Das vom US-amerikanischen Metal-Nerd und -Journalisten David E. Gehlke geschriebene Buch „Damn The Machine“ aus dem Jahre 2017 über das legendäre Berliner Metal-Label Noise Records wurde vom Berliner Iron-Pages-Verlag lizenziert, wo es in deutscher Übersetzung durch Rock-Hard-Redakteur Andreas Schiffmann erschien. Das Taschenbuch ist rund 500 Seiten stark und enthält weshalb auch immer ein Vorwort Hansi Kürschs, der mit keiner seiner Bands (u.a. Blind Guardian) jemals auf Noise Records war. Dem Korrektorat ist da ein bisschen was durchgerutscht, was leider auch im weiteren Verlauf immer mal wieder passierte. Übersehene Tippfehler u.ä. ziehen sich durchs Buch und die englischen Anführungsstriche (auf beiden Seiten oben) irritieren. Aber es kommt ja auf den Inhalt an:
Gehlke erklärt Noise zum „Grundstein der weltweiten Metal-Szene“, was mir nicht nur etwas hochgegriffen scheint, sondern – bei allem Respekt vor Noise und den geilen Platten, die dort erschienen – schlicht Quatsch ist. Zunächst ist sein Buch eine Biographie des Label-Inhabers Karl-Ulrich Walterbach. Dieser studierte, wie wir erfahren, in Münster und Dortmund, bevor er nach Berlin zog, schlug eine Karriere als linker Terrorist ein, die jäh gestoppt wurde, landete für eineinhalb Jahre im Knast, war Hausbesetzer und Technik-Hehler. Mit Punk begann sein musikalisches Interesse und erstmals tat er etwas Sinnvolles, indem er gute Pionierarbeit im Konzert- und Labelbereich leistete (nicht minder legendär als manche Noise-Veröffentlichung sind die Punkscheiben auf Walterbachs „Aggressive Rockproduktionen“-Label). Zu diesen zählt die Compilation „Soundtracks zum Untergang“, der Gehlke respektive Schiffmann die Beteiligung einer Band namens „Hate Ahead“ andichten (S. 36). Tatsächlich enthalten sind die Bands „Hass“ und „Aheads“ – ein Fauxpas aus der Übersetzungshölle?
Die Gründung des Hamburger Punk-Labels Weird System datiert Gehlke aufs Jahr 1993, was ebenfalls verkehrt ist: 1982 wär’s gewesen. Nichtsdestotrotz liest sich der Punkteil des Buchs interessant, u.a. wenn es um Walterbachs DDR-Kontakte und die „DDR von unten“-Veröffentlichung geht. Während der Punk-Krise Mitte der 1980er wechselte Walterbach zum aufstrebenden Metal und gründete mit punkiger Attitüde, aber auch einem guten Näschen fürs Geschäft Noise Records. Über Heavy Metal und dessen damalige Akzeptanz sagt er (S. 69):
„Die selbsternannte Elite, diese intellektuellen Musikzensoren… für sie war das unerhört. Metal, so etwas konnte man nicht machen. Was sollte das überhaupt sein? Schrott. Der Lärm der Arbeiterklasse. Nichts, womit sich ein Denker abgeben würde.“
Und (ebd.):
„Die Frage, ob man Geld verdiente oder nicht, wird in der Metal-Szene nicht ideologisiert. Vielmehr heißt man Erfolg gut, wohingegen man sich im Punk kasteien musste. Mit der Zeit ging mir das echt auf die Nerven, die dauernden Rechtfertigungen, dieser unsinnige Vorwurf der Kommerzialisierung. Darum bin ich froh, es mit Metal probiert zu haben. Verdiente man Geld und zeigte es, indem man etwa einen Jaguar fuhr, steigerte das eher noch das Prestige. In der Punk-Szene ist es genau umgekehrt!“
Auf Seite 70 wird suggeriert, in den Jahren 1993 und 1997 seien zwei weitere „Soundtracks zum Untergang“-Compilations bei Walters nie offiziell aufgelöstem Punklabel erschienen. Dazu sei angemerkt, dass es sich beim dritten Teil um eine reinen Hip-Hop-Sampler handelte und Teil 4 nicht bei Aggressive Rockproduktionen, sondern bei Impact Records erschienen war.
Fortan geht es nun aber also vornehmlich um die ersten Noise-Jahre, wofür Walterbachs erste PR-Beauftragte Kunold ebenso zu Wort kommt wie seine Sekretärin Nielsen und die Vertriebswegbeaufsichtigerin Lange, sodass das Buch nicht allzu monoperspektivisch ausfällt. Der Voivod-Song „Ripping Headaches“ befindet sich allerdings auf „Rrröööaaarrr“, nicht auf „Dimension Hatröss“ – das hätte spätestens Schiffmann beim Übersetzen auffallen müssen. Interessante Einblicke bieten die Abrisse zu den US-Labels Metal Blade und Megaforce, mit denen Noise Lizenzen tauschte. Die erste richtige, eigene Labelband wurden Grave Digger. Gehlke schreibt über die ersten beiden Noise-Compilations, darunter „Death Metal“ mit dem ein Jahr später zensierten Cover, und widmet den Schweizern Celtic Frost ein eigenes Kapitel. Ain, Fischer und Priestly kommen zu Wort, wobei unklar bleibt, ob Gehlke die Statements woanders aufgeschnappt oder wirklich fürs Buch mit ihnen geredet hat. So oder so kommen lesenswerte Interna ans Licht und beide Seiten – Band wie Label – zu Wort. Gehlke findet angemessen kritische Worte zu Walterbach und dazu, wie dieser Celtic Frost behandelte.
