Günnis Reviews

Monat: September 2022

24.09.2022, Schanzenviertel, Hamburg: Schanzenfest 2022

Nach fünf Jahren wurde erstmals wieder das selbstorganisierte, unangemeldete Schanzenfest gefeiert. Das bedeutet: Anwohner(innen)-Flohmarkt (der diesmal aber recht klein ausfiel), Infostände zu gesellschaftlichen und politischen Themen, Verzehrstände, Soundsystems und eine Bühne für Musik- und Redebeiträge, ohne Standgebühren und ohne von Stadtfest zu Stadtfest tingelnde Profihändlerinnen und -händler. Spenden werden gesammelt und die Gewinne mehrerer Stände guten Zwecken wie beispielsweise der Seenotrettung zugeführt. Das Motto lautete diesmal „Antifa por la vida“, man solidarisierte sich mit von Repression betroffenem antifaschistischen Widerstand im Allgemeinen und den Leidtragenden des „Antifa Ost“-Verfahrens, u.a. Lina, im Speziellen. Details zum Selbstverständnis des Schanzenfests lassen sich im offiziellen Blog nachlesen. Ich tingelte verkatert vom Vortag am frühen Nachmittag Richtung Schanze, fand auf den paar Flohmarktständen, an denen ich vorbeikam, nix für mich, suchte und fand aber schließlich die Bühne, auf der u.a. einige interessante Punkbands spielen sollten. Den HARDCHOR hatte ich verpasst, BETON DE ROUGE ebenfalls, aber SPARCLUB soundcheckten gerade. Das noch junge, weibliche Gitarre/Drums-Duo hatte ‘nen guten Sound mit schön bollerigen Drums, die den fehlenden, eiskalt weggesparten Bass zuweilen vergessen ließen. Die punkigen Riffs gingen gut ins Ohr, der oftmals zweistimmige Gesang auch. Die meisten Song waren auf Deutsch, später kamen ein paar englischsprachige hinzu. Mir hat’s gefallen, wenngleich sich gerade zum Ende hin doch bemerkbar machte, dass sich einige Songs sehr ähneln. Dafür übertrugen sich der Spaß an der Musik und die positive Ausstrahlung aufs trotz etwas Nieselregens gut gelaunte Publikum. Nach knapp 40 Minuten verließen SPARCLUB unter verdientem Applaus die Bühne. Fotos gibt’s übrigens weder von diesem noch von den weiteren Gigs, da seitens der Organisation darum gebeten wurde.

Mittlerweile war ich beim Konterbier angelangt, hatte meinen ebenfalls noch leicht verschallerten Bandkollegen Holler getroffen und konnte mich von KRATZER anbrüllen lassen. Überaus kompetenter Neo-Crust aus Hamburg, der schön böse ballerte und damit denjenigen Passantinnen und Passanten, die sich zum Wochenend-Shopping in die Straße verirrt hatten, einen wunderbaren Kontrast boten. Der Shouter hatte die Bühne verlassen, nutzte den Raum vor ihr gut aus und schaffte es tatsächlich, einige Anwesende zum Tanzen zu bewegen. Andere machten sich einen Spaß daraus, über sein Mikrokabel zu springen oder spritzten/spuckten mit Bier herum. Herrlich.

Auf diesen rund 45-minütigen Gig folgte ein 20-minütiger Wutausbruch TIÃOs, genauer: derer Shouterin/Gitarristin. Der Trend geht zum Duo, auch hier lediglich Drums, kein Bass. Aufgrund der kurzen Spielzeit habe ich dieses HC-Brett nicht komplett gesehen bzw. gehört; als ich vom Pinkeln zurückkam, war’s schon wieder vorbei. Es folgte ein großartiger Redebeitrag zum „Fall Lina“, der sehr gut aufdröselte, was da gerade im Osten vor sich geht. Solche Beiträge gab es zwischen allen Bands, wobei ich aus unterschiedlichen Gründen nicht alle mitbekam. Sie sollen wohl in Kürze größtenteils in o.g. Blog nachzulesen sein.

Mit DUNKLE STRASSEN folgte ein weiteres Duo: E-Drums aus der Konverse, Schrammelklampfe, Samples und Geschrei – da war ich musikalisch raus, sorry. Stattdessen spazierte ich noch mal ein wenig durchs Viertel. Als ich zurückkam, beendete gerade die Transgender-Künstlerin GÉRALDINE SCHABRAQUE ihr Chanson-Set, bevor die NOTGEMEINSCHAFT PETER PAN adrenalingeladen die Bühne erklomm und direkt mit der an hiesige Verhältnisse angepassten AGNOSTIC-FRONT-Nummer „HH Polizeistadt“ einstieg. Eigentlich erzählt Sänger/Gitarrist Stemmen ja ganz gerne mal bischn was auf der Bühne, was zu den NPP-Gigs schlicht dazugehört. Adrenalinausstoßbedingt schien er sich diesmal etwas zu verhaspeln und ließ lieber wieder die grobe musikalische Kelle sprechen. Vor der Bühne hatte sich inzwischen ein großer Pogomob gebildet, vereinzelte Bengalos erhellten den mittlerweile dunklen Abend. Ich bekomm’s nicht mehr ganz zusammen, aber „HH Polizeistadt“ wurde erst noch mal und am Schluss sogar ein drittes Mal, diesmal zusammen mit Ex-Sänger Sibbe, gezockt, auch ‘nen anderen Song gab’s mindestens zweimal zu hören. Der Gig wirkte punkig-chaotisch, passte damit zur vorgerückten Stunde sowie meinem persönlichen Zustand und wurde von den feierwütigen Besucherinnen und Besuchern gnadenlos abgefeiert.

