„Von allen Charlie Browns dieser Welt ist er der Charlie Brownste!“ – Linus, 1. Juli 1959
Der fünfte Band der „Peanuts“-Werkausgabe des Hamburger Carlsen-Verlags deckt die Jahre 1959 und 1960 ab und vereint in gewohnt hochwertiger Ausführung – festes mattes Kartonpapier, Hardcover-Buchdeckel, Schutzumschlag – alle in diesem Zeitraum täglich erschienenen, je vier Panels umfassenden unkolorierten Zeitungsstrips inkl. der großformatigen Sonntagsseiten in streng chronologischer Reihenfolge in ihren deutschen Übersetzungen. Inklusive des sich sehr angenehm lesenden Interviews, das Gary Groth im Juli 2005 mit Schauspielerin und Peanuts-Fan Whoopi Goldberg führte, Groths bekanntem Nachwort, dem Stichwortindex und dem ausführlichen Glossar, das popkulturelle und in den Übersetzungen verloren gegangene Bezüge und Wortspiele erläutert, bringt es auch Band 5 auf rund 330 Seiten.
„Ich mag die Menschheit… Nur die Menschen kann ich nicht ausstehen!“ – Linus, 12. November 1959
Das Cover ziert Patty, die jedoch keine allzu große Rolle spielt. Bemerkenswerter ist jedenfalls Linus, der im Februar ’59 erstmals versucht, sich seiner Schmusedecke zu entwöhnen. Kurz darauf wird es zu einem Riesenproblem, dass Charlie Brown ein Buch aus der Bücherei verlegt hat. Und im Sommer zerstören Lucy und ihr kleiner Bruder Linus sich ständig gegenseitig ihre Sandburgen. Snoopy indes entspannt mittlerweile bevorzugt auf statt in seiner Hundehütte, womit Schulz eines der unverwechselbaren Markenzeichen des Beagles etablierte. All dies steht jedoch im Schatten eines ganz besonderen Ereignisses: Am 26.05.1959 kommt Charlies kleine Schwester Sally zur Welt! Erstmals zu sehen ist sie indes erst am 23.08.1959 – und die Welt der Peanuts damit um eine Attraktion reicher.
Linus, der mittlerweile zur Schule geht, interessiert sich jedoch weitaus mehr für seine Lehrerin Fräulein Othmar, für die er überaus schwärmt und die er in höchstem Maße idealisiert. Um Halloween ’59 herum ist er übrigens tatsächlich ein paar Tage lang ohne seine Schmusedecke zu sehen und lässt sich auch später noch auffallend oft ohne sie blicken. Ob sein Glaube an den „Großen Kürbis“ ihm die Kraft dazu verleiht? Diese köstliche Persiflage auf Aberglaube führt Schulz in diesem Jahr ein und zieht reichlich Humor aus dem Umstand, dass der fantasiereiche und seiner Schwester rhetorisch schnell überlegen gewordene, aber weiterhin kindlich-naive Linus den Halloween-Brauch reichlich missverstanden hat. Charlie hadert unterdessen damit, „wischiwaschi“ zu sein, bevor bedauerlicherweise 1959 das eigentliche Weihnachtsfest gar nicht thematisiert wird. Fiel Weihnachten damals im Hause Schulz aus? Zur Tradition gereift scheinen hingegen mittlerweile Snoopys Attacken auf Linus’ Schmusedecke geworden zu sein, die sich als Running Gag durch die Strips ziehen.
Auch 1960 wird Charlie von den Mädchen massiv beleidigt und gemobbt, während sich Lucy in einem weiteren Dauerbrenner-Motiv unablässig an Schröder heranschmeißt. Im März 1960 macht Snoopy kraft seiner aerodynamischen Ohren den „Hundschrauber“ und steigt damit einfacher in die Luft als die zahlreichen Drachen, die Charlie einfach nicht zum Steigen bekommt. Beim Baseball läuft’s auch nicht besser, Charlie bleibt der ewige Verlierer, was ihm nachts sogar den Schlaf raubt. Für Freude sorgen stattdessen die Episoden um Linus’ Bibliotheksausweis, auf den er mächtig stolz ist, aber eigentlich nicht viel mit ihm anzufangen weiß. Im Juli 1960 überschlagen sich die Ereignisse: Lucy beginnt, politische Cartoons zu zeichnen, und Linus will von zu Hause weglaufen! Glücklicherweise misslingt dieses Unterfangen, sodass sich Sally im August in ihn verlieben kann – zuckersüß! Snoopy betätigt sich sportlich, indem er im Boxring gegen Linus, Charlie und Lucy antritt und zum „irren Kicker“ wird, bevor im Dezember 1960 Beethovens Geburtstag gefeiert wird.
Auffallend ist, dass auch 1960 keine Familienweihnachtsfeiern oder erhaltene Geschenke thematisiert werden. Aufgrund des Stresses, den Linus vor der weihnachtlichen Schulaufführung empfindet, scheint das Fest 1960 gar tendenziell negativ konnotiert. Im Zusammenhang mit Charlies ständigen Misserfolgen und den Demütigungen, denen er sich unverschuldet ausgesetzt sieht, ergibt sich eine Konterkarierung des Humors, eine Art gequältes Lächeln, resultierend aus Alltagssorgen, Erwartungsdruck, Versagensängsten und Gruppendynamik – idealer Nährboden also, auf dem Lucy ihr Geschäftsmodell der Freiluft-Psychologie errichtet, das hier seinen Ursprung feiert. In diesen letzten beiden Jahren des Jahrzehnts ist der Humor noch besser und bisweilen bissiger geworden. Schulz’ Figuren verhandeln einerseits Kinderthemen wie Erwachsene, sehen sich andererseits aber auch gezwungen, sich als Kinder mit Themen auseinanderzusetzen, für die sie eigentlich zu jung sind. Die Abwesenheit jeglicher Erwachsener – weder Fräulein Othmar noch irgendein Elternteil ist je im Bild zu sehen – verstärkt den latenten Eindruck, die Kinder seien auf sich allein gestellt. So bleibt viel Raum zum Philosophieren, mal beinahe altklug, mal kindlich unbedarft. Allem großartigen Humor zum Trotz endet das erste Peanuts-Jahrzehnt mit eben jener Ambivalenz, die zu Schulz’ Markenzeichen wurde und sicherlich viel über den Autor preisgibt – und über den US-amerikanischen Zeitgeist jener Jahre.
Schreibe einen Kommentar