eine Dame zu Wort. Ihre Erinnerungen an Aheads, Out of Order, Neurotic Arseholes und Notdurft Anfang der Achtziger in Bielefeld ist zugleich die Geschichte ihrer Metamorphose vom Hippiemädchen zur Punkette. die konsequent auf großschreibung verzichtende christina nemec hörte 1982 ebenfalls punk, ging aber auch zu drahdiwaberl in villach, fand falco gut und machte damit alles richtig. Und als einziger gab Oliver Maria Schmitt selbst ein Konzert, bevor er eines besuchte. Chapeau! Jürgen Roth muss dann lange im Hinterstübchen kramen, bis er auf Manfred Mann (Köln 1983) als erstes bedeutsames Konzert kommt, Ulrich Blumenbach besuchte im selben Jahre Loudon Wainwright III – bitte wen? Egal, denn das war in London, wo er sich von einer heißen Uschi aufreißen ließ. Rüdiger Wartusch bricht eine Lanze für die NDW-Band Fee, insbesondere ihre Gitarrenarbeit und Texte. Einer meiner persönlichen Höhepunkte des Buchs ist Bernadette Hengsts Beitrag über Ton Steine Scherben und Rio Reiser – ähnlich wie ihr ging’s mir während meiner Pubertät zunächst mit den Böhsen Onkelz und dann sehr bald mit Nirvana, Slime und schließlich allen weiteren deutschsprachigen Punkbands, die wirklich etwas zu sagen hatten.

Gerald Fricke war 1986 bei den Simple Minds, was ihm etwas unangenehm zu sein scheint. Studentenpunk Martin Büsser schreibt ansprechend und witzig über Nomeansno und was sie in den Achtzigern dem dahinsiechenden Punkrock an Innovation und Erneuerung einhauchten, scheint angesichts seines Rundumschlags gegen jene musikalische Dekade aber sowohl den Metal als auch Gruppen wie Depeche Mode & Co. verpennt zu haben – und unter „Mauerfall“, Implosion des Sozialismus und Ende der Rockmusik macht er’s nicht. Uff… Köstlich hingegen, wie Hartmut El Kurdi seine anfängliche Abneigung gegen Ton Steine Scherben zu Papier brachte – und wie er ausgerechnet über die von TSS-Fans so ablehnend aufgenommene Solokarriere Reisers zu eben jenem fand, den er 1988 in Eschwege live sah. Seine bizarren Erlebnisse auf jenem Konzert teilt er ebenfalls mit uns. Herausgeber Schäfer höchstpersönlich wurde das Privileg zuteil, dem „Monsters of Rock“-Festival 1988 im Bochumer Ruhrstadion beizuwohnen, wo Headliner Iron Maiden ihr damals aktuelles Götteralbum „Seventh Son of a Seventh Son“ vorstellten. Dafür hätte ich als 9-jähriger Knirps, der gerade den Metal für sich entdeckt hatte, meinen linken Arm gegeben, doch Schäfer? Macht daraus „… of the Seventh Son“, aus Karlsquell „Carlsquell“, aus Kiss’ „Deuce“ „Deuth“ – und ging mitten im Maiden-Set. Sakrileg! Christian Kortmann war im selben Jahr bei Kim Wilde und Michael Jackson, wofür ich meinen anderen Arm gegeben hätte, hadert aber ebenfalls mit diesem epochalen Ereignis der Popmusik. Was stimmt mit diesen Menschen nicht?

