Henseler/Buddenberg zum Dritten: Nach „Grenzfall“ und „Berlin – Geteilte Stadt“ erarbeiteten sie im Jahre 2012 einen dritten Lehrcomic zur deutsch-deutschen Geschichte, indem sie die populärste Geschichte um einen Fluchttunnel von West- nach Ostberlin aufgriffen und, im Gegensatz zu den Franzosen Jouvray und Brachet in „Fluchttunnel nach West-Berlin“, weitestgehend realitätsgetreu abbildeten. Ihr Comic wurde zunächst im Rahmen der von der Bundesstiftung Aufarbeitung geförderten Ausstellung „Tunnel 57“ im Tunnel der Berliner U-Bahnstation Bernauer Straße ausgestellt und erschien 2013 und 2014 in zwei Auflagen als Buch mit zahlreichen weiterführenden Informationen, Interviews, Lehrmaterialien etc., 2016 schließlich als 34-seitige reine Comicbroschüre im Christoph-Links-Verlag. Die letztgenannte Ausgabe liegt mir vor. Wie „Berlin – Geteilte Stadt“ ist sie als Bildungscomic insbesondere auf junge Leser und den pädagogischen Einsatz ausgerichtet.

Erzählt werden die Ereignisse aus Sicht des Tunnelbauers Joachim Neumann, der zusammen mit anderen Fluchthelfern im Jahre 1964 insgesamt 57 Menschen nach beinahe unmenschlichem Aufwand zur Republikflucht von Ost- nach Westberlin verhalf und hier als Erzähler auftritt. Zunächst wird der Plan inkl. fünf federführender Durchführer vorgestellt, wobei auch deren Motive zur Sprache kommen. Ein in Graustufen gehaltener naturalistischer, detail- und schattierungsarmer Zeichenstil kommt zum Einsatz, comictypische Gestaltungselemente wie Bewegungslinien, Soundwords oder Sprechblasen finden sich kaum, erläuternder, dokumentarischer Blocktext überwiegt. Wie gewohnt tritt die künstlerische Expression hinter die Zweckmäßigkeit zurück. Planzeichnungen und Übersichtskarten verstärken den dokumentarischen Eindruck; die Integration realer Personen, deren Comic-Äquivalente sich sogar an Originalfotos orientieren, Zeitkolorit in Form zeitgenössischer Produkte, Marken und Entwicklungen und viele recht realgetreue Bildzitate, für die Fotos in Comicform gebracht wurden, dienen ebenso als weitere Authentisierungsmittel wie abgebildete Original-Zeitungsschlagzeilen.

Dass die Geschichte eigentlich die vier großen literarischen Motive Liebe, Lüge, Verrat und Tod enthält, interessierte das Autoren/Zeichner-Team hingegen weniger. Extrem straff und verdichtet werden die Ereignisse lange Zeit sehr sachlich und nüchtern geschildert und auf Charakterisierungen der Figuren weitestgehend verzichtet. An klassischer Spannungsdramaturgie versucht man sich lediglich auf den Seiten 22-25, als sich die Stasi einschaltet und es zum verhängnisvollen Schusswechsel kommt, bei dem der Grenzsoldat Egon Schultz ums Leben kommt. Hierauf wird dann auch detailliert eingegangen, der Fokus des Endes liegt eindeutig hierauf. Nach einer beinahe kriminalistischen Aufarbeitung des Falls – Fluchthelfer Zobel schoss auf Schultz, welcher jedoch erst von einem Querschläger eines Kameraden tödlich verletzt wurde, was die DDR-Führung bewusst verschwieg, um Egon Schultz zu einem Märtyrer zu stilisieren und dessen Tod ideologisch und politisch zu instrumentalisieren – findet Erwähnung, dass Zobel dies nie verarbeitet hat und bis zu seinem Tod im Glauben gelassen wurde, einen Menschen auf dem Gewissen zu haben. Damit werden die Schattenseiten dieses Unterfangens herausgestellt, dem – wie ebenfalls erwähnt wird – bereits mehrere ähnliche Tunnelbauten vorausgegangen waren. Dies ist wichtig für die Einordnung dieser allzu oft einseitig zu einer klassischen Erfolgsgeschichte verklärt wiedergegeben Ereignisse, die nur mit breiter Unterstützung Kalter Krieger der BRD möglich wurden: Geheimdienste, Medien und Polizei förderten die Aktion aus ideologischen Gründen zur Schwächung der DDR. Dieser viel zu selten Beachtung findende Umstand wird jedoch leider lediglich angedeutet. Das ist schade, verhindert es doch, dass „Tunnel 57“ tatsächlich zumindest zum Einstieg in die Thematik als niedrigschwelliges Lehrmaterial für junge Schüler vollumfänglich gut geeignet wäre. Hintergründe zur Teilung Deutschlands und zum Mauerbau müssten sich indes so oder so anderweitig beschafft werden…