Auf ein Kurzporträt des Cover-Künstlers Andreas Marschall folgt ein eigenes Kapitel über Grave Digger, das gerade auch wegen der Verirrung mit der kommerziell ausgerichteten Umbenennung in Digger und der anschließenden temporären Auflösung interessant ausfällt. Jedoch findet sich hier in erster Linie Walterbachs Sicht der Dinge, und an Bandkopf Chris Boltendahl lässt er kein gutes Haar. So richtig spannend wird’s im Running-Wild-Kapitel: Auf der ambitionierten US-Tour mit Celtic Frost und Voivod floppte die Hamburger Kombo und erstmals werden die Streitereien zwischen Noise und EMI erwähnt. Folgerichtig geht’s mit Helloween weiter. Die Hamburger waren Walterbachs bestes Pferd im Stall, die Briten wollten sie Walterbach wegschnappen und die Band wurde zwischen beiden Fronten regelrecht zerrieben. Leider endet das Kapitel abrupt noch vorm Götteralbum „Keeper of the Seven Keys Part 2“, jenem bis heute unerreichten Meilenstein des europäischen Power Metal. Den Song „Gorgar“ hat Gehlke falsch interpretiert, denn er handelt von Videospielsucht und hat nichts mit einem etwaigen „Monster-Fetisch“ zu tun. Erwähnen hätte er vielleicht noch können, dass Maskottchen Fangface später bei Gamma Ray wieder zu Ehren kam, jene Band, die Gitarrist Kai Hansen aus der Taufe hob, nachdem er Helloween verlassen hatte.
Unfassbar knapp ist das Rage-Kapitel ausgefallen, obwohl die Herner Band um Peter „Peavy“ Wagner satte sieben Alben bei Noise veröffentlichte. Auf Deutschlands größten Thrash-Export Kreator folgt ein kurzes Kapitel übers Kuriosum Rosy Vista, eine es damals lediglich auf eine Mini-LP gebracht habende reine Frauenband, in dem Walterbach alles andere als gut aussieht. Um die Frankfurter Alcoholic-Metaller und Bembel-Thrasher Tankard geht es bis zum Labelwechsel. Kapitel 11 dreht sich um Noise‘ Expansion gen USA und UK und damit in erster Linie ums internationale Geschäft, was es mitunter etwas schwer zu lesen macht. (Und das englische Pop-Duo heißt Erasure, nicht „Eraser“…) Bei der Aufzählung besonders angesagter E-Gitarrenbands zu Beginn der 1990er unterschlägt Gehlke doch glatt Metallica, die mit dem „Black Album“ überlebensgroß wurden (und leider vergaßen, sich anschließend aufzulösen).
Dem Streit zwischen Celtic Frost und Noise widmet Gehlke anschließend ein eigenes Kapitel, aus dem all die Ignoranz Walterbachs dieser fantastischen Band gegenüber hervorgeht. Jedoch wird auch das „Cold Lake“-Desaster detailliert geschildert, so detailliert zumindest, wie ich es zuvor noch nicht gelesen hatte. Die innovativen, von Noise veröffentlichten Tech-, Prog- und Post-Thrash-Bands Coroner, Voivod, Watchtower und Sabbat werden in einem separaten Kapitel zusammengefasst und anschließend Helloween wieder aufgegriffen, sodass auch den Ereignissen nach den „Keeper…“-Alben genügend Raum geboten wird. Eine der spannendsten Geschichten des deutschen Metal-Business, das beweist, wie viel Macht die Labels damals hatten – und wie sie sie auf dem Rücken von Bands missbrauchen konnten.
Das Ende der DDR schuf auch für Walterbach neue Märkte und Möglichkeiten. Als er vom legendären Konzert mit Noise-Bands am 04.03.1990 in der Werner-Seelenbinder-Halle erzählt und angesichts über 4.000 zahlender Gäste nicht glaubt, dass der Ort jemals zuvor derart gut besucht gewesen sei, hat er offenbar das nicht minder legendäre Depeche-Mode-Konzert vergessen, zu dem 1988 die FDJ geladen hatte und das natürlich ausverkauft war. Generell wirkt Walterbach gegenüber der ehemaligen DDR etwas arrogant.
Mittlerweile ist das Buch in den 1990ern angekommen, das für die klassischen Metal-Spielarten kein sonderlich gutes Jahrzehnt war. So geht es im weiteren Verlauf viel um Walterbachs Bestrebungen, mit den sich verändernden musikalischen Vorlieben und Marktbedingungen Schritt zu halten, womit sich einiges nachlesen lässt, was man seinerzeit vielleicht nicht mitbekