Günnis Reviews

Monat: August 2024

Horst Oden – Das Horror Picture-Buch – Die besten Horrorfilme von RTLplus

Dieses ein wenig kleiner als im A4-Format gedruckte, 100-seitige Buch im Softcover aus dem Jahre 1991 mit dem seltsamen denglischen Titel ist nicht etwa ein Bilderbuch, wenngleich es innerhalb jener Fan-Buch- und Bildband-Reihe im Verlag der „edel Company“ erschien, die seinerzeit in den Musik- und Filmabteilungen großer Kaufhäuser angeboten wurde. Es erinnert an die seligen Privatfernsehzeiten, als RTLplus und Konsorten manch Genre-Film, darunter eben auch Horrorfilmen, einen zweiten Frühling bescherte. Dass ein Buch mit diesem Titel existiert, ist in Indiz dafür, welche Aufmerksamkeit die damals noch jungen Sender mit ihren Spielfilmausstrahlungen erzeugten.

Der für den bebilderten und in großzügiger Schriftgröße geletterten Textteil zuständige Autor Horst Eden beruhigt die Leserschaft im Vorwort, dass es ganz normal sei, Freude an fiktionalem Horror zu empfinden. Es folgt eine nach Jahrzehnten aufgeteilte kurze, aber jeweils auf den Punkt gebrachte und bis auf „Whales“ (statt „Whale“) meines Erachtens fehlerfreie Abhandlung über die Entwicklung des Genres. Schade, dass diese nach den 1950ern abrupt endet und Einschnitte, wie sie allen voran Roman Polanski mit „Rosemaries Baby“ verantwortete, somit ausgespart bleiben. Das matte, chlorfrei gebleichte (und gutriechende) Papier mit Schwarzweißdruck wird von einer Fotostrecke auf hochwertigem Farbpapier mit Standbildern aus diversen Horrorfilmen abgelöst, leider ohne Quellenangaben.

Kurze Kapitel geben Einblicke in verschiedene Horror-Subgenres, jedoch längst nicht alle. Oden lässt wissen, dass ihm die modernen Zombiefilme zu weitgingen und lässt sich in diesem Kontext zu einer „Man-Eater“-Diskreditierung hinreißen, obwohl es sich bei diesem gar nicht um einen Zombiefilm handelt. Die Aneinanderreihung der seines Erachtens besten Filme besteht eher aus Vorstellungen der jeweiligen Streifen, um guten Gewissens als solche zu bezeichnenden Kritiken oder gar Analysen handelt es sich dabei nicht. Zudem hat er dann doch eine äußerst knappe und willkürlich erscheinende Auswahl getroffen. Gemeinsamer Nenner scheint zu sein, dass sie alle auf RTLplus ausgestrahlt wurden. Leider fehlen dabei einige Filme, an die ich mich erinnere, sie seinerzeit erstmals auf RTLplus gesehen zu haben (z.B. „Hexensabbat“ oder Larry Cohens „It’s Alive“-Filme).

Die Tipp-, Grammatik- und Setzfehler häufen sich leider mit der Zeit, sodass das Buch einen recht unprofessionellen Eindruck hinterlässt. Es scheint mir mit Abstrichen als niedrigschwelliger Einstieg in die Welt des Horrorfilms geeignet, gerade auch für junge Menschen – zumindest zum damaligen Zeitpunkt. In seinen besten Momenten erzeugte dieser antiquarische Fund während meiner Lektüre ein wenig Fernseh- und Genre-Entdeckungsnostalgie – und Erinnerungen an die Kaufhausabteilungen mit Büchern wie diesem.

Frank Schäfer – Kultbücher. Was man wirklich kennen sollte

Kürzlich schrieb ich über Frank Schäfers im Erftstädter Area-Verlag erschienenes Werk „Zensierte Bücher“, in dem er mit einer Ausnahme (von der ich aus dem Stegreif gar nicht wüsste, um welche es sich handeln sollte) diejenigen Bücher aussparte, die der Braunschweiger Autor musik- und literaturzentrierter Sachbücher bereits in „Kultbücher“ besprochen hatte. „Kultbücher“ war im Jahre 2000 ursprünglich bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschienen, in der verbesserten, stark erweiterten Neuauflage, die Gegenstand dieser Rezension ist, jedoch erst 2005, nun ebenfalls bei Area. Der 400-seitige Umfang des gebundenen Wälzers entspricht dem von „Zensierte Bücher“, vorgestellt und besprochen werden von Schäfer sage und schreibe 71 Werke.

Einleitend stellt Schäfer acht sehr richtige Thesen zum Thema auf, um anschließend in chronologischer Reihenfolge in die Vollen zu gehen: In knapper Essay-Form kanonisierend, sortiert er die Bücher in ihren jeweiligen historischen Kontext ein. Doch handelt es sich tatsächlich allesamt um Kultbücher? Nun, mit „kennen“ meint Schäfer mitnichten „lieben“ und reflektiert seinen Kanon kritisch, statt ihn oberflächlich abzufeiern (oder „abzukulten“).

So zitiert er Arno Schmidts Herausarbeitungen der Homoerotik, die Karl May – aus bestimmten Gründen? – seiner Winnetou-Figur angedeihen ließ, und übt scharfe Kritik an Rudyard Kiplings Dschungelbüchern: „Hier wird der Lesejugend die streng hierarchische, imperialistische Weltsicht des viktorianischen Großbürgertums eingebimst (…).“ (S. 24) Hochinteressant wird es bei Karl Kraus‘ „Die Fackel“, den Schäfer als frühen Kämpfer für sexuelle Selbstbestimmung, pressekritischen Sprachkritiker und wortgewaltigen Kriegsgegner während des Ersten Weltkriegs adelt. Es geht also keinesfalls darum, einer breiten Masse liebgewonnene Bücher systematisch zu besudeln und zu verreißen. Sherwood Andersons „Winesburg, Ohio“ interpretiert er relativ anspruchsvoll philosophisch, macht klar, welch Faschist und Schlächter Ernst Jünger war, und arbeitet aus Hermann Ungars „Die Verstümmelten“ die sexualpsychopathologische und homosexuelle Ebene heraus. Walter Serners „Die Tigerin“ beschreibt er als stilistisch mutige, abseitige Liebesgeschichte mit einer im Wortsinn ganz eigenen Sprache. Den russischen „Alle Fälle“-Autor Daniil Charms stellt Schäfer als Initiator der Neuen Form vor, der unter dem stalinistischen Terror zu leiden hatte und ihn nicht überlebte. Er bricht eine Lanze für die Naivität und rührende Schönheit Pus des Bären von Alan Alexander Milne und zitiert in diesem Zusammenhang Harry Rowohlt.

Ein weiteres „Kultbuch“, mit dem Schäfer abrechnet, ist John Cowper Powys‘ „Wolf Solent“ aufgrund dessen Fortschritts- und Wissenschaftsfeindlichkeit. Wilhelm Reichs Sachbuch „Die sexuelle Revolution“ nimmt er zum Anlass, zu beleuchten, wie man Sexualrevolutionär Reich während der NS-Diktatur fertigmachte, worüber dieser anscheinend den Verstand verlor und zum Esoterikspinner mutierte. Er nähert sich James Joyces „Finnegans Wake“ an, ruft anlässlich „Ich – Arturo Bandini“ John Fante als herausragenden Literat italienischer US-Immigranten, dessen Werke auch Bukowski gefielen, ins Gedächtnis, und geht dabei auch auf Fantes Sohn ein. Antoine de Saint-Exupérys Kinderbuch „Der kleine Prinz“ klassifiziert Schäfer als Geschichte über sonderbare Außenseiter und die Kraft der Freundschaft. Woodys Guthries Autobiographie „Bound for Glory“ umschreibt er als gossenpoetisches „Sittenbild der Unterschichten in den 20er und 30er Jahren“.

Die Nachkriegszeit eröffnet Schäfer mit Salingers „Der Fänger im Roggen“, einem Bildungsroman übers Erwachsenwerden und „den Antagonismus von Kunst und Leben“. Ian Flemings „James Bond“-Romane kritisiert er für ihren Schreibstil, vor allem aber für ihre reaktionären und sexistischen Inhalte – danke dafür, Frank! J.R.R. Tolkiens „Der Herr der Ringe“ scheint nicht sein Fall zu sein, offenbar erlag er dessen Faszination nicht. (Da ich fürchte, dass es mir ähnlich erginge, habe ich es trotz gefühlten sanften gesellschaftlichen Drucks noch immer nicht gelesen.) Zurecht wesentlich mehr anfangen kann Schäfer mit Philip K. Dicks klugen Science-Fiction-Dystopien, mit denen „die ästhetische Moderne im Science-Fiction-Genre Einzug“ gehalten habe. Seinen verfilmungskritischen Passus zu „Minority Report“ kannte ich allerdings schon aus einer seiner Essay-Sammlungen. Anhand „Jerry Cotton“ bricht er eine Lanze für Heftromane und sprach mit deren fleißigstem Verfasser Friedrichs, was mir aus „Homestories – Zehn Visiten bei Schriftstellern“ ebenfalls bereits bekannt war. Und wenn mich nicht alles täuscht, habe ich in einem seiner anderen Bücher auch schon seine Auseinandersetzung mit Nabokovs „Lolita“ gelesen. Doch Redundanz ist die Mutter der Didaktik, also sei’s drum.