Bei den JESUS SKINS war die aufgekratzte Menge anschließend in guten Händen, bereitwillig ließ sie sich das Oi!-Evangelium in Form von Songs wie „77 heißt Grüß Gott“, „Skinheads in der Kirche“, „3 Könige“ oder auch „Saufen beim Fußball“ andrehen. Die JESUS SKINS sind gewissermaßen ein Projekt, bei dem jeder mal mitmachen darf, mittlerweile sitzt Paul von DER UNFUG UND SEIN KIND und SPIKE an der Schießbude und Band-Tausendsassa Ritchy spielt Klampfe. Laut meinem Konzerttagebuch habe ich es elf (!) Jahre (!!) lang geschafft, den JESUS SKINS live zu entkommen, vielleicht, weil der Witz im Prinzip ja schon länger auserzählt ist. Aber, Alter: Alkoholisiert auf dem Schanzenfest ist das schon noch ‘ne Ansage! Und tatsächlich waren mir die meisten Texte noch geläufig, sodass ich mit ausgebreiteten Armen kräftig mitsingen konnte. „77 heißt Grüß Gott“ wurde als Zugabe noch mal dargereicht, bevor die Messe gelesen war und ein in meiner lückenhaften Erinnerung sehr guter Redebeitrag zur aktuellen Situation im Iran das Schanzenfest mit ernsten, aber auch kämpferischen Worten beendete.

23.09.2022, Monkeys Music Club, Hamburg: SPERRZONE + THE SOUL INVADERS

Der gute Maggie feierte seinen Fuffzichsten im Monkeys mit zwei befreundeten Bands, und zwar ausgerechnet an einem Abend, an dem man sich vor Konzerten in Hamburg kaum retten konnte. Das änderte aber nichts an einer gelungenen Party mit ordentlichem Besucherinnen- und Besucherzuspruch, allein schon, weil Maggies alte Heimat Hagen massiv vertreten war. Als wir eintrafen, beendete gerade ein Singer/Songwriter sein Set, der überraschend den Abend eröffnet hatte. SPERRZONE aus dem sächsischen Torgau begannen dann mit gut abgehangenem Midtempo-Punkrock mit deutschen Texten, die sowohl von einem der beiden Gitarristen als auch vom Bassisten geschmettert wurden. Man wechselte sich ab oder spielte sich gegenseitig die Bälle zu, die Gesangsharmonien saßen und korrespondierten auch gut mit den Backgrounds. Zwischendurch wurde „Little Old Wine Drinker Me“ in punkiger Version gecovert, es folgten weitere englischsprachige Songs, die dann auch mehr Schmackes hatten. „Nobody’s Hero“ der STIFF LITTLE FINGERS bot man in einer Offbeat-Version dar, eine JOHNNY-CASH-Nummer wurde verpunkt und mit VANILLA MUFFINS‘ „For What I Fight With You?“ schloss das Quartett den regulären Teil seines dann doch recht fremdkompositionsreichen Sets. Das Publikum forderte eine Zugabe, die es in Form des umjubelten STRASSENJUNGS-Covers „Ich brauch meinen Suff“ erhielt. SPERRZONE wirkten mit ihrer positiven Ausstrahlung und ebensolchen Aussagen sehr sympathisch, und an der Basslautstärke ließ sich ablesen, wer offenbar Kopf der Band ist. 😉

Die Hagener THE SOUL INVADERS stimmten ein Geburtstagsständchen für Maggie an und hauten danach so richtig auf die Kacke, wobei Sänger Böhme möglicherweise sogar noch etwas wahnsinniger als während meines letzten beigewohnten SOUL-INVADERS-Gigs im Jahre 2017 wirkte. Gut, mal war er nicht vorbereitet und wusste nicht, welcher Song kommt, mal ging’s der Band ähnlich, aber hatte man sich erst mal auf das jeweilige Stück geeinigt, wurde ein Inferno aus Punk, Rock’n’Roll und Garage entfacht, das dazu einlud, sein Hirn an die Wand zu werfen. Hier und da war auch kleine ‘ne MISFITS-Schlagseite herauszuhören. Ein von Böhme gehasster Song entpuppte sich für meine Ohren als vielleicht beste Nummer, aber das Hit-Niveau war generell hoch. Immer mal wieder wurde er vom aus Hagen mitgereisten Sänger der MAD MOISELLES unterstützt, der sich auf der Bühne ebenfalls sichtlich wohlfühlte (und bereits bei „Ich brauch meinen Suff“ während des SPERRZONE-Gigs das Mikro geentert hatte). Böhme nahm sich zwischendurch die Zeit, die Bandmitglieder namentlich vorzustellen, preschte im nächsten Moment aber schon wieder wild über die Bretter. Natürlich mussten auch hier Zugaben her; auf eine relativ neue, als Schmusesong angekündigte mit leichter Postpunk-Tendenz folgte noch eine Schunkelnummer. Herausragendes Punkrock-Entertainment einer grenzgenialen Liveband!

