Der gebürtige Tscheche Hans Traxler gehörte zur Redaktion des „Titanic“-Satiremagazins und verdingte sich als Cartoonist, Illustrator und Autor. In seinem Buch „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“, ursprünglich im Jahre 1978 im Frankfurter Zweitausendeins-Verlag erschienen, begab er sich aufs Gebiet der „Märchenarchäologie“ und kam mit wissenschaftlicher Akribie einem handfesten Skandal und kaltblütigen Mordfall auf die Spur, den die Gebrüder Grimm mit ihrem berühmten Volksmärchen zu vertuschen halfen. Mir liegt ein Exemplar der Auflage aus dem Jahre 1988 der seit 1983 bei Rowohlt verlegten Taschenbuchausgabe vor. Über rund 120 Seiten inklusive Fotografien Peters v. Tresckows, dem originalen Märchen, Literaturverzeichnis, Zeittafel und Personen-/Sachregister erstrecken sich Traxlers Forschungen, mit denen er bei Georg Ossegg, dem Erfinder der Märchenarchäologie, anknüpfte – und die eine ganz vorzügliche Satire auf (Pseudo-)Wissenschaften darstellen.

Dass diese ursprünglich nicht als solche gekennzeichnet war und ohne jede karikierende Überzeichnung auskommt, ließ nicht wenige Leserinnen und Leser sowie Kritikerinnen und Kritiker seinerzeit glauben, es mit echten Forschungsergebnissen zu tun zu haben – zumal Traxler seiner fiktionalen Figur Georg Ossegg eine ausführliche Biographie angedeihen lässt. Traxler beherrscht den populärwissenschaftlichen Schreibstil perfekt und liefert eine schlüssig wirkende Beweiskette zutage, nach der Hänsel und Gretel eine harm- und arglose Zuckerbäckerin im Auftrag des Nürnberger Lebkuchenklüngels erschlugen. Dafür bedient er sich literaturwissenschaftlicher und eben archäologischer Methoden, fälscht historische Dokumente, zeigt bedeutungsschwangere Fotografien (die er entsprechend kontextualisiert) und gerät anfänglich vielleicht etwas zu leicht auf die richtige geographische Spur.

Jedoch ist man gern geneigt, ihm zu glauben, denn er fügt wie in einem guten Krimi ein Puzzleteil ans andere und ist einer großen Sache auf der Spur, die vor dem Hintergrund ja bedauerlicherweise ganz realer kapitalistischer Abgründe, Frauenfeindlichkeit und religiös verbrämter „Hexenprozesse“ (sprich: Folter) tatsächlich Sinn ergeben würde. Damit gerät „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“ auch ein gutes Stück weit zu einer Kritik an den Grausamkeit vergangener Jahrzehnte und deren Auswirkungen bis in die Gegenwart. Seine ganze Qualität mag dieses Büchlein, dieses Schelmenstück, entfaltet haben, als über den satirischen Gehalt noch nichts bekannt war; aufgrund Traxlers hervorragenden und sich konsequent an seinen populärwissenschaftlichen Vorbildern orientierenden Schreibstils bereitet es aber auch mit diesem Wissen diebische, kurzweilige Freude, die zugleich länger nachwirkt – und im Idealfall, gerade in Zeiten grassierender absurder Verschwörungstheorien und -ideologien, die eigene kritische Medienkompetenz zu schärfen hilft.

Nicht zuletzt ist „Die Wahrheit über Hänsel und Gretel“ bestimmt auch ein schönes Geschenk für all diejenigen, die aufgrund ihres Bildungswegs oder ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit viel zu häufig nicht ganz unähnliche, jedoch gänzlich nichtsatirische Texte zu lesen gezwungen sind…