Ginsbergs „Howl“ hebt Schäfer als lyrisches Manifest der Beat-Generation hervor, Kerouac charakterisiert er als naiv-träumerischen, konservativ-regressiven Beat-Autor. Er kommentiert die Werke des psychisch schwerkranken Robert Lowry, um schließlich eingehender auf sein vermeintlich antisemitisches „Lebendig begraben“ einzugehen und es von diesem Vorwurf freizusprechen. Das satirische und humoristische Potenzial von „Naked Lunch“ erkennt Schäfer, bleibt aber leider eine Antwort darauf schuldig, inwieweit Borroughs „reaktionäre Anwandlungen“ gehabt habe. Sein Essay über Ken Keseys „Einer flog über das Kuckucksnest“ ist leider fast ausschließlich eine Zusammenfassung des Inhalts, zudem ohne ein Wort über die fulminante Verfilmung zu verlieren. Und kenne ich seinen Text über Anthony Burgess‘ „A Clockwork Orange“ nicht auch schon? Wie dem auch sei: Schäfer ehrt den Roman als Plädoyer für die Wahlfreiheit des Menschen und gegen Totalitarismus. Harold Brodkeys „Unschuld“ hingegen verreißt er aufgrund dessen pubertärer, dusselig verliebter Sprache – obwohl mir die Zitate sehr zusagen. Sie lesen sich wie authentisch im Affekt geschrieben. Es folgt ein Loblied auf Charles Webbs „Die Reifeprüfung“ und dessen „liberalistische Intention“. Folk-Nuschler Bob Dylans „Tarantula“ wiederum ist offenbar unlesbarer Schwachsinn, was auch Schäfer vermittelt.

Sein Text über Richard Brautigans „Forellenfischen in Amerika“ verhandelt jenes Buch als mit der Hippiezeit korrespondierende, abermalige Sinnsuche in den mythologisierten USA in Form schräger Prosa, von der Schäfer begeistert ist, bei der ich jedoch abwinke. Hubert Fichtes „Die Palette“ skizziert er als „lapidares, teilnahmsloses, wenn nicht indolentes Stenogramm“, für dessen Stil er Verständnis äußert, ihn aber trotzdem bedauert. Der gute alte Charles Bukowski gefällt ihm, und so verteidigt er ihn gegen elitäre Behauptungen, er sei ach so antiliterarisch. Aus der Beat-Anthologie „Acid“ zitiert Schäfer die unfreiwillig komisch anmutenden Thesen Staffords und kommentiert sie sarkastisch. Günther Amendts „Sex Front“ sei ein freches, gelungenes Aufklärungsbuch – und auch, wenn man längst alles weiß, könnte es offenbar Freude bereiten, es einmal zu lesen.

Schäfers Essay zu Arno Schmidts „Zettels Traum“ weist die Struktur eines Dramas auf, das ein universitäres Gespräch abbildet, in dem Schäfer in die Rolle des Germanistik-Dozenten schlüpft, weit ausholt und Schmidt ästhetischen Nonkonformismus attestiert, bevor er zu dessen Opus magnum „Zettels Traum“ kommt. Das dürfte eher nichts für mich sein, denn schon das Lesen dieses Essays voller verquaster Verklausulierungen ist unnötig anstrengend – zumal es sich seitens Schmidt offenbar um einen Versuch handelte, E.A. Poe die Ehre abzuschneiden. Immerhin äußert Schäfer Kritik an Schmidts altersreaktionären Ressentiments.

In Hunter S. Thompsons „Angst und Schrecken in Las Vegas“ erkennt er eine ambivalente Aussage, schreibt daher von einer humorvollen Drogen-Apotheose und -Kritik zugleich sowie vom Abgesang auf die Hippies. Peellaerts und Cohns „Rock Dreams“ sei gar eine Illustration des Untergangs des Rock’n’Rolls und Jörg Schröders „Siegfried“ eine bewusst trashige, anarchische, aber auch eitle Abrechnung mit dem damaligen Literaturbetrieb. Helmut Salzinger sei ein seine Hoffnung in die „Yippies“ setzender Musikkritiker und -diskutant, der auf mich aber wie ein nerviger Hippie-Laberkopp wirkt. So oder so wurde er hoffnungslos von der Zeit niedergewalzt. Jerofejews „Die Reise nach Petuschki“ ist laut Schäfer ein russischer Suffroman voller russischem Weltschmerz, über den er gern noch mehr wissen würde – wie er abschließend durchblicken lässt. Ein Kuriosum unter den „Kultbüchern“ ist Heino Jaegers „Alkoholprobleme in Dänemark“-Schallplatte (!), offenbar ein herausragend komisches Spiel mit der Sprache.

„Gedichte/Lieder“ Wolf Wondratscheks seien überraschende Gedichtbände, Verena Stefans „Häutungen“ ein anscheinend gar nicht mal so gutes erstes literarisches Werk der Frauenbewegung in den 1970ern und Raymond Federman mit „Take it or leave it“ einer der zurecht bekanntesten Vertreter der literarischen Postmoderne gewesen. Auf S. 277 war Schäfer schon beim Feierabendbier, das hoffentlich kein „Giftpils“ war. Nichtsdestotrotz arbeitet er aus Bernward Vespers „Die Reise“, eine Art stellvertretender RAF-Terroristen-Biographie, sehr schön die Ambivalenz nicht nur dieser Figur heraus. Eckhard Henscheids „Geht in Ordnung – sowieso – – genau – – -“ sei für Schäfer ein empathisches humanistisches Denkmal für dämliche Kneipen-Dampfplauderer, auch wenn sich die Zitate eher sozialchauvinistisch herablassend für mich lesen. Uli Beckers „Gelegenheitsgedichte im besten Sinne“ aus „Meine Fresse!“ betrachtet Schäfer als Porträt des desillusionierenden Teils der 1970er und Brinkmanns „katastrophistische“ Text-Bild-Collage „Rom, Blicke“ als „rücksichtsloses und nachgerade dokumentarisches Stenogramm“. „Fuck off, Amerika“ aus der Feder Eduard Limonows attestiert Schäfer, ein „emotionaler Blitzableiter, zugleich aber auch ein aufrichtiges, sich selbst nie schonendes, die eigene Hybris, Ehrpusseligkeit und Larmoyanz nie beschönigendes Protokoll einer Selbstbehauptung“ zu sein, geizt dabei aber nicht mit Kritik am Autor.

Douglas Adams‘ Science-Fiction-Komödie „Per Anhalter durch die Galaxis“ sieht Schäfer ungewohnt kritisch, Jörg Fausers „Der Schneemann“ ordnet er als etwas undurchsichtigen Schelmenkrimi und Stenogramm des Dekadenwechsels zu den 1980ern ein und Rainald Goetz‘ „Irre“ als Infragestellung der Psychiatrie, aber auch Abgesang auf salonrevolutionäre Träumereien vom künstlerischen und revolutionären Potential Irrer – mit einem schwachen dritten Teil. Jim Dodges „Fup“ sei eine Art Erwachsenenmärchen, Gibsons „Neuromancer“ darf als Cyberpunk-Pionier nicht fehlen und Bret Easton Ellis‘ „Unter Null“ ist offenbar ein „American Psycho“-Vorläufer in Sachen Abrechnung mit den Yuppies. Philippe Djians „Betty Blue. 37,2° am Morgen“ mag Schäfer sehr, unterstellt aber beinahe Voyeuristisches beim Lesen. Wolfgang Welt mit seiner „Peggy Sue“ scheint mir ein ungefickter Journalist zu sein, der seinen persönlichen Frust in Musikkritiken auf andere projiziert, woraus eine Art unsympathischer Verliererprosa wird, was Schäfer in seinem wohlwollenden Essay zumindest anklingen lässt. Bei dieser Gelegenheit: Was soll eigentlich immer dieses Abarbeiten an Heinz Rudolf Kunze? Er schenkte uns immerhin die Evergreens „Dein ist mein ganzes Herz“ und „Finden sie Mabel“ – und was danach so alles aus Deutschland die Charts erklomm, war doch wohl zu großen Teilen wesentlich schlimmer. M.A. Numminens „Der Kneipenmann“ ist laut Schäfer so etwas wie ein ehrerbietendes Soziogramm finnischer Unterschichtstrinker – und damit der Gegenpol zu Henscheid?

Joachim Lottmanns „Mai, Juni, Juli“ definiert Schäfer als ersten deutschen Poproman, ein „fulminante[s] Stück Prosa“, das „nicht nur treffsichere[s] Szene- und Zeitdokument, sondern auch postmodernes Patchwork, ein Roman aus angefangenen Romanen“ sei. In Andreas Mands „Grovers Erfindung“ erkennt er nicht weniger als die Wiederauferstehung vergessener sensorischer, emotionaler, transzendentaler Potenziale der Kindheit, einen ebenso witzigen wie soziologisch interessanten und inhaltlich wie sprachlich überaus präzisen Roman über die Kindheit in den 1960ern. Mit „Generation X“ setze sich Douglas Coupland unklug zwischen die Stühle und biete „für einen Essay (…) einfach zu wenig Analyse – und für einen Roman zu viel.“ Irvine Welshs „Trainspotting“ lasse sich als verstörende und provokante „Apologie des Drogenkonsums“ zusammenfassen und Tobias Wolff Kriegserinnerungen „In der Armee des Pharaos“ als aus einer Dummheit heraus geborenes „deutlich Grausamkeit und Sinnlosigkeit [des US-Angriffskriegs auf Vietnam] spiegeln[des]“ Buch – weshalb dieses erst so spät, nämlich 1994, erschien, erfährt man leider nicht.