Danke, Maggie, für die geile Sause und die Getränkemarken! Nochmals Herzlichen und auf die nächsten Fuffzich!

Barks Library Special: Daniel Düsentrieb 3

Einer der Ableger der herkömmlichen Barks Library des Ehapa-Verlags, die sämtliche Comics des Erfinders der Familie Duck, Carl Barks, umfasst, ist die sechs Alben umfassende Daniel-Düsentrieb-Reihe, die sich ganz dem Entenhausener Erfinder widmet. Dieser mir vorliegende dritte Band der Reihe erschien im Jahre 1994 und enthält auf rund 60 Seiten sieben mehrseitige Geschichten, zwei Onepager sowie einen zweiseitigen Essay Geoffrey Blums und den ersten Teil eines Nachschlagewerks der Erfindungen Düsentriebs und ihres Auftauchens in den Comics. Das Inhaltsverzeichnis gibt zudem Auskunft über die US-amerikanischen und deutschen Erstveröffentlichungen. Einer der Onepager und eine mehrseitige Geschichte wurden hiermit erstmals in Deutschland veröffentlicht und eigens von Stammübersetzerin Dr. Erika Fuchs übersetzt. Alle Comicseiten sind koloriert.

Solche comicarchäologischen Sammlereditionen gefallen mir ja, doch als die Barks Library seinerzeit ins Leben gerufen worden war, war ich als minderjähriger Schüler finanziell viel zu klamm, um sie zu sammeln. Später hatten sich meine Interessen und Prioritäten verschoben. Diesen Daniel-Düsentrieb-Band aber habe ich in einem Tauschschrank entdeckt und mir natürlich gleich angeeignet.

Die erste (und längste) Geschichte des Bands, „Erfinderpech“, setzt sich auf humorvolle Weise mit einer Auftragsflaute beim Entenhausener Erfinder Düsentrieb auseinander und persifliert dabei zugleich die Probleme Selbständiger, einen Markt für ihre Produkte oder Dienstleistungen zu finden. Marktschreierisch zieht Düsentrieb durch die Straßen, auf der Suche nach Kundinnen und Kunden mit Erfindungsbedarf. Zweifelhaften Erfolg hat er bei Donald Duck, der eine Erfindung gegen den Lärm benötigt, den seine drei Neffen fabrizieren. Der „Schalllöscher“ verursacht jedoch mehr Probleme als er löst; das Chaos nimmt seinen Lauf, als Laub im Garten Feuer fängt. Ohne sein Helferlein, Düsentriebs vermutliche genialste Erfindung, sähen er und die Ducks ganz schön alt aus. „Erfinderpech“ warnt vorm vorschnellen Einsatz vermeintlich bequemer Erfindungen und wartet mit netten Hintergrunddetails auf, hier das Damespiel des Helferleins gegen den Duck’schen Familienhund. Die von Dr. Erika Fuchs aus Heinrich Seidels adaptierte Redewendung „Dem Ingeniör ist nichts schwör“, die sie wiederholt Düsentrieb in den Mund legte, fällt auch hier – und Tick, Trick und Track sind aufgrund identischer Kostümmützen für ihr lärmendes Spiel nicht voneinander zu unterscheiden.

Die Geschichte „Die störrische Störchin“, in der Onkel Dagobert Düsentrieb bittet, ihm bei der Umsiedelung eines Storchennests behilflich zu sein, ist von Tierliebe und Verständnis für die Natur geprägt. Die Pfadfinder vom Fähnlein Fieselschweif können helfen, aber letztendlich ist Düsentrieb der Dumme, der vor Dagoberts Geiz kapitulieren muss.

In „Wellensalat“ benötigt Oma Duck Ersatz für ihr kratzendes Grammophon von Düsentrieb, damit sie ihren Kühen weiterhin deren Lieblingsmusik ohne Störgeräusche vorspielen kann. Der Schallwellenerzeuger, den er ihr installiert, beglückt auch sämtliches andere Vieh auf dem Hof, doch das versehentlich magnetisierte Helferlein verstellt ihn durch einen Unfall, sodass furchtbarer Krach die Folge ist. Ein glücklicher Zufall ist es jedoch, dass ausgerechnet dieser infernalische Lärm fast alle Fleißarbeiten auf dem Hof wie Holzhacken und Heumähen erledigt.  Glück im Unglück bzw. der Zufall ist manchmal der beste Erfinder, was auch die Aussage dieser eher einfach gestrickten Geschichte sein dürfte.

Mit dem notorischen Glückspilz Gustav Gans muss sich Düsentrieb in „Der geborene Erfinder“ herumplagen, was zu spannenden Ansichten der Unterwasserwelt des Entenhausener Hafens führt und natürlich Gustav am Ende wesentlich mehr Ertrag einbringt als Düsentrieb. Ohne das Helferlein geht wieder einmal nicht viel, am Ende steht die Erkenntnis: „Als geborener Erfinder soll man sich nicht wie ein Geschäftsmann benehmen.“

 Einen Schritt seinem Erfinder voraus ist das Helferlein auch im titellosen ersten Onepager, im zweiten sorgt man bei einem gemeinsamen Restaurantbesuch für Verblüffung. Jenes Helferlein ist es auch, das Düsentrieb mit seiner Übersicht und einer List den Sieg beim Erfinderkongress über den unfairen Teilnehmer Herrn Murr (der starke Ähnlichkeit mit Kater Karlo aufweist) sichert – ganz ähnlich wie beim spannenden Motorbootrennen in „Eine großartige Leistung“, bei dem es den Ausfall sämtlicher erfundener Elektrotechnik kompensieren muss.

