Ich erinnere mich noch gut an Zeiten, zu denen die DDR kaum Thema im Schulunterricht war. U.a. um dies zu ändern haben Bundesstiftungen wie diejenige „zur Aufarbeitung der SED-Diktatur“ eine Reihe von Comics gefördert, die sich möglichst sachlich zumindest mit einzelnen Aspekten der DDR-Geschichte auseinandersetzen und sich effektiv als Unterrichtmaterialien einsetzen lassen sollen. Die Comicform soll dabei helfen, Berührungsängste abzubauen, niedrigschwellig jungen Lesern den Zugang zu ermöglichen und diese für die Thematik zu interessieren. Eines dieser Werke ist der rund 100-seitige broschierte Band „Grenzfall“, der im März 2011 im Avant-Verlag erschienen ist. Die Autoren und Zeichner Thomas Henseler und Susanne Buddenberg widmen sich hier der zu DDR-Zeiten oppositionellen Untergrundzeitung gleichen Namens, die es ab 1986 auf 17 in Ostberlin von der „Initiative Frieden und Menschenrechte“ produzierte Ausgaben brachte. Mitherausgeber war Peter Grimm, der an diesem Buch mitgearbeitet hat und aus dessen Sicht die Ereignisse geschildert werden. Dabei wurden „aus dramaturgischen Gründen […] Abläufe und Personengruppen zusammengefasst“, heißt es im Vorfeld.
Nach einem kurzen Prolog gibt sich der Peter Grimm des Jahres 2011 als autodiegetischer Erzähler zu erkennen, der seine persönlichen Erinnerungen schildert. Von da an werden die narrativierenden Blocktexte in Vergangenheitsform formuliert, was den Eindruck subjektiver Erinnerungsschilderungen Grimms erzeugt. Der Comic steigt im Jahre 1982 ein und zeigt, wie der mit dem System unzufriedene Peter Grimm auf die oppositionelle Familie Havemann stößt und bald ins Visier der Staatssicherheit gerät, woraufhin er vom Abitur ausgeschlossen wird und schließlich zusammen mit anderen Oppositionellen im Schutz der Kirche die Zeitung „Grenzfall“ herausbringt. Minutiös wird die gefährliche, konspirative Vorgehensweise nachgezeichnet, bis in der Nacht vom 24. auf den 25. November die Falle der Stasi, der es gelungen war, einen Spitzel einzuschleusen, zuschnappte. Durch Kontakte zu BRD-Journalisten und die daraus resultierende Berichterstattung in bundesdeutschen Medien verzeichnete die Zeitung jedoch einen Popularitätsschub und zahlreiche Solidaritätsbekundungen führten zur baldigen Freilassung der inhaftierten Untergrund-Journalisten. Die Stasi hatte damit einen Pyrrhussieg errungen; die Aktion galt als wichtiger Mosaikstein auf dem Weg zur friedlichen Revolution, aus der schließlich 1989 die Wende hervorging.
All dies wird einerseits beinahe filmisch in Form einer spannenden Geschichte aufgearbeitet, andererseits aber auch sehr nüchtern vorgegangen: Die Zeichnungen sind schwarzweiß und naturalistisch, zahlreiche Auszüge aus Stasi-Berichten und reproduzierte Originalplakate sowie teilweise 1:1 nachgezeichnete Fotografien wurden integriert und dienen als textuelle und visuelle Authentisierungsmittel. Ein bestimmte Vokabeln erläuterndes und einordnendes Glossar sowie ein Quellen- und Literaturverzeichnis dienen darüber hinaus als paratextuelle Authentisierungsmittel. Damit ist „Grenzfall“ ein schönes Beispiel für sehr exaktes Arbeiten nahe an der Realität und die Verwendung sowie Verarbeitung authentischer Quellen auch über Zeitzeugen hinaus, wodurch das Buch tatsächlich seinem Bildungsanspruch gerecht wird. Ähnlich wie bei „Kinderland“ handelt es sich um eine Entwicklungsgeschichte, wohingegen der streng naturalistische, farblose Zeichenstil sich bewusst dem Inhalt unterordnet, von dem er in seiner Nüchternheit nicht ablenken will. Das macht „Grenzfall“ auf der visuellen Ebene dann auch etwas dröge, das Künstlerische muss hinter dem Aufklärerischen zurückstecken.
Anders als „Kinderland“ wurde „Grenzfall“ jedoch auch als Erfolgsgeschichte konzipiert; der Comic endet mit der Freilassung der Inhaftierten und dem Verweis auf die Revolution 1989. So sehr sich anhand der Geschichte exemplarisch die Probleme der nichtvorhandenen Pressefreiheit in der DDR abbilden lassen, so sehr hadere ich dem suggerierten nachhaltigen Erfolg. Die während der Wendezeit aufgekeimten Hoffnungen auf einen neuen, gerechteren deutschen Staat gerade auch vieler DDR-Oppositioneller zerschlugen sich bald, die DDR bekam den BRD-Kapitalismus übergestülpt und wurde durch die Treuhand und ihre Nutznießer ausgeplündert. Die Folge waren Massenarbeitslosigkeit und Existenznöte, politische Versäumnisse, für die u.a. die Kosten der Wiedervereinigung mitverantwortlich gemacht wurden. Innerhalb dieses gesellschaftlichen Klimas erstarkte der Rechtsextremismus, der unschuldige Menschenleben forderte. Peter Grimms „Initiative Frieden und Menschenrechte“ ging im „Bündnis 90“ und schließlich in der Grünen Partei auf, die vom Frieden alsbald nichts mehr wissen wollte und sich willfährig am völkerrechtswidrigen Jugoslawien-Krieg beteiligte. Hatten die „Grenzfall“-Herausgeber dafür gekämpft?
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