Kinners, wir ham’s gleich! Die letzte Rutsche: Nick Hornbys „High Fidelity“ beschreibt Schäfer als listenreiche, kluge Pop- und Erwachsenwerdungs-Prosa, deren auch von ihm erwähnte Erzählerlarmoyanz mir jedoch derart das Vergnügen trübte, dass eine Identifikation schwer- und mir die Verfilmung daher tatsächlich besser gefiel. McNeils und McCains US-Urpunk-Oral-History „Please Kill Me” empfinde Schäfer als spannend und souverän geführt, Stuckrad-Barres „Solocalbum“ hingegen als „Zeugma-lastigen, sprachlich ansonsten uninteressanten und inhaltlich abgeschmackt-polemischen, schaumschlägerischen Poproman über einen Teil der 1990er und das Herzeleid des Erzählers – touché! Aus ungefähr diesen Gründen, die sich mit meinen Befürchtungen decken, habe ich‘s bisher nicht gelesen, obwohl es eigentlich meine Kragenweite sein sollte. Große Lyrik mit „schier überbordende[m] Storytelling sei Fredy Neptunes „Am Fleischwolf“, Poesie auf bewusst „niederer Stilebene“ Forrest Gumps und Co. über die Grausamkeit des Menschen und die für mich unvorstellbare Möglichkeit, ihm zu verzeihen. Mit J.T. Leroys „Sarah“ stellt Schäfer zudem einen „so unbeschwert“ erzählten Roman „als ginge es um Burgenbauen im Sandkasten“ über pädophile und schwule Elendsprostitution vor, der offenbar autobiographisch und -therapeutisch, in „kindlich-glättende[m], harmonisierende[m] Erzählgestus“ verfasst ist. Frank Schulz‘ „Morbus fonticuli oder Die Sehnsucht des Laien“ sei ein „ebenbürtige[r], nein, bessere[r] Nachfolger“ des „besten deutschen Trinkerroman[s] aller Zeiten“ – schade, dass er über diesen nicht auch geschrieben hat –, ein Roman über ein dem Wahnsinn verfallenden Schriftsteller, der zu lange gezwungen ist, Zeit und Talent für Anzeigenblättchen zu verschwenden.  Und noch interessanter liest sich Schäfers Abhandlung über Matias Faldbakkens seine eigene Rezeptionsgeschichte vorwegnehmenden, schwerst beleidigenden Anarcho- und Pornoroman „The Cocka Hola Company“, den ich unbedingt werde lesen müssen.

Zugegeben, mitunter spoilert Schäfer nicht zu knapp. Andererseits ist „Kultbücher“ zumindest für mich auch ein Buch, das man liest, um einen nicht unbeträchtlichen Anteil der besprochenen Bücher nicht lesen zu müssen. So manch eines macht Schäfer einem aber schmackhaft und gibt sich dabei durchaus angriffslustig und streitbar, scheut sich nicht, manch heilige Kuh zu schlachten und zitiert gern aus Kritiken, um diesen zu widersprechen. Das liest sich nicht zuletzt wegen seiner Fabulierkunst ebenso informativ wie unterhaltsam, wenn er es nicht gerade wie für ihn typisch mit den seltsamen Wörtern übertreibt: Panegyrikos (antike Prunkrede), spinozistisch (de Spinozas Lehren ablehnend/abwertend), defätistisch (resignativ), Suada (Redeschwall, Beredsamkeit) und Vademekum (Leitfaden) habe bestimmt nicht nur ich vorher nie gehört und „Fürnehmkeit“ (S. 385) muss er sich selbst ausgedacht haben, Google liefert exakt 0 (null) Treffer.

Zum Inhalt: Natürlich kann Schäfer nicht über jedes Buch schreiben, das von einer kleineren oder größeren Leserschaft zum Kultobjekt erklärt wird. Aus seiner spitzen Feder hätte ich beispielsweise aber gern auch über Christian Kracht gelesen. Dass Lovecraft komplett ausgespart wurde, irritiert mich noch mehr, und meine leise Hoffnung, dass Schäfer Stephen Kings „Es“ berücksichtigt haben könnte, wurde nicht erfüllt – obwohl durchaus Parallelen zwischen Schäfers sporadischem belletristischen Schaffen und Kings Coming-of-age-Epos erkennbar sind. Davon unabhängig überwiegt bei Weitem der positive Eindruck, den die „Kultbücher“-Lektüre hinterlassen hat, denn dümmer macht sie ganz bestimmt nicht. Und Respekt dafür, all diese Bücher wirklich gelesen zu haben…

Mad-Taschenbuch Nr. 24: Mad-Reporter Dave Berg betrachtet das Leben

Das dritte Mad-Taschenbuch des New Yorkers Dave Berg stammt im US-Original aus dem Jahre 1973, die deutsche Ausgabe wurde 1979 veröffentlicht. Die gewohnten rund 160, leider erneut unnummerierten Schwarzweiß-Seiten sind in die fünf „Abteilungen“ (= Kapitel) „Schul-Leben“, „Zusammen-Leben“, „Berufs-Leben“, „Überleben“ und „Alltags-Leben“ unterteilt, was aber lediglich eine grobe Sortierung der ein bis zwei Panels pro Seite umfassenden, karikierend überspitzten Alltagsbeobachtungen Bergs in seinem charakteristischen halbrealistischen Zeichenstil bedeutet. Ich habe hier bereits drei andere Bücher Bergs besprochen und kann mich eigentlich nur wiederholen: In seinem realitätsnahen, bodenständigen, aber sehr sympathischen Humor treffen Zeitkolorit (Hippies, antiautoritäre Lebensentwürfe, Populärkultur) auf zeitlose Widersprüche und Macken (zwischen-)menschlichen Verhaltens, auf Generationskonflikte und den ganz normalen alltäglichen Wahnsinn. Berg versteht es, seine Pointen in kurzen Cartoons zu zünden und scheint immer so etwas wie die Stimme der Vernunft innerhalb des Mad-Chaos-Kosmos zu sein.

Damit dürfte ich hier jetzt die ersten 40 Mad-Taschenbücher allesamt vorgestellt haben. Es existieren 33 weitere, die mir mittlerweile ebenfalls komplett vorliegen sollten. Ich freue mich auf deren Lektüre und werde weiter berichten.

Der Winterabend-Krimi – Knisternde Spannung für die langen Nächte

Meine Oma las für ihr Leben gern Krimis. Also schenkte ich ihr irgendwann als Kind, es müsste 1990 oder Anfang der 1990er gewesen sein, diesen rund 400-seitigen Taschenbuch-Schmöker aus dem damals renommierten Scherz-Verlag (der sich entgegen seinem Namen nicht etwa auf humoristische, sondern auf Kriminalliteratur spezialisiert und zahlreiche britische Krimis nach Deutschland gebracht hatte) aus dem Jahre 1990 zu Weihnachten. Das hatte sich aufgrund des Titels und der, wie ich finde, recht hübschen Aufmachung angeboten, zumal konnte ich ihn mir für die 9,80 DM, die der Verlag aufgerufen hatte, von meinem Taschengeld leisten. Etliche Jahre nach ihrem Tod kam das Buch – zusammen mit zahlreichen anderen – zu mir zurück. Ihm ist anzusehen, dass sie es gelesen hat, und im vergangenen Winter tat ich es ihr um die Weihnachtszeit herum gleich.

Fast wie ein Adventskalender bringt es diese Zusammenstellung auf 20 Geschichten verschiedener Autorinnen und Autoren unterschiedlicher Länge, ausgewählt von Gisela Eichhorn:

Patricia Highsmith – Variationen über ein Thema
Spannend und unvorhersehbar geschriebene Dreiecksgeschichte um eine herrliche irre Femme fatale mit fieser Pointe.

Agatha Christie – Vierundzwanzig Schwarzdrosseln
Hercule Poirot erkennt als Einziger einen Mord im Tode eines Sonderlings. Typischer Christie-Stoff – und es geht viel ums Essen.

Roald Dahl – Lammkeule
Eine Frau erschlägt ihren Mann mit einer gefrorenen Lammkeule und verfüttert das Mordwerkzeug anschließend in zubereiteter Form an die Ermittler. Bezieht seine Spannung daraus, was ihr Motiv war – der Mann hat ihr irgendetwas eröffnet, aber man weiß nicht, was. Dies wird aber leider nicht aufgelöst.

Charlotte Armstrong – Kein gewöhnlicher Montag
Breitet recht langatmig anlässlich des Todes eines wehleidigen alten Muttchens ein kompliziertes Familiengeflecht aus, innerhalb dessen die Protagonistin sich auf der Spur einer Verschwörung wähnt.

Bill Pronzini – Das Netz
Auftragsgangster rennt seinem Geld hinterher und kommt dabei einem Mörder auf die Schliche. Gelungen.

Romain Gary – Ein Humanist
Bitterböse und zynisch, zugleich Ehrerbietung an die großen Klassiker der Literatur und Abgesang auf den Humanismus während des Zweiten Weltkriegs.

Ron Goulart – Der Sarg wartet schon
Hübsch makabre Geschichte auf „Geschichten aus der Gruft“-Niveau um fanatische Sammler von Horrorfilm-Devotionalien.