Düsentrieb ist häufig also eher eine tragische Gestalt, dem man als Leserin oder Leser aber stets gönnt, mit allem glimpflich davonzukommen – denn Böses führt er nie im Schilde, vielmehr hat er mit den Tücken seines Berufs, seinem Optimismus in Bezug auf seine Erfinderleidenschaft und zuweilen einer gewissen Zerstreutheit zu kämpfen. Die meisten Barks’schen Comics verfügen über einen entwaffnenden Humor und eine solch liebevolle Figurenzeichnung (in doppelter Hinsicht), dass sie auch Erwachsenen angenehm kurzweilige Freizeitlektüre sind – zumal sie als Teil des Entenhausener Universums einer faszinierenden Parallelwelt angehören, in die man auch im höheren Alter doch immer mal wieder gern einen Schritt setzt.

Die Entwicklung der Barks-Comics in chronologischer Reihenfolge anhand der Barks-Library-Reihe nachzuvollziehen, wäre mit Sicherheit eine spannende pop- und literaturkulturelle Zeit- und Entdeckungsreise…

16.09.2022: Hamburger Hafengeburtstag/Affengeburtstag

Erster Hafengeburtstag seit 2019, vom Mai in den September verlegt. Also lecker Spätsommer? Nix da: Hamburger Schietwetter! Zudem abgespecktes Programm, weil ohne die famose Jolly-Roger-Bühne. Dass ich mich am Freitag trotzdem auf den Weg durch den Regen machte, lag zum einen am DIY-Alternativprogramm auf der „Hafengeburtstag von unten“- alias Affengeburtstag-Bühne vorm Störtebeker und zum anderen daran, dass sich mir die Gelegenheit bot, gratis dann doch mal wieder EXTRABREIT zu sehen. Die spielen zwar, so glaube ich zumindest, immer mal wieder auf Stadtteilfesten und sowat, habe sie dort selbst mal gesehen – doch das ist gefühlt hundert Jahre her. In den letzten Jahren waren mir EXTRABREIT medial immer mal wieder über den Weg gelaufen, wenn ich mich mit ‘80er-Retrospektiven und artverwandten Formaten beschäftigt hatte. In diesem Kontext hatte ich auch meine Plattensammlung ein wenig erweitert und so letztlich richtig Bock bekommen, mir die Hagener aus heutiger Perspektive endlich mal wieder live zu geben, zumal sie auch studiotechnisch weiter aktiv sind, vor zwei Jahren das Album „Auf Ex! (weiter breiter)“ veröffentlicht haben. Als ich hörte, dass sie auf der Bühne des Radiosenders Rock-Antenne zocken würden, wusste ich, was zu tun war.

Also Landungsbrücken raus, einmal über die gesamte Veranstaltungsmeile latschen, die gegenüber 2019 noch mal gestiegenen Preise an den kommerziellen Verzehrbuden bestaunen und bei den Anarchos nahe der Balduintreppe ‘nen köstlichsten Veggie-Döner inhalieren. Und natürlich die Rock-Antenne-Bühne suchen, die ich in all den Jahren zuvor geflissentlich ignoriert hatte. Diese befand sich am anderen Ende der Meile, wo ich dann auch überraschend auf Kai Motherfucker samt Nachwuchs traf, die lässig an Balustrade lehnten, während OHRENFEINDT gerade schweinerockten. Nach zwei Sterni trennten sich unsere Wege jedoch schon wieder und ich ging hoch vors Störtebeker. Dort war ‘ne Menge los, CRACKMEIER waren just durch und INFERNO PERSONALE aus Bremen gerade beim Soundcheck. Die Band ist mit Mitgliedern aus Kolumbien, Argentinien, Italien und Deutschland international besetzt und hat letztes Jahr ihr Demotape veröffentlicht. Voll auf die Zwölf gab’s dann krachenden D-Beat-HC-Punk mit dem für diese Bühne anscheinend üblichen geil schrotenden Gitarrensound und reichlich Tempo, dazu zum Namen passendes infernales Gebrüll am Mikro. Die Klampfe hatte immer mal wieder winzig kurze Aussetzer, was am etwas zu locker sitzenden Kabel zu liegen schien, aber überhaupt nicht ins Gewicht fiel. Großartiger Gig, der leider schon nach maximal 20 Minuten vorüber war.

Während sich im Hintergrund ein Arbeiterliederchor (!) langsam mit der Bühne vertraut machte, verabschiedete ich mich langsam in Richtung Rock-Antenne-Bühne, denn um 22:00 Uhr sollten EXTRABREIT anfangen. Fünf Minuten vorher war ich vor Ort, konnte mich problemlos ziemlich weit nach vorne durchschlängeln und traf dort auf eine Gruppe Punks, die bereits vor mir dorthin aufgebrochen war. Der Regen hatte mittlerweile aufgehört, ich hatte ‘nen Vorratssterni in der Hand und pinkeln konnte man links von der Bühne ans Elbufer. Eigentlich gute Voraussetzungen, hätte nur nicht offenbar gerade erst der todlangeweile Soundcheck durch die Bühnencrew begonnen, der sich endlos zu ziehen schien. In dieser Zeit hätten INFERNO PERSONALE ihr Set locker noch zweimal spielen können und tatsächlich verpasste ich in dieser Zeit nicht nur besagten Chor, sondern leider auch die HARBOUR REBELS.