Mit Birgit Fuß bleiben wir im Jahre 1988: Sie war bei Bon Jovi in der Münchner Olympiahalle und schreibt sehr schön darüber. Ja, das „New Jersey“-Album fand ich damals auch ganz cool und hatte es mir zu Weihnachten schenken lassen. „Born To Be My Baby“, „Wild is the Wind“, „Bad Medicine“ … Wenn schon kalkulierter Schlüpferstürmer-Hardrock, dann so! Ob ihr letzter Absatz stimmt und es sich wirklich niemandem mehr vermitteln lässt, weshalb einem Twisted Sister, Guns N’ Roses oder eben Bon Jovi einst sehr viel bedeuteten…? Arne Willander vermittelt einen Eindruck davon, welch hartes Brot es sein kann, als Redakteur einer Lokalzeitung auf Konzerte gehen zu müssen und stellt eine amüsant widersprüchliche Liste an Regeln auf, Andreas Klotz hat sich Schäfers Lieblings-AC/DC-Anekdote ausgeliehen und gibt diese in Gedichtform wieder, Christian Göttner beschreibt das Phänomen The Prodigy in blumigen Worten und Knarf Röllem war bei den verdammten Kiss und steht zu diesem Guilty Pleasure. Ilse Holze, angeblich Lyrikerin und Ergotherapeutin in Leiferde bei Gifhorn, war 1999 in Wacken und schreibt verdächtig dem Schäfer ähnlich („Carlsquell“) … Interessant lesen sich die dort stattgefundenen Band-Reunions – als habe sich die Metal-Welt gerade auf ihre große Renaissance in den 2000ern vorbereitet.

Abschließend war Ulrich Holbein 1999 bei den Bad-Hersfeld-Hippies, hört eigentlich gar keine „U-Musik“ und berichtet in extrem blumiger bis verschwurbelter Sprache seinem Freund Sommerbert in Briefform davon. Damit wird das breite Spektrum dieses Buchs, sowohl was Beitragende als auch Musikstile betrifft, abgerundet. Der Zeitraum der beschriebenen Ereignisse, der sich über 42 Jahre erstreckt, macht aus dem Buch ein Stück weit auch eine Geschichtsabriss der Live-Musik im deutschsprachigen Raum, die einiges über den sich verändernden Zeitgeist, aber auch die gesellschaftlichen Bedingungen und Begleiterscheinungen verrät. Der besondere Zauber, der aus Rockmusik eine Alltagsflucht und Verheißung einer anderen, besseren, weil aufregenderen Welt machte, weicht in den Berichten zunehmend anderen Faktoren – parallel dazu sinkt aber auch die Gefahr, sein familiäres oder gesellschaftlichen Ansehen oder seine körperliche Unversehrtheit – Stichwort Bullenterror – durch einen Konzertbesuch aufs Spiel zu setzen. Anekdotenreich erfährt man zudem von ganz unterschiedlichen Herangehensweisen an Live-Ereignisse, von verschiedenen Erwartungshaltungen und ebensolchen Schlüssen, die gezogen werden. Der überwiegende Teil der in Buchform gebrachten bunten Mischung ist lesenswert und unterhaltsam, wobei die Laienautorinnen und -autoren den Profis der schreibenden Zunft nicht zwangsläufig nachstehen. Der nach einem Hit der ewigen Frank-Schäfer-Lieblinge Thin Lizzy betitelte Sammelband lässt sich prima häppchenweise zu Gemüte führen, lädt meist dazu ein, das jeweils nächste Kapitel zumindest kurz anzulesen (um dann doch dranzubleiben) und liefert ganz nebenbei zahlreiche Musiktipps mit.

Für diejenigen, die solchen Anthologien nicht grundsätzlich ablehnend gegenüberstehen, gern persönlich geprägte Konzertberichte und Artverwandtes lesen und über den eigenen musikalischen Tellerrand hinausblicken (und es sei nur, um sich in ihm bestätigt zu sehen), dürfte das Konzept aufgegangen sein. Nicht verkneifen kann ich mir aber, das Lektorat des Verlags die „Never growing old-Tour“ (S. 72 oben) als anschauliches Beispiel dafür zu nennen, dass auch Eigennamen enthaltende Wortzusammensetzungen, wirklich, ganz in echt, durchgehend mit Bindestrichen versehen gehören. Denn wer würde schon freiwillig auf eine niemals wachsende Alttour gehen?

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