Margaret Millar – McGownyes Wunder
Weist einen etwas poetischeren Stil als die bisherigen Geschichten auf und weiß zu gefallen. Eine erneut makabre Geschichte über eine fehlende Leiche, eine dann doch nicht Tote und eine schräge Liebe mit mehrdeutig interpretierbarem Ende.

Peter Lovesey – Ein vermögender Mann
Lovesey schreibt böse moralisch/moritatisch über Ahnenforschung und Betrugsversuche – mit offenem Ausgang, den man sich aber denken kann.

Stephen Wasylyk – Immer Ärger mit Walter
Schwarzhumorige Moritat über den Mordversuch an einem nervigen Nassauer aus der eigenen Verwandtschaft.

Dorothy Salisbury Davis – Bis daß der Tod uns scheide…
…spielt im Schriftsteller-Business und hat in der deutschen Übersetzung leider ein schlechtes Korrektorat erfahren: Zeichensetzung, Grammatik, Tippfehler wie „Anwald“, „kittis“, „überlasseln“ – das ist umso ärgerlicher, als es in der Geschichte u.a. um überarbeitungswürdige Manuskripte geht. Diese dreht sich um eine toxische Ehe und einen Mord, von dem man zwischenzeitlich glauben gemacht wird, der Ehemann wolle ihn begehen, es dann aber doch anders kommt, und ist langatmig sowie kompliziert konstruiert. Generell finden sich in diesem Buch ein paar holprige Übersetzungen aus dem englischen Original (statt „entgegnete“ heißt es bspw. ständig „versetzte“) sowie der eine oder andere orthographische Fehler.

Edward D. Hoch – Vor die Hunde gegangen
Hoch gewährt Einblicke ins Hunderennen-Wettmilieu, sehr klassisch britisch.

Jack Ritchie – Herzlich willkommen im Kittchen
Zynische Story um einen korrupten Gefängnischef – grandios!

Jonathan Craig – Nenn mich Nick
Hier geht es schwarzhumorig nach dem Motto „Hell ain‘t a bad place to be“ zu, erhält nach einem Mord und einer Wendung aber leider doch noch eine ganz andere Tendenz.

Pauline C. Smith – Russisches Roulette
Ein aus Sicht des ermittelnden Polizisten geschilderter Fall eines ebenso bizarren wie perfiden Selbstmords, bei dem ein etwas einfältiger Arbeiter benutzt wurde, damit der Selbstmörder sich an ihm rächen kann.

Ursula Curtiss – Schneeball
Curtiss fügt die Vorgänge um ein Verlegerehepaar, das sich hasste, eine einsame Blockhütte im Schnee, einen vermuteten Mord, eine Katze und eine Leiche, die erst ganz am Schluss gefunden wird, zu einer unterhaltsamen Kriminalschnurre zusammen.

Joyce Harrington – Vogelperspektiven
Eigenartiger, aber spannend erzählter Psycho-Thriller um zwei Freundinnen und einen Künstler mit Vogelmanie, der Frage danach, wer in seinen Ausführungen Recht hat, und einer leider schwachen, mysteriösen Pointe, die sich mir nicht ganz erschlossenen hat.

Robert L. Fish – Mondscheingärtner
Kleinstädtisch und schwarzhumorig schreibt Fish von einer verschwundenen Ehefrau und wartet mit einer überraschenden Pointe auf, die sich aus der Lektüre aber kaum erklären oder ableiten lässt… oder?

Lawrence Block – Paß in Ordnung
Ein Pärchen versucht den perfekten Mord. Was sich zunächst wie eine Bonnie-und-Clyde-Romanze liest, entpuppt sich nach einer Wendung als zynisches, abgekartetes Spiel.

Gerald Tomlinson – Reingelegt
Launiges Schelmenstück über einen frustrierten Schreiber, der die Öffentlichkeitsarbeit an einem College mit rekordverdächtig schlechter Football-Mannschaft betreibt und kurzerhand ein anderes, wesentlich erfolgreicheres Provinzteam eines fiktiven Provinzcolleges erfindet.

Hat alles in allem Spaß gemacht, denn auf eine schwächere Geschichte folgt meist wieder eine stärkere, die die vorausgegangene vergessen lässt, und der Leseeifer wird mit der einen oder anderen Perle belohnt. Zudem bietet diese Sammlung einen netten Überblick über das Genre im Kurzformat.

25.-27.07.2024, Brande-Hörnerkirchen: HEADBANGERS OPEN AIR

Nachdem meine Liebste und ich 2018 zum bisher ersten und einzigen Mal das Headbangers Open Air im schleswig-holsteinischen Dorf mit dem Metal-Namen Brande-Hörnerkirchen besucht, uns dort ziemlich wohlgefühlt hatten und erschwerend hinzukommt, dass ich mal wieder Bock auf ein lauschigeres, kleineres Festival frei von jedweder Gigantomanie habe – und mich dann auch noch das Programm diesmal ziemlich reizte –, machen wir dem HOA unsere zweite Aufwartung. Da wir wie üblich keinen Bock auf Zelten haben, organisiere ich eine Unterkunft in Bokel, ein Dorf weiter. Mit unseren sieben Sachen machen wir uns am sehr sonnigen Donnerstag von Hamburg-Altona aus mit der Nordbahn auf den Weg und können bis Dauenhof durchfahren, wo uns ein Shuttle-Service in Empfang nimmt, der uns freundlicherweise nicht auf dem Festivalgelände, sondern am Dorf-Edeka absetzt, wo wir Frühstückszeug einkaufen und uns anschließend per pedes zur Unterkunft begeben. Diese entpuppt sich als derart idyllisch gelegen und luxuriös ausgestattet, dass sie nur zum Pennen eigentlich viel zu schade ist – und unser Gastgeber ist auch noch selbst Metal-Fan, Plattensammler und Besucher des Festivals. Die Entfernung zum Festival beträgt 3,8 km, was in etwa der Strecke zwischen Zeltplatz und Bühne auf herkömmlichen Festivals entspricht. Und da, wie wir erfahren müssen, der örtliche Taxidienst letztes Jahr pleitegemacht hat, müssen wir diese auch latschen.

 

Tag 1: Sodomy and Dust

Durch die eine willkommene Abwechslung zum urbanen Alltag bietende Landschaft, die Wege vorbei an Pferden, Kühen und Getreidefeldern, ist das aber alles andere als unangenehm, zumal wir’s schon von unserem vorausgegangenem Besuch gewohnt sind. Wir legen eine Punktlandung hin, indem wir um Punkt 15:00 Uhr auf dem Gelände eintreffen. Also flugs Bändchen geholt und Programmheft eingesackt, die lokale Spezialität Kirschbier bestellt (alles ohne jegliche Wartezeiten) und ab vor die Bühne, deren großes Dach sowohl vor der knallenden Sonne als auch vor etwaigem Regen schützt! Dort spielt seit ein paar Minuten der traditionelle lokale Opener, diesmal B.S.T. aus Hamburg mit deutschsprachigem Brachial-Doom – kehliger Gesang, schleppend und runterziehend. Gut, ein englischer Song ist auch darunter. Das ist sicherlich kompetent gezockt, aber halt so gar nicht mein Ding. Es haben sich indes schon reichlich Fans eingefunden, denen das gefällt – und es sei ihnen gegönnt!

Die serbische Band CLAYMOREAN existiert schon seit Mitte der ‘90er, allerdings ohne, dass ich sie auf dem Schirm gehabt hätte. (Edit: Zumindest der Song „Mystical Realm (Deorum in absentia)“ ist Teil einer meiner selbst zusammengepfriemelten Metal-Playlists, wie ich im Nachhinein feststelle.) Ihr Power Metal weist als auffälligstes Alleinstellungstellungsmerkmal Sängerin Dejana auf, die zwischen Klargesang und heiseren Screams changiert. Diese animiert das Publikum zum Mitsingen, Fistraisen und Heyen und die flotteren Songs gefallen mir ganz gut, die teils von beiden Gitarristen abwechselnd gezockten Soli ebenfalls. Der nominell letzte Song wartet mit coolen mönchschoralähnlichen Backgroundgesängen auf und anschließend ist sogar noch Zeit für ‘ne Zugabe, die Mark „The Shark“ Shelton von MANILLA ROAD gewidmet wird, der seinerzeit 2018 leider nach seinem HOA-Auftritt verstarb. Gelungener Auftritt, ich komme auf Temperatur.

HIGHWAY CHILE stammen nicht etwa aus Südamerika, sondern aus Holland, brachten es zwischen 1983 und 1991 auf drei Langdreher und veröffentlichten 2008 ein Comeback-Album. Von all dem kenne ich aber nichts und der Midtempo-Hardrock klingt für unsere Ohren eher belanglos. Doch was wissen wir schon, denn die Leute finden’s super. Anscheinend wird eines der Alben in voller Länge gespielt. Die zwei, drei Uptempo-Nummern laufen mir dann auch doch ganz gut rein, vor allem der vorletzte (oder letzte?) Song entpuppt sich als Hit. Kommen auf meine Noch-mal-reinhören-Liste.