Als es endlich, endlich losging, war ich längst betrunken und in einer Scheißegalstimmung, die mich das teure Bierstandpils kaufen ließ. Die Gruppe Punks war schon längst wieder abgezogen, als EXTRABREIT mit dem gleichnamigen Song eine Art Best-of-Set eröffneten, aus dem ich längst nicht alle Nummern kannte. Weiter ging’s mit „Her mit den Abenteuern“, „Geisterbahn fahrn“ und „Glück und Geld“, bevor mit „Kleptomanie“ eine meiner Lieblingsnummern folgte (obwohl ich schon Schweißausbrüche bekomme, wenn ich ‘ne einzelne Zwiebel im Supermarkt mitgehen lasse, weil ich keinen Bock habe, ein ganzes Netz zu kaufen…). Zwei Songs später der große Klassiker „Polizisten“, inhaltlich eine der stärksten EXTRABREIT-Nummern. Allerspätestens jetzt war mir auch alles egal, euphorisiert vertrank ich mein letztes Geld und lauschte andächtig mehreren mal rockigeren, mal tanzbareren, mal bluesigeren Songs, die mir nicht sonderlich geläufig waren, bis mich das HILDEGARD-KNEF-Cover „Für mich soll’s rote Rosen regnen“ ins Jahr 1992 zurückversetzte, als das Stück im Radio rauf und runter lief und ich zwölfjähriger Bengel einen Narren an ihm gefressen hatte. Die ja irgendwie melancholische Stimmung des Songs verdoppelte sich durch den nostalgischen Effekt, den er in mir auslöste.

Weiteren Anlass zum Feiern boten neben dem HANS-ALBERS-Cover „Flieger, grüß mir die Sonne“, ohne das bis heute vermutlich keine NDW-Party auskommt, das vielleicht punkigste EXTRABREIT-Stück „3-D“, mit dem ich gar nicht unbedingt gerechnet hatte, und natürlich „Hart wie Marmelade“. Tschüs, das war’s, die Band verließ die Bühne. Es folgte das übliche Spiel: Zugaberufe, die nach ‘ner Zigarettenlänge erhört wurden, woraufhin Sänger Kai Havaii endlich von den kleinen Mädchen aus der Vorstadt berichten konnte, die heute Nasenringe aus Phosphor tragen. Für den Rausschmeißer, das eingedeutschte LOU-REED-Vehikel „Junge, wir können so heiß sein“, betrat ein befreundeter Musiker die Bühne, der an der Mundharmonika unterstützte. So wurde die Stimmung, die bei den vorausgegangenen Songs tatsächlich zu Pogo und ähnlichem Ausdruckstanz geführt hatte, wieder ein gutes Stück weit heruntergekocht, bevor man das Publikum in die Nacht entließ.

EXTRABREIT machten einen musikalisch topfitten Eindruck und Kai Havaii scheint derselbe drahtige Typ wie eh und je zu sein. Klar war das ein professionell und vermutlich entsprechend routiniert durchgeführtes Rockkonzert mit Ü40-Zielgruppe. Punk- und NDW-Klänge, textliche Provokationen und organisiertes Chaos sind längst im gesellschaftlich weitestgehend akzeptierten, eingängigen Stil der Band aufgegangen, den sie selbst schlicht als Deutschrock bezeichnet (und entweder bewusst ignoriert oder nicht mitbekommen hat, welche Konnotation dieser Begriff zuweilen annimmt, sobald er mit bestimmten Bands assoziiert wird). Spaß gemacht hat’s aber allemal, die Band wirkt sympathisch, hat ihre großen Hits und ein abwechslungsreiches Programm vorzuweisen. Für umme kann man das auf jeden Fall mal mitnehmen. Man verwies noch auf ein Konzert in der Markthalle, das offenbar am 30. Dezember stattfindet und Teil einer traditionellen „Weihnachts-Blitztournee“ ist.

Extrabreit schlenderte ich zurück zur Affengeburtstagsbühne und feierte noch die Bremer(innen) CATAPHILES ab, die sich den Gitarristen mit INFERNO PERSONALE teilen: Wavelastiger Post-/Goth-Punk mit, wie ich in dem Moment fand, geilen ‘80er-Synthie-Melodien, halligem Gesang sowie einer Nebelmaschine, die die halbe Straße einhüllte. Die Band ist noch jung, in Kürze soll wohl ein Album auf Sabotage Records kommen. Mal die Augen nach offenhalten.

Gegen 1:00 Uhr war fürs Erste Feierabend, ab Samstagnachmittag spielten noch Bands wie KONG FUSS, THRASHING PUMPGUNS, ECHOES, STRACH und KID KNORKE & BETTY BLUESCREEN – doch da musste ich passen. Schön, dass diese Bühne wieder eine echte Alternative zum offiziellen und „kommerziellen“ (relativiert sich, weil die Gigs alle gratis sind) Hafengeburtstagsprogramm bot. Vielleicht schaffe ich’s nächstes Mal auch wieder, mehr davon zu sehen.

