Auch Frankreich trug einen Stein zum Wende-Comic-Mosaik bei: Autor Olivier Jouvray und Zeichner Nicolas Brachet veröffentlichten 2014, also pünktlich zum 25-jährigen Jubiläum der Maueröffnung, ihre Graphic Novel im Delcourt-Verlag, die noch im selben Jahr von Annika Wisnieswki ins Deutsche übersetzt und im Rahmen des Förderprogramms des französischen Außenministeriums vom Avant-Verlag als rund 60-seitiger, großformatiger und vollfarbiger Hardcover-Band verlegt wurde. Damit ist „Fluchttunnel nach West-Berlin“ der bisher einzige mir bekannte ausländische Beitrag zum Themenkomplex. Jouvray und Brachet zeigen sich fasziniert vom raffiniert ausgeklügelten und mit viel Hirnschmalz und Muskelkraft realisierten Tunnelbau von West- nach Ostberlin, durch den 1964 57 Menschen die Flucht aus der DDR gelang. Dieses Ereignis inspirierte sie zu einer Geschichte, in der Kunststudent Tobias seine jüngere Schwester Hanna zu sich in die BRD holen möchte und in seinem Freund Mathias jemanden findet, der sich nach anfänglichem Desinteresse bereiterklärt, ihm zusammen mit zahlreichen weiteren freiwilligen Helfern dabei zu helfen, weil er sich in Hanna nach einem persönlichen Kennenlernen verguckt hat.

Es handelt sich also um so etwas wie eine halbfiktionale Geschichte, weshalb es im Paratext „inspiriert von wahren Ereignissen“ heißt. Diese wird in in vielen Blau- und Grautönen kolorierten, von mir als sehr hochwertig empfundenen naturalistischen Zeichnungen in abwechslungsreich gestalteten Panel Grids erzählt. Aufregung wird durch starke farbliche Kontraste illustriert. Die Grautöne kommen meist zur Darstellung der DDR zum Einsatz und folgen damit einer Stereotypisierung; die von sehr düster zu sehr hell verlaufende Farbgebung ist Teil der Farbdramaturgie. Auf Blocktext wird weitestgehend ebenso verzichtet wie in der an Handletterungen angelehnten Schriftart auf Groß- und Kleinschreibung, der eigenwillige Font bildet lediglich sämtliche „e“ und „i“ in ihren kleinen Buchstaben ab. Einige Bilder sind stark von authentischen Fotos inspiriert und wurden entsprechend zeichnerisch nachgestellt. Dies suggeriert jedoch eine Authentizität, die Jouvray und Brachet nie erreichen:

Nach den ersten drei Seiten beginnt eine Rückblende, die die Entstehung des Vorhabens aufzeigt und komplett frei erfunden ist. Zurück in der Gegenwart des Comics sind es vor allem Auslassungen, die „Fluchttunnel nach West-Berlin“ an Realismus einbüßen lassen. Auch losgelöst von jeglichem Authentizitätsanspruch wirft die Geschichte Fragen auf: Bereits die Fluchtgründe bleiben bis auf einige Anspielungen im Dunkeln. Sehr tendenziös wird die DDR als „Hölle“ bezeichnet. Es mag sein, dass sie es für einige war. Echte Gründe dafür, diese mit dem Tunnelbau verbundenen Gefahren auf sich zu nehmen, bleiben jedoch nebulös. Nicht minder unklar ist, weshalb Tobias’ und Hannas Vater als überzeugter Sozialist plötzlich so mir nichts, dir nichts alles zurücklässt und ebenfalls flieht – weshalb und wovor? Ausgelassen werden entscheidende historische Hintergründe: Tunnelbauer wie Reinhard Furrer kann man möglicherweise noch als politische Idealisten einordnen, persönliche Gründe spielten jedenfalls – anders als in diesem Comic – eine untergeordnete Rolle. Jouvray und Brachet dichten stattdessen eine flache Fluchtromantik dazu und verklären die Ereignisse damit. Mit Mathias haben sie eine Klischeefigur erschaffen, die aus Liebe vom Bad Boy zum Good Boy avanciert. Dass der Tunnelbau einer von mehreren war und von der BRD bewusst als Waffe im Kalten Krieg eingesetzt wurde, wird mit keiner Silbe erwähnt: BRD-Medien und -Geheimdienste hatten die Aktion finanziert, u.a. um Mitgliedern der reaktionären CDU zur Flucht zu verhelfen.

Den größten Fauxpas leisten sich die Autoren, indem sie den Tod des Grenzsoldaten Egon Schultz verschweigen. Dieser war, nachdem die Stasi die Fluchtversuche entdeckt hatte, bei einem Schusswechsel umgekommen. Obwohl Fluchthelfer Christian Zobel ihn lediglich angeschossen hatte – Schultz starb daraufhin durch Querschläger seiner Kameraden –, wurde Zobel im Glauben gelassen, für Schultz’ Tod verantwortlich zu sein und seines Lebens nicht mehr froh. Zu Lebzeiten erfuhr er nicht mehr, was sich nach dem Untergang der DDR herausstellte: dass die DDR-Führung dies absichtlich verschwiegen hatte, um Egon Schultz zu einem Märtyrer zu stilisieren und dessen Tod ideologisch und politisch zu instrumentalisieren. All dies waren die unmittelbaren Folgen dieser fragwürdigen Tunnelflucht, an der ich daher nichts Heldenhaftes finden und sie schon gar nicht als einseitige Erfolgsgeschichte einordnen kann, wie es die beiden Franzosen hier tun. In einem TV-Interview berufen sie sich immer wieder auf die wahren geschichtlichen Ereignisse, geben an, Fiktion und Dokumentation miteinander zu vermischen, betonen aber auch, dass es wichtig sei, zu zeigen, was passieren hätte können – dieses widersprüchliche Geschwurbel kann kaum darüber hinwegtäuschen, dass sie durch ihren Verzicht auf entscheidende historische Zusammenhänge auf ganzer Linie versagt haben. Jouvray und Brachet haben – im Prinzip ähnlich der SED, lediglich unter veränderten Vorzeichen – einen Beitrag zur Geschichtsklitterung geliefert, der die wahren Ereignisse auf unzulässige Weise verharmlost und ihnen in keiner Weise gerecht wird.

Zudem ist es ein Unding, anzunehmen, eine solche Geschichte auf nicht einmal 60 Comicseiten adäquat abbilden zu können. Das ist alles sehr schade, denn eigentlich wollte ich „Fluchttunnel nach West-Berlin“ mögen – aufgrund seines Zeichenstils, aufgrund des schönen Hardcover-Bands, den man gern in den Händen hält. So jedoch muss ich ausdrücklich vor diesem Comic warnen.