TAILGUNNER aus dem UK zählen zu den jungen Wilden im klassischen Metal, letztes Jahr erschien ihr Debüt-Album „Guns for Hire“. Die vier Jungs und die Gitarristin wollen’s wissen und knien sich ordentlich rein, so ist dann auf der Bühne auch gleich bischn mehr los. Als dritten Song covert man den Überhit „Beast in the Night“ von RANDY, den Angeberspot mit schrottigen Gitarrensoli hätte es für so’nen Festivalauftritt hingegen nun wirklich nicht gebraucht. Das gilt auch für Synchronklampfengepose und alberne Choreos, aber, jut, wenn’s Spaß macht… Mich überzeugt man schon eher mit den hymnischen Refrains, wie beispielsweise in „New Horizons“. Das Publikum dankt es (ähnlich wie zuvor bei CLAYMOREAN) mit „Tailgunner!“-Sprechchören und wird im Gegenzug zu Whohoho-Chören während „Revolution Scream“ animiert. Generell versucht man den Mob vor der Bühne mittels massiver Animationen weitestmöglich miteinzubeziehen. Das „Painkiller“-Cover schließlich ist sehr souverän gesungen, nur das Riff ging im Soundgewand der Band etwas unter. Das Publikum hat man im Sack und beim Abbau ertönt aus der Konserve „Hurry Up Harry“ von SHAM 69. Gute Wahl und ein durchaus beeindruckender, energetischer Gig. In die Platte höre ich doch glatt noch mal rein.

Das Rabiatheitslevel wird anschließend durch die Landsmänner von GAMA BOMB (aus denen die Autokorrektur meiner Notiz-App „Gamaschen Bomb“ macht) weiter gesteigert, ebenso die Bühnenaction: Mit punkigem Thrash wird kräftig Alarm und Party gemacht, ein Monster torkelt auf die Bühne, trockenes Shouting trifft auf hohe Screams und natürlich Riffs galore. Die Ansagen werden stets kurzgehalten, bevor’s mit full speed ahead weitergeht, mit einer Ausnahme: Für die Ankündigung eines antifaschistischen Songs nimmt sich Sänger Philly etwas mehr Zeit und formt anschließend eine Wall of Death. Mit dem THE-POGUES-Cover „If I Should Fall From Grace With God” läutet man nur scheinbar so langsam das Ende ein, denn es gibt immer noch ‘nen Song, und noch einen usw… Auf Platte sind mir GAMA BOMB etwas zu gleichförmig, und so super abwechslungsreich klingen sie hier nun auch nicht gerade, aber die Show ist spitze, mitreißend und macht Bierdurst.

Meine Vorfreude auf die belgischen EVIL INVADERS ist immens, denn obwohl das Quartett nicht gerade spiel- und tourfaul ist, liegt mein letzter Gig schon viel zu lang zurück. Das ist eine Band, die beim Blick aufs heurige Line-Up mit den Ausschlag für den Ticketerwerb gab, und erwartungsgemäß ließen die Speedster es ordentlich krachen. Die Songs vom aktuellen Album sind auch live klasse, die älteren natürlich auch – da ist’s fast ein bisschen schade, dass man mit „Witching Hour“ (VENOM) und „Violence and Force“ (EXCITER) gleich zwei Coverversionen integriert. Dafür bekomme ich aber endlich mal wieder meinen Uralt-Überfavoriten „Tortured by the Beast“ um die Ohren gehauen. Mittlerweile ist’s dunkel geworden, was die großartige Lightshow voll zur Geltung bringt, wenn sie nicht gerade von kiloweise Rauch und Nebel torpediert wird – was es natürlich umso geiler macht. Leider übertreibt man es beim Sound mit dem Hall, wodurch alles ein bisschen verwaschen klingt und Joe Anus‘ herrlich asoziales Gekreische etwas untergeht. War der eigentlich schon immer so spindeldürr? Junge, iss ma‘ wat! Zur Übertreibung neigt man auch beim Posing, insbesondere wenn Joe am Schluss seine Klampfe wie seinen Schwanz behandelt und einen, äh, Höhepunkt simuliert – „Gitarrengewichse“ etwas zu wörtlich genommen…

Fast schon unprätentiöses Understatement ist dagegen das, was Sodom als Headliner des Abends abliefern. Nach dem „Klash of the Ruhrpott“ ist das mein zweiter SODOM-Gig innerhalb einer Woche, und tatsächlich variiert die spielfreudige aktuelle Besetzung um Tom Angelripper, Veteran Frank Blackfire und die beiden Jüngeren Toni Merkel und Yorck Segatz erneut die Setlist, die mittlerweile mehr und mehr einer Wundertüte gleicht und damit jeden SODOM-Gig unvorhersehbar und interessant macht: Mit einem meiner (so vielen…) Lieblingssongs „Christ Passion“ steigt man nach dem Instrumental „Procession to Golgatha“ ein, spielt Songs von acht bis neun verschiedenen Platten, liefert sich Frotzeleien untereinander, gräbt die uralte Demo-Kamelle „Let’s Fight in the Darkness of Hell“ (!!!) aus, weil noch die Zeit dafür ist, obwohl „Agent Orange“ schon angesagt worden war, haut „Leave me in Hell“ als VENOM-Hommage (und damit zweites VENOM-Cover des Festivaltags) raus – und gibt sich zwischen den Songs ganz entspannt, bodenständig und publikumsnah. Tom kritisiert die hohen Getränkepreise auf dem Klash und reicht immer wieder Getränke, einmal sogar eine Kippe von der Bühne herunter, nachdem er eine kurze Pause brauchte, weil er schließlich „nächstes Jahr 48“ werde (*räusper*), lobt das Ambiente dieses kleineren Festivals, auf dem er lieber spiele als vor 100.000 Leuten, und wird ein bisschen wehmütig, als er sagt, dass er die ‘80er vermisse. Wir alle, Tom, wir alle! In Sachen Lightshow und Nebel bekommt man auch hier einiges geboten, beim Sound hätte ich den Hall ein My zurückgedreht und die Snare etwas leiser, dafür Toms Gesang entsprechend lautergefahren. Aber das ist (noch nicht mal) Jammern auf hohem Niveau. „Ausgebombt“ geht nahtlos in „Bombenhagel“ über, womit der härteste Song des Festivals diesen trotz Krieg, Tod und Teufel herzerwärmenden Auftritt beschließt und aus der Konserve wie gewohnt das Steigerlied erklingt. Glück auf!

Am Ende des ersten Festivaltags ist es noch immer recht warm; in unseren Nasen sammelt sich der Staub, der vor allem bei GAMA BOMB und SODOM aufgewirbelt wurde. Wir trinken noch ‘nen Absacker und machen uns zu Fuß auf den Weg zur Unterkunft. Währenddessen beginnt es tatsächlich zu regnen, allerdings nicht unwetterartig, also ohne Weiteres auszuhalten – und sogar ganz angenehm. Ein bisschen erschöpft fallen wir in die Koje.

 

Tag 2: The Boys Are Back In Town

Am nächsten Morgen frühstücken wir erst mal in Ruhe und erfahren währenddessen über Facebook, dass die Spanier IRON CURTAIN von einem Flugausfall betroffen sind und deshalb nicht wie ursprünglich geplant um 16:40 Uhr, sondern erst am nächsten Morgen zur Frühstückszeit um 10:45 Uhr auftreten werden! Den eigentlichen Slot übernehmen ARKHAM WITCH, die eigentlich um 12:00 Uhr den Reigen eröffnen sollten. Der Beginn verschiebt sich daher auf 13:05 Uhr. Daraufhin starten wir allerdings derart entspannt in den Tag, dass wir die nun erste Band, die polnischen HELLHAIM, leider glatt verpassen und erst zu ihren Landsleuten ROADHOG eintreffen. Diese zocken guten traditionelle Metal ohne Gekreische. Wenn ich das richtig mitgeschnitten habe, kommt für einen Song der HELLHAIM-Sänger auf die Bühne und singt mit. Für „Liar“ wird zum Circle Pit aufgerufen, aber dafür ist’s noch ein bisschen zu früh. Der Song jedoch kann definitiv wat. Ein angenehmer Einstieg in den musikalischen Teil des Tages für uns. Und mit dem Œuvre der Band werde ich mich mal beschäftigen (ebenso mit dem HELLHAIM‘schen).