09.09.2022, Goldener Salon, Hamburg: ORÄNGÄTTÄNG + SHITSHOW + DISILLUSIONED MOTHERFUCKERS

„Lobusch goes Hafenklang“, lautete das Motto: Ein paar im selbstverwalteten Wohn-/Veranstaltungs-/Proberaum-Komplex in der Lobuschstraße probende Bands sollten unentgeltlich im zum Hafenklang gehörenden Goldenen Salon auftreten, um das Minus, das die Covid-19-Pandemie-bedingten Schließungsphasen in die Kasse gerissen hatten, etwas abzufedern. Zusammen mit der Lobusch-Hausband JAUCHENPUMPE sollten’s derer vier werden, krankheitsbedingt blieben die o.g. drei übrig. Zusätzlich wurde eine liebevoll gestaltete Tombola mit etlichen kuriosen bis verdammt töften Gewinnen anberaumt, die auf viel Zuspruch stieß; diverse Merch-Stände rundeten das Ambiente ab. Jede Band durfte sich ‘ne XXL-Pizza beim Bringdienst aussuchen und bekam Freibier sowie zusätzliche Getränkemarken. Eigentlich alles knorke, bis auf den Umstand, dass unser Basser Holler sich die Seuche eingefangen hatte und wir daher ohne ihn auftreten mussten…

Schon am Nachmittag hatten sich meine Bandkollegen zusammen mit Teilen der Veranstalter auf den Weg gemacht, um das Equipment rüberzuwuchten und aufzubauen. Eisenkarl bastelte das Schlagzeug zurecht und trommelte sich sowie das Instrument so lange warm, bis der Sound stimmte. Ich stieß etwas später direkt von der Lohnarbeit kommend hinzu und musste diese erst mal mit ein paar Bierchen abschütteln. Der Einlass war mit 19:00 Uhr relativ früh terminiert und wurde offenbar ernstgenommen, denn überraschend schnell füllten sich der direkt an der Elbe gelegene Vorplatz und der Club.

Damit Drummer Vic, den sich SHITSHOW und ORÄNGÄTTÄNG teilen, nicht zwischen seinen Gigs pausieren muss und wir nicht als letzte Band ranmüssen, machten wir um Punkt 21:00 Uhr den Anfang. Unabhängig von Hollers Ausfall hatten wir geplant, mit unserem ehemaligen Drummer Dr. Tentakel, der in den verdienten Ruhestand gegangen war, die ersten zwei Songs zu zocken, damit er sich noch einmal vor einheimischem Publikum verabschieden kann. Für „Tales of Terror“ und „Elbdisharmonie“ wechselte also Eisenkarl an den Bass, danach wieder an die Drums und wir spielten ohne Bass weiter. Dieses Kuddelmuddel versuchte ich den Anwesenden von der Bühne aus zu erklären. Tatsächlich klappte es wie intendiert: Tentakel zockte noch mal die alten Schoten und heimste sichtlich gerührt Szenenapplaus ein. Danke, Doc!

Um den fehlenden Bass zu kompensieren, improvisierten wir im Anschluss ein wenig: Wir doppelten die tiefen Gitarrenfrequenzen, um akustisch so etwas wie einen Tieftonteppich zu suggerieren, Bass-Intro-Parts spielte Kai auf der Klampfe, Soloparts und Background-Gesang entfielen zwangsläufig. Gemessen an den Umständen funktionierte das passabel, wenn ich auch die Bühne als unangenehm leer empfand. Dass unser erst zweiter Gig seit der langen Zwangspause in einem derart gut gefüllten Saal stattfand, machte mich auch glatt wieder ein bisschen nervös. Ich kam mir jedenfalls hüftsteifer als zuletzt vor, versemmelte den letzten „Montag, der 13.“-Refrain und verschüttete ein Bier, woraufhin mir jemand tatsächlich einen Putzlappen auf die Bühne warf. Dafür stießen wir mit unserem herben Sound auf offene Ohren, erhielten Zuspruch (sowie Beleidigungen aus dem engeren Bekanntenkreis :D) und spielten zum Dank am Ende auch ohne Holler „ACAB“, jene hektisch gesungene Nummer seiner derzeit inaktiven Band PROJEKT PULVERTOASTMANN, die keinerlei Luftholen gestattet. Alles in allem dürften wir uns recht achtbar aus der Affäre gezogen haben. Krischan drehte freundlicherweise ein Video von uns und packte es auf YouTube, wo es gleich mal mit ‘ner Altersprüfung versehen wurde…

Bühne frei für Hamburgs derzeit heißesten Scheiß: Über die aus den Trümmern von SORT OF SOBER entstandenen SHITSHOW spricht man nur in Superlativen, umso gespannter war ich auf den Auftritt. Das Quartett aus Marta (ex-SORT OF SOBER, Bass), Vic (u.a. ORÄNGÄTTÄNG, Drums), Krischan (ex-SORT OF SOBER/ORÄNGÄTTÄNG, Gitarre) und Julia (Gesang) spielt ziemlich mitreißenden Punkrock der ‘77er-Schule mit ordentlich Dampf unterm Kessel, Rotz in der Stimme und Hitfaktor, sodass es nicht zuletzt aufgrund der entfesselten Bühnenshow wenig verwunderlich war, dass vor der Bühne kollektiv am Rad gedreht und ekstatisch getanzt wurde. Das eigene Material wurde mit Coverversionen von DEAD MOON und NEW ORDER (ja, „Blue Monday“!) angereichert. Die meisten Songs sind knackig kurz und bilden fettfreie Filetstücke des Rotzlöffelpunks. Bitte dranbleiben, nicht auswimpen und nicht schon nach der zweiten 7“ wieder auflösen! Die pressfrische Debüt-7“ hatte ich mir ungehört schon vorher eingesteckt und es nicht bereut. Coolste Sau des Abends war in jedem Falle Gitarrist Krischan, der von der Bühne aus verkünden konnte, bei der Tombola eine Lederjacke und damit einen der Hauptgewinne eingesackt zu haben, den er dann auch gleich stolz auf der Bühne trug.

ORÄNGÄTTÄNG sind diejenigen dieses Abends, die schon am längsten existieren, sodass die meisten gewusst haben dürften, was sie erwartet: Wie vom Affen gebissener HC-Punk mit Schrammel-Ecken und T(h)rash-Kanten, englischen Texten und seit einiger Zeit gern auch Crossdressing (das ist keine Salatsoße, sondern bedeutet, dass die drei Herren sich in Damenkleidung/-perücken/-schminke präsentieren) sowie diesmal auch einer Extraportion Bühnennebel. Dieser muss mitverantwortlich sein für die nebulösen Erinnerungen, die ich an den Gig habe… Dem Trio gelang es, das Stimmungslevel hochzuhalten, hin und wieder ließ auch ich mich in den Tanzmob schubsen. Details zum Auftritt bitte woanders erfragen; ich erinnere mich neben der exaltierten Bühnenshow noch an einen gut durchpeitschenden Sound, durch den jedoch gerade zum Ende hin der Gesang immer schwerer durchkam – was sich beim SCHLEIMKEIM-Cover natürlich relativierte, das hat jede und jeder mitgesungen. ORÄNGÄTTÄNG sind live ‘ne sichere Bank und Stimmungsgarant!

Ich blieb noch, bis es kein Bier mehr gab, und wankte dann mit meiner Liebsten nach Hause. Das war die bis jetzt vielleicht beste Party des Jahres – danke allen, die sie ermöglicht haben! Es freut mich insbesondere, dass derart viele dem Aufruf gefolgt sind und sich bei Eintritt auf Spendenbasis solidarisch mit der Lobusch und dem Ethos dahinter gezeigt haben.

Wir spielen nächste Woche Donnerstag. 22.09. noch im Viertelzimmer Münzviertel zusammen mit SOCIAL EXPERIMENT aus Schottland, bevor wir unsere Live-Aktivitäten in Hamburg für den Rest des Jahres wieder zurückschrauben.

Sören Olsson / Anders Jacobsson – Berts jungfräuliche Katastrophen

Katastrophen und kein Ende in Sicht – so nicht nur in der realen Welt, sondern auch in der relativ behüteten des pubertierenden schwedischen Jungen Berg Ljung, „Held“ einer fünfzehnbändigen Jugendbuchreihe der schwedischen Vettern, Lehrer und Schriftsteller Sören Olsson und Anders Jacobsson. Diese enthalten Berts Tagebucheinträge vom zwölften bis zum 17. Lebensjahr und bilden so etwas wie eine launige, sich eigentlich eher an Gleichaltrige richtende Coming-of-Age-Reihe, die zwischen 1987 und 1999 im schwedischen Original und zwischen 1990 bis 2005 in den deutschen Fassungen bei der Verlagsgruppe Friedrich Oetinger erschien.

Wer meine Buchkritiken verfolgt, weiß, dass es sich bei meinen Exemplaren um Tauschschrankfunde handelt, auf die ich mit durch mein Faible für comichafte, bunte Covergestaltung (auch dieses ist wieder ein echter Hingucker) und Coming-of-Age-Geschichten aufmerksam wurde, durch die ich mich bisher aber mehr durchquält habe als dass ich sie genossen hätte – was sich erst mit dem siebten Band „Berts Megakatastrophen“ änderte. „Berts jungfräuliche Katastrophen“ sind dessen direkte Fortsetzung aus dem Jahre 1995 (Schweden) bzw. 1997 (Deutschland). Einmal mehr versuchen sich Olsson und Jacobsson an der Perspektive eines (sporadisch, nicht täglich) tagebuchschreibenden Jugendlichen, um ihre Zielgruppe zu unterhalten und im Idealfall den einen oder anderen Erkenntnisgewinn zu vermitteln, ein bisschen durch die Pubertät zu helfen.

Mit rund 150 Seiten im relativ großzügigen Zeichensatz fällt dieser Band 8 wieder etwas schmaler als der Vorgänger aus. Wie üblich sorgen Sonja Härdings cartooneske Bleistiftzeichnungen für zusätzliche Auflockerung. Im Gegensatz zu Band 7 ist man (bzw. Bert) wieder dazu übergegangen, seine Einträge mit dem jeweiligen Datum zu versehen. Der Zeitraum erstreckt sich vom 25. Dezember bis zum 11. Februar. Bert ist solo, aber notgeil und macht auf cool. Sein potenzielles erstes Mal verpatzt er im Rahmen einer privaten Hausparty (dem Schrecken aller Eltern) allerdings grandios. Seine Mutter bekommt eine Midlife-Krise, seine Eltern streiten sich ständig und können nichts mehr miteinander anfangen, die Oma wird krank. Inmitten dieser Gemengelage sieht sich Bert mit typisch pubertären Irrungen und Wirrungen, einem unklaren Verhältnis zu seiner Ex-Freundin Nadja und nicht zuletzt daraus resultierenden handfesten Enttäuschungen ebenso konfrontiert wie mit sich aufgrund eigener Freundinnen abkapselnder Freunde.