Bühne frei für SPELL: Das mir bis dato unbekannte kanadische Quartett, das offenbar einst als Duo gegründet wurde, jagt erst mal eine alte Jazznummer oder so durch die Konserve und legt dann mit einem sehr eigenwilligen Sound, einer Art Mischung aus ‘70er-Hardrock, klassischem Metal und ‘80er-Synthie-Sounds, los. Der bassspielende Sänger hat eine sehr gewöhnungsbedürftige Fistelstimme, die zudem oft daneben liegt – klingt echt schräg. Es lohnt sich aber, nicht gleich Reißaus zu nehmen, denn nach und nach offenbaren sich einem einige wirklich schöne Melodien, an der Gitarrenarbeit gibt’s zudem nichts zu mäkeln. Eines der Bandmitglieder bedient mal den Oldschool-Synthesizer, mal die zweite Klampfe oder auch beides parallel. Ein langsamer, getragener Song ist fast schon Pop, aber in gut! Eine Gastgitarristin namens Alison Hell (ANNIHILATOR, anyone?) stößt fürs THE-DEVIL’S-BLOOD-Cover „A Waxing Moon Over Babylon” hinzu. Dabei gibt’s zunächst technische Probleme, während derer Teile des Publikums die Band mit „Spell! Spell!“-Rufen anfeuern, und in deren Anschluss man eine sehr gelungene Version des Songs mit sehr charakteristischem Gitarrensound zu hören bekommt. Beim letzten Song „Watcher of the Seas“ spielt sie dann kurzerhand auch gleich mit. Auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Werde mich mal in die Alben reinhören. Vor allem diesen „Popsong“ muss ich finden… [Edit: Gefunden! „Dawn Wanderer“]

ARKHAM WITCH aus Keighley (West Yorkshire) tun mit einer komplett weiblichen Rhythmusfraktion etwas für die ansonsten etwas magere Frauenquote auf der Bühne und treten mit einem jungen Sänger an, der seine Sache formidabel macht. Der sich beim doomigen klassischen Metal und der NWOBHM bedienende Sound der Band läuft ganz gut rein, das punkige Uralt-Stück „We’re From Keighley“ (mit schönem „Fuck you, we’re from…“-Mitgrölrefrain) sorgt für Abwechslung, man covert „I Love The Lamp“ von THE LAMP OF THOTH, mit denen es Personalüberschneidungen gibt, besingt „Viking Pirates of Doom“ und den „Death by Heavy Metal“, bis man als Zugabe die punkige Anti-„Star Wars“-Nummer „Droid Fucker!“ auspackt.

Wir bleiben in England, begeben uns aber in die Abteilung sinnloser Umbenennungen: TRÖJAN aus der NWOBHM-Spätphase hatten sich für ihr zweites (und bis dato letztes) Album in TALIÖN umbenannt, für ihr Comeback aber wieder den alten Namen angenommen. Demnächst soll tatsächlich ein brandneues Album folgen; selbstbewusst steigt man mit einem Song von diesem ins Set ein, in dessen Verlauf zwei weitere neue Nummern präsentiert werden. Die ersten Songs sind sehr speedig, das Instrumental „Speed Thrills“ verschafft Sänger Graeme Wyatt eine Verschnaufpause (für die er kurz von der Bühne verschwindet). Die hat er sich mehr als verdient, denn seinen durchdringenden hohen Gesang beherrscht er absolut perfekt und schließt man die Augen, glaubt man, es stehe ein junger Hüpfer auf der Bühne! Bis auf anscheinend den dreadgelockten Drummer sind auch seine Kollegen älteren Semesters aus der Originalbesetzung, aber gemeinsam legt man einen Mördergig hin, dessen Höhepunkt mein Favorit „Chasing the Storm“ ist, der als vorletzte Nummer gezockt wird. Respekt! Da freut man sich doch umso mehr aufs neue Material. Eine meiner positivsten Überraschungen auf diesem HOA.

Bei den als RUNNING-WILD-Tributband (der mittleren Phase) gestarteten BLAZON STONE hat sich, seit ich sie zuletzt sah (nämlich exakt hier 2018), das Besetzungskarussell kräftig gedreht, von damals ist offenbar nur noch die Gitarrenfraktion um Bandgründer Ced Forsberg übriggeblieben. Damals war dessen Bruder am Gesang, nun haben sich die Schweden mit dem Finnen Matias Palm verstärkt. Seinerzeit hatte ich noch geargwöhnt, die fetten Chöre seien anscheinend aus der Konserve gekommen, was diesmal definitiv nicht mehr der Fall ist. Der erste Song klingt noch ein bisschen nach SANTIANO auf Metal, aber was die Gitarristen hier im weiteren Verlaufe auffahren, ist die pure Spielfreude, die gern in doppelte Leads mündet. Matias fehlt das Kehlige, Verrauchte, Bluesige in der Stimme, was RUNNING-WILD-Cheffe Rock’n’Rolf mitbringt; aber nicht, dass wir uns missverstehen: Ein hervorragender Metal-Sänger ist er zweifelsohne. Generell scheint mir der eine oder andere Song eher in einer etwas höheren Tonart angesiedelt zu sein als die mir bekannten alten RUNNING-WILD-Schoten. Hier und heute gibt’s viele Speed-Nummern und viel Melodie, wobei mir der bis zum Schluss zurückgehaltene „Stand Your Line“ vom Debüt am besten gefällt. Mit „Down in the Dark“ hat man sogar noch eine Zugabe parat. Seine Texte scheint Matias zumindest zeitweise vom Bühnenboden abzulesen – kein Wunder, wenn man in vier Bands gleichzeitig spielt…

DUST BOLT aus Bayern spielen einen etwas moderneren Thrash-Sound mit zwei Klampfen, das jüngste, mittlerweile fünfte Album erschien im Februar. Ist nicht 100%ig meine Mucke, macht live aber einiges her. Als eine Saite riss (oder so), muss man etwas Zeit überbrücken, zieht ansonsten aber konsequent durch. Während eines Songs begibt sich, wenn ich das richtig mitbekommen habe, Sänger und Gitarrist Lenny in die Mitte eines amtlichen Circle Pits, um dort weiterzuzocken. Gegen Ende packt man reichlich Kunstnebel aus und beendet den Gig mit dem NEIL-YOUNG-Cover „Keep On Rockin In The Free World“, das mit schweren lauten Gitarren einfach geil klingt und von der Meute begeistert mitgesungen wird.

Als ich im Vorfeld gesehen hatte, dass THIN LIZZY alias BRIAN DOWNEY’S ALIVE AND DANGEROUS auf dem HOA spielen würden, war das neben EVIL INVADERS, SODOM und PYRACANDA einer der Gründe, mir ‘ne Karte zu besorgen. Denn obwohl ich kein ausgewiesener LIZZY-Fan bin, hat mich das, was ich vom Auftritt auf dem Rock-Hard-Festival letztes Jahr noch mitbekommen hatte (fußballbedingt nur ungefähr das letzte Drittel) doch sehr beeindruckt und überzeugt. Seither glaube ich an Reinkarnation, denn unter dem Namen Matt Wilson scheint Phil Lynott zurückgekehrt zu sein, damit er zusammen mit Original-THIN-LIZZY-Drummer Brian Downey wieder auftreten und die Songs des legendären Livealbums (und ein bisschen mehr) spielen sowie singen kann. Ungelogen: Wilson sieht Lynott nicht nur verdammt ähnlich, sondern singt auch wie er, ohne sich dafür verstellen zu müssen. Die Illusion ist perfekt und die beiden Gitarristen Michal Kulbaka und Joe Merriman beherrschen den Heavy-Bluesrock-Sound der irischen Legende perfekt. Meine Liebste und ich beschließen, erst einmal genug vor der Bühne gestanden zu haben, und beziehen eine seitliche Sitzbank bei trotzdem guter Sicht. So lauschen wir den Twin-Gitarren, den pumpenden Rhythmen und der leichten irischen Melancholie in den mit warmer Stimme vorgetragenen Songs. Downey & Co. erweisen sich eines Headliners mehr als würdig, bringen nicht nur mit dem Traditional „Whiskey in the Jar“ zig heisere Kehlen zum Mitsingen und haben noch drei Zugaben im Köcher, darunter eine Coverversion des ehemaligen LIZZY-Gitarristen GARY MOORE. Auf unserer Sitzbank haben wir jedoch eine nun nicht mehr 100%ig gertenschlanke und nüchterne Piratin (darauf lassen zumindest ihr Hut und ihr Rumdurst schließen) an Bord, die ihrer Begeisterung durch exzessiven Sitztanz Ausdruck verleiht und sich für Selfies so weit zurücklehnt, dass sie uns fast auf dem Schoss liegt. Immer wieder fühlt es sich fast an, als würden wir bald kentern, letztlich schippern wir aber in sichere Fahrwässer.

Nass werden wir dennoch ein bisschen, denn das Wetter ist heute unbeständiger als noch gestern. Weil wir’s am nächsten Morgen möglichst zu IRON CURTAIN schaffen wollen, machen wir uns flott auf den Weg. Zu unserem Glück steht direkt an der Straße ein aus Elmshorn bestelltes Taxi, das noch etwas Zeit hat und uns gerne zu unserer Unterkunft fährt. Das ist nicht zuletzt deshalb praktisch, weil ich dadurch meine Plattenkäufe vom Dying-Victims-Stand nicht durch die Gegend zu schleppen brauche und die guten Stücke nicht nasswerden können.

 

Tag 3: Vera am Mittag Abend

Anstatt wie am Vortag herumzutrödeln, lassen wir schon früh den Wecker schellen, schließlich sollen IRON CURTAIN schon um 10:45 Uhr den dritten und letzten Festivaltag eröffnen. Zum Einen haben wir Bock auf die Band, zum Anderen wollen wir ihr mit unserer Anwesenheit Dank dafür erweisen, diese irre Odyssee auf sich genommen und nicht einfach abgesagt zu haben. Nach dem stärkenden Frühstück marschieren wir im Stechschreit in Rekordgeschwindigkeit zum Gelände und verpassen lediglich die ersten Minuten. Angesichts der hübschen Bühnendeko wird auch der Grund für den verpassten Flug klar – mit solch schweren Ketten kommt niemand durch den Metalldetektor. Sehr viel Metal(l) ist auch in ihrem Sound auszumachen, der zackigen Speed mit MOTÖRHEAD-Räudigkeit kreuzt und zu derart ungewohnt früher Stunde die Frühstückseier hartkocht. Die Kulisse ist für die Uhrzeit beachtlich und Bandkopf Mike Leprosy nimmt sich die Zeit, kurz von der beschwerlichen Anreise zu berichten – mit dem Lächeln eines Metal-Gladiators (Songtitel) auf den Lippen. Ein Zwischendrintro aus dem Off sorgt für eine kurze Verschnaufpause, bevor einem weiter mit der Streitaxt der Schlaf aus den Klüsen geprügelt wird. Die Fans dankten es mit „Iron Curtain!“-Sprechchören, in die Mike mit einsteigt, aber versehentlich „Iron Maiden“ skandiert… Es wird nicht ihr einziger Auftritt auf diesem HOA bleiben, aber dazu später mehr.