Vieles wird karikierend bis nahezu satirisch überspitzt dargestellt, was gar nicht schlecht mit Berts Bemühen um Abgeklärtheit und der Weltsicht eines glücklicherweise nicht unter Halbstarkendepressionen oder dem Borderline-Syndrom leidenden Heranwachsenden korrespondiert – in dieser Hinsicht haben die Autoren das Authentizitätsproblem bewältigt, das ich mit früheren Bänden hatte. An anderer Stelle verspüre ich eben dieses dann aber doch wieder: Bert ist 15, fast 16, aber gegen Alkohol. Ist das typisch Schweden? Wohl eher nicht, sondern vielmehr ein Versuch, der schwedischen Staatsräson folgend Alkoholgenuss zu verteufeln. Kein Wunder, dass es bei Bert nichts mit dem Pimpern wird…

Dieser schließt seine Tagebucheinträge hier übrigens stets mit einem kleinen Gedicht, aber keine Sorge: Von einem Lyrikband sind „Berts jungfräuliche Katastrophen“ weit entfernt. Wie der Vorgänger endet auch diese Fortsetzung mit einem Cliffhanger, kurz vor Berts 16. Geburtstag: Wird er mit Nadja Sex haben? „Berts jungfräuliche Katastrophen“ sind ein einfaches, meist recht oberflächliches, aber durchaus kurzweiliges Vergnügen, das eine erwachsene Leserschaft in erster Linie daran erinnern dürfte, weshalb es ein Segen ist, kein Teenager mehr zu sein. Bislang der stärkste Band der Reihe.

Sascha Theisen (Hrsg.) – Nach vorne! TORWORT-Geschichten über Fußball

Der für seine Sportbücher bekannte Göttinger Die-Werkstatt-Verlag veröffentlichte im Jahre 2010 diese rund 160-seitige Anekdotensammlung, die im Taschenbuchformat 25 Geschichten aus der von Herausgeber Sascha Theisen initiierten „Torwort“-Lesereihe umfasst. Gesprochenes nun also erstmals zum gemütlichen Nach- oder Erstlesen, handverlesen, kuratiert und mit sieben eigenen Beiträgen vom Herausgeber angereichert.

Neben Theisen versammeln sich Fußballexpert(inn)en und -Fans wie Axel Formeseyn, Philipp Köster und Jens Kirschneck aus der „11 Freunde“-Redaktion, der Schweizer Fernsehreporter Peter Balzli, Humorist Fritz Eckenga, TV-Redakteurin Daniela Schulz sowie viele weitere, deren Namen dem/der einen oder anderen geläufig sein werden, vielen hingegen eher nicht, und das ist letztlich auch schnurz. In einem sind sie sich nämlich einig, und darauf kommt es hier an: Alle empfinden eine ehrliche, herzliche Leidenschaft für den Fußballsport, von spektakulären Weltmeisterschaften bis runter in die Kreisklasse. Die Schreiberinnen und Schreiber verfügen über ein hohes Maß an Selbstreflektion, das jedoch nichts an ihrer irrationalen Faszination für Tritte gegen rundes Kunstleder ändert. Diesem Umstand begegnen sie gern mit einem sympathischen Maß an Selbstironie.

Dieses schlägt sich in den überwiegend lesenswerten Anekdoten zwischen ein und dreizehn Seiten Umfang nieder, die zwischen melancholisch gefärbten Kindheits- und Jugenderinnerungen, unbändiger und ungebrochener Begeisterung(sfähigkeit) sowie lakonischem bis, wie bereits angedeutet, selbstironischem Humor pendeln. Auffallend oft wohnt ihnen das beinahe stoische Ertragen von Enttäuschung und Verzweiflung, nicht nur auf und um dem Fußballplatz herum, inne – wahre Fußballfans sind eben leidgeprüft und -fähig. Mal dominiert der Fußball die Geschichten und Geschichtchen, mal wiederum geht es eigentlich um etwas ganz anderes.

Für mich persönlich besonders heraus stechen Daniela Schulz’ Protokoll ihrer Männerfußballfan-Werdung – die sich auch nicht absurder liest als manch typisch männliche Variante klingt –, Peter Balzlis köstliche, weil pannenreiche Einblicke in seine Tätigkeit als Brasilien-Korrespondent während der WM 2006, Ben Redelings wunderbare, auch ein bisschen augenzwinkernde Ehrerbietung an Mario Krohm von Alemannia Aachen und Sascha Theisens Verarbeitung seines kindlichen Traumas, in der Halbzeit ins Bett zu müssen.

Für stumpfe Fußballprolls ist das alles nichts. Für Freunde vergnüglicher, kurzweiliger Schmöker über (vermeintliche) Nebensachen, aus denen die eine oder andere Erzählung vielleicht auch den Weg ins Langzeitgedächtnis schafft, ist „Nach vorne!“ hingegen durchaus ein Tipp.

Copyright © 2024 Günnis Reviews

Theme von Anders Norén↑ ↑