Nicht ganz so weit zum Festival hatten es die dänischen ‘80er-Veteranen ALIEN FORCE, die seit 2021 mit einem Comeback-Album wieder am Start sind. Im Gepäck haben sie ein paar gute Nummern, aber für meinen Geschmack auch viel etwas arg gemütliches Midtempo-Zeug. Der Sänger hat ein schön kräftiges Organ und kommt ohne Eierkneif-Screams aus, was mich positiv an manch andere dänische Band erinnert. Die letzte Nummer, der Titeltrack ihres Debüts „Hell and High Water“, wird am meisten gefeiert.

Dann endlich PYRACANDA! Die Koblenzer, die in den Jahren 1990 und 1992 zwei Alben veröffentlichten (von denen ich das Debüt „Two Sides of a Coin“ sehr schätze), sind seit 2019 mit drei Originalmitgliedern zurück und wirken wie eine hungrige Band, der man ihr Alter kaum anmerkt. Sänger Hansi ist überaus agil und mit seinem Klargesang bestens bei Stimme. Die Klampfen liefern derbes Geschrubbe, Groove und Melodie zugleich, die tiefen Background-Shoutings besorgen schöne Kontraste und kommen verdammt gut rüber. Im Oktober erscheint ein neues Album, worauf Hansi mehrfach hinweist, und so gibt’s auch zwei neue, noch unveröffentlichte Stücke zu hören, von denen das erste (sehr gelungene!) hier seine Live-Premiere feiert. Das zweite taucht später im Set auf, heißt „Hellfire“ und wird wohl die erste Single werden. Auch PYRACANDA gönnen sich ein kurzes Intermezzo aus der Konserve. Zwischendurch stellt Hansi den neuen Gitarristen Frank vor, der hier seinen Einstand feiert, und versingt sich bei „Democratic Terror“ kurz, wofür er sich im Anschluss entschuldigt. Letzteres wäre nun wirklich nicht nötig gewesen, denn das war ein ziemlich geiler Auftritt!

Die US-Amerikaner MEGA COLOSSUS sind in der Szene derzeit irgendwie in aller Munde, was sich mir nicht so ganz erschließt, denn so richtig meins ist ihr klassischer Metal mit Epic-Schlagseite nicht. Gute Musiker sind’s zweifelsohne, doch das Songwriting kickt mich nicht so ganz. Aber was weiß ich schon, die Leute feiern die Band mit Sprechchören – und mit dem letzten Song, dem Speedster „Razor City“, entdecke ich tatsächlich einen (nach „Fortune and Glory“) weiteren Song, der mir gefällt.

Nun wird’s wieder etwas spezieller: NOTHING SACRED aus Australien waren, wie manch andere Band hier, bereits in den ‘80ern am Start und veröffentlichen seit 2020 in veränderter Besetzung wieder neue Musik, liefen bisher aber unter meinem Radar. Unter dem vieler anderer anscheinend auch, denn vor der Bühne ist’s zunächst noch ein bisschen übersichtlich, es füllt sich dann aber. Der Sänger sieht aus wie ein Familienpapa, der sich gern die Nachbarn zum Grillen auf die Veranda seines Häuschens nahe der Outbacks einlädt, erzählt von einer 40-stündigen Anreise (Alter…), fordert die Leute auf, alle mal ‘nen Schritt näherzukommen, und changiert zwischen hohem, melodischem und klagendem Gesang in normaler Stimmlage. Die Band hat irgendwas herrlich Irres an sich, das mich schmunzeln lässt. Der Drummer liefert heftiges Speed-Drumming, das die Grundlage für den eigenwilligen Thrash mit Power-Metal-Elementen, dargeboten von zwei Gitarristen, bildet. Irgendwann zieht der Sänger endlich die Kopfsocke ab und gießt sich sogleich eine Flasche Wasser über die Rübe. Bei den Kindern im Publikum entschuldigt er sich „for the language“ (womit er anscheinend die Schimpfwörter in den Texten meint), und verschafft sich eine Verschnaufpause, indem er die Bandmitglieder vorstellt. Am Schluss spielt man „Deathwish“, die erste Single „aus dem Jahre 1471 oder so“. Sehr sympathische, klasse Liveband, deren Tonträger ich mir ebenfalls mal in Ruhe anhören werde.

NOTHING SACRED waren vermutlich mit ihren Landsleuten SILENT KNIGHT zusammen angereist – und mir bis dato ebenso unbekannt. Man existiert seit 2009, hat vier Alben und zwei EPs draußen – und seit 2020 Sänger Dan Brittain am Start. Dieser kreischt im ersten Song zur mir von PENNYWISE bekannten „Bro Hymn“-Melodie, während die Gitarren gegen den etwas zu lauten Bass ankämpfen. Vornehmlich setzt Dan seine Kopfstimme ein, growlt aber am Refrain- oder Strophenende gern die letzten Silben an. Das ist geil und etwas anstrengend zugleich; am besten gefällt mir die Band aber ehrlich gesagt, wenn mal ein bisschen in normaler Tonlage gesungen wird. Der Sound wird mit der Zeit besser, kategorisieren würde ich ihn als so was wie angedüsterten Melodic-Speed. Die mehrstimmig gesungenen Refrains kommen ziemlich cool und musikalisch ist’s ohnehin top. Der eine Gitarrist greift dem anderen während eines Solos ständig ins Griffbrett, Dan ist permanent am Headbangen und Luftgitarrespielen. Gegen Ende gelingt ein Whohoho-Mitsingspielchen gut als Interaktion mit dem Publikum. Die letzte Nummer erhält ein Intro vom Band und als auch diese um ist, klingeln mir so richtig die Ohren. Klar, dass ich mich auch durchs Œuvre dieser Band hören werde…

Besser vertraut bin ich mit dem Material, das jetzt kommt: Eine fette Überraschung, die zum Zeitpunkt unseres Kartenkaufs noch nicht feststand. Zum 40-jährigen Jubiläum des RUNNING-WILD-Debütalbums „Gates to Purgatory“ taten sich der damalige zweite Gitarrist (und Freund des HOA) Preacher und BLAZON STONE zusammen, um das komplette Album, erweitert um Sampler-Beiträge und EP-Stücke der damaligen Zeit, live auf die Bühne zu bringen! RUNNING-WILD-Mastermind Rock’n’Rolf hatte keinen Bock, also stellte man das kurzerhand in dieser Konstellation auf die Beine. Einer der Veranstalter erläutert die Vorgeschichte, und dann kommt auch noch der damalige Drummer Hasche hinzu. Dieser erklärt, gesundheitlich angeschlagen zu sein und sich zwischen zwei OPs zu befinden, später aber zumindest einen Song mitzuspielen. Ich war gespannt wie ein Flitzebogen und wurde nicht enttäuscht. BLAZON-STONE-Sänger Matias hat seine Stimme „heruntergestimmt“ und singt nun dunkler – und Preacher hat sichtlich Spaß und posiert, als hätte es für ihn nie eine Bühnenabstinenz gegeben. „Adrian S.O.S.“ wird dermaßen schnell runtergeholzt, dass Matias kaum hinterherkommt. RUNNING WILD waren damals noch weit von ihrem erst mit dem dritten Album etablierten Piraten-Image entfernt und so jagt hier ein satanischer Song den nächsten, süffisant kommentiert vom Sänger. Das ist umso kurioser, als Preacher nicht umsonst Preacher heißt, hat er doch tatsächlich Theologie studiert und ist evangelischer Pfarrer. Aber wie er unlängst in einem Interview sagte: Das sei ja alles allegorisch gemeint gewesen. Und das war es ja auch! „Gengis Khan“ wird um einen beeindruckenden Publikumschor ergänzt, „Walpurgis Night“, „Warchild“ und „Iron Heads“ werden zwischengeschoben, der kongeniale Stampfer „Chains and Leather“ lässt die Fäuste in die Höhe recken und wird lauthals mitgesungen – und dann ist erst mal Umbaupause angesagt: Das Schlagzeug wird von Links- auf Rechtshänder (oder umgekehrt) umgebaut, damit Hasche seinen Song trommeln kann. Währenddessen lobt Preacher BLAZON STONE und holt den Wirt der Lauschbar auf die Bühne, der sie kostenlos und unkompliziert in seinen Räumlichkeiten hat proben lassen. BLAZON STONE erzählen auch noch den einen oder andere Schwank, u.a. welches RW-Album in ihrem jeweiligen Geburtsjahr herausgekommen war… „Prisoner Of Our Time“ soll also das große Finale werden, die Fans singen den Song schon mal selbst – bis es losgeht und Hasche beweisen kann, nichts verlernt zu haben. „We are prisoners of our time, but we are still alive! Fight for freedom, fight for the right – we are Running Wild!” wird zum Singalong des Abends und auch ich brülle mich heiser. Mit diesem historischen Ereignis wurde Metal-Geschichte geschrieben! Vielen Dank allen, die das ermöglicht haben, besonderer Dank an BLAZON STONE, deren sich an späteren RUNNING WILD orientierender Sound mit diesem wesentlich simpleren Teutonen-Metal aus der Pionierzeit nicht viel zu tun hat, diese Zelebrierung mitgemacht zu haben, und rasche Genesung dem guten alten Hasche!

Nun ist der Veranstalter leider gezwungen, eine traurige Nachricht zu überbringen: Die MAGNUM-Coverband KINGDOM OF MADNESS um den ehemaligen MAGNUM-Keyboarder Mark Stanway und anscheinend weitere Ex-Mitglieder (und benannt nach dem Debütalbum) muss leider passen: Der Pilot ihres Fliegers von Manchester nach Amsterdam fiel krankheitsbedingt aus, wodurch die Band ihren Anschlussflug nach Hamburg verpasste und somit keine Chance mehr besteht, es rechtzeitig zum HOA zu schaffen. Zumindest eines der Bandmitglieder ist laut Veranstalter anwesend und sitzt weinend backstage. Ich bin beileibe kein großer Fan der britischen Pomprocker, traurig stimmt mich das aber doch, denn auf dem Programm stand eine Art Best-of der Zeit von 1978 bis 1994 – und auch für meine Ohren haben MAGNUM einige echte Hits komponiert, die ich gern einmal live gehört hätte. Insbesondere hat es mir das „Wings of Heaven“-Album angetan. Mit MAGNUM-Bandkopf Tony Clarkins Tod dieses Jahr hat sich das Kapitel MAGNUM ja zudem bedauerlicherweise für immer geschlossen. Dafür steht jetzt mein Plan, KINGDOM OF MADNESS auf ihrem nächsten Hamburg-Besuch beizuwohnen.

She’s got the look

Seitens der Veranstalter wurde improvisiert: MEGA COLOSSUS und IRON CURTAIN treten nacheinander noch einmal auf. Gut, MEGA COLOSSUS spielen halt noch mal eine Handvoll Songs, während wir uns die Zeit mit Biertrinken und Sabbeln vertreiben. Aber dann: IRON CURTAIN zum Zweiten, nun zu einer wesentlich Günni-kompatibleren Uhrzeit! Also ab vor die Bühne. IRON CURTAIN sind laut Mike etwas angetrunken, er klingt auch deutlich heiserer als am Morgen und dadurch noch dreckiger und stärker nach Lemmy. Auf der (diesmal undekorierten) Bühne herrscht zunächst helle Aufregung seitens der Techniker, anscheinend stimmt irgendetwas mit den Monitoren nicht. Die Band lässt sich davon nicht irritieren und klopft noch mal ordentlich aufs Mett, spielt vier oder fünf Songs, darunter die spanischsprachige Pretiose „Brigadas Satanicas“, und haut sogar noch ‘ne Zugabe raus. Anschließend lässt man sich zurecht feiern. Danke, Jungs!

Einen hat das HOA noch: ARMORED SAINT als finaler Headliner des heurigen Festivals. Die US-Metal-Institution aus L.A. um Frontmann John Bush und Basser Joey Vera erfreut sich hierzulande seit jeher großer Beliebtheit, was sich mir nie so ganz erschloss. Ich mag den Signature-Song „March of the Saint“, aber das war’s dann eigentlich auch schon. Aber wenn wir schon mal hier sind, ziehen wir uns natürlich auch den gepanzerten Heiligen noch rein. Und das ist eine gute Entscheidung, denn nun kommen wirklich alle zusammen und stehen eng zusammengepfercht vor der Bühne, auf der SAINT eine absolut hochkarätige Show abreißen. Bush ist ein grandioser Sänger, den ich mir mit dieser Leistung auch gut und gerne seinerzeit als Dickinson-Nachfolger bei IRON MAIDEN hätte vorstellen können (statt Belladonna bei ANTHRAX abzulösen), zumal er in einen Jungbrunnen gefallen zu sein scheint, derart drahtig und topfit wirkt er, während er einige Kilometer auf der Bühne zurücklegt, ohne dass der Atem schwer würde. Die Band ist bestens aufeinander abgestimmt und eingespielt, da sitzen jeder Ton und jede Geste und Grimasse punktgenau. Vera am Mittag Bass geht ab und mit, als sei er selbst der größte Fan seiner Band, und Drummer Gonzo sieht mit seinem ulkigen Hut am Schluss aus wie ein Zauberer. Ich habe wirklich selten eine so tighte Band gesehen – dafür meinen Respekt! Eine tolle Show, wenn, ja wenn… man etwas anderes als diesen Halbgroove-Metal und dafür mehr Songs vom „March of the Saints“-Kaliber spielen würde. Musikalisch werde ich mit ARMORED SAINT wohl nicht mehr warm, ein unterhaltsamer Festival-Abschluss ist‘s dennoch. Bush bittet die Menge noch, nicht mehr betrunken nach Hause zu fahren, und draußen hat es angefangen zu regnen, was wir unter dem Dach vor der Bühne (beste Festivalerfindung ever) immer dann bemerken, wenn wir unsere letzten Bar-Moneten fürs Dithmarscher verprassen. Bei dieser Gelegenheit eines noch zum P.A.-Sound: Ich hatte es bei SODOM angemerkt, aber auch bei anderen Bands habe ich‘s zuweilen so empfunden und bei ARMORED SAINTS, wo wir wirklich mittig vor der Bühne stehen, fällt es uns besonders stark auf: Klar, die Snare muss knallen, darf aber den Gesang nicht übertönen! Das erhöht nicht etwa den Druck, sondern nimmt im Gegenteil etwas Wumms aus der Darbietung.

Ansonsten bin ich aber weitestgehend glücklich mit dem Festival. Es war ein echter Kurzurlaub und nicht nur eine willkommene Abwechslung zum Alltag, sondern auch zu meinen sonstigen Konzertaktivitäten. Ab und zu kann ich es sehr genießen, mich einfach mal vor eine Bühne zu stellen und einer mir mehr oder weniger unbekannten Band nach der anderen interessiert zu lauschen, um meine Favoriten schließlich zu feiern. Und da man sich in einem Funkloch befindet, geht vom Smartphone eine herrliche Ruhe aus, während es auf der Bühne kracht und scheppert – oder auch einfach nur wohlklingt. Bis auf die ein, zwei Ach-so-edgy-Typen mit BURZUM-Aufnähern war das Publikum nicht unangenehm. Die kostenlose Trinkwasserabgabe verhinderte allzu schlimmen Suff, Kater und Dehydration, und gesoffen dürfte trotzdem genug worden sein – nur einer von mehreren Punkten, von denen sich andere Festivals ‘ne Scheibe abschneiden können. Auch außerhalb des Bühnenbereichs gab’s sonnengeschützte Sitzmöglichkeiten. 3,- EUR für 0,3 Liter lokales Bier sind kein Schnäppchen, aber in Ordnung. Die Preise der Essensstände für Lagosch, Ofenbrot, Baumstriezel etc. erscheinen mir Festival-typisch etwas zu hoch, aber dafür sind die Dinger sättigend. Die Preise am von der HOA-Crew selbstbetriebenen Bratwoscht- und Pommes-Stand wiederum sind glaube ich heutzutage auch außerhalb von Festivals normal. 2018 gab’s noch einen von einer rührigen älteren Dame betriebenen Fischbrötchen-Stand, den wir gern frequentierten. Nun gibt’s dort irgend’nen Fischersfritz, der preislich den Vogel in negativer Hinsicht abschießt: Fischbrötchen 7,- EUR! Und zwar nicht nur die vergoldete Kaviarvariante, sondern auch das ganz normale Bismarckbrötchen, für das ich sogar im Amphitheater „nur“ 4 Öcken gelatzt habe. Nee, Alter – dat friss ma‘ schön selbst. Alles in allem ist die häufig kolportierte besondere Atmosphäre des Festivals kein Märchen, sondern gelebte und geförderte Realität.

Zurück zum letzten Festivalabend: Nach ARMORED SAINT warten wir ab, ob der Regen sich verziehen würde, was natürlich am besten am Bierstand geht. Ist leider nicht so, also packen wir unsere Ponchos aus (was ich zuletzt 2016 getan hatte, aber der fisselige Müllsack mit Aussparungen für die Extremitäten ist noch immer tadellos in Ordnung) und latschen ein letztes Mal zu unserer Unterkunft. Alles kein Problem, zu einer kleinen Herausforderung wird nur der noch mal deutlich längere Weg am nächsten Vormittag zum Bahnhof Dauenhof bei sengender Sonne, mit vollem Gepäck (u.a. den neuen Platten – es heißt nicht umsonst Heavy Metal) und nun doch so langsam dem Festival in den Knochen. Dafür erwartet uns am Bahnhof eine Rundum-sorglos-Gewerbeansiedlung mit Tanke, Imbiss und Eisdiele. Die Nordbahn ist pünktlich; bischn durchgedengelt, dafür mit ausdefinierten Wanderwaden treffen wir wohlbehalten wieder zu Hause ein. Danke ans HOA-Team für dieses geile Festival!

Teile des nächstjährigen Programm stehen übrigens schon fest, regelmäßig aktualisierte Infos gibt’s auf www.headbangers-open-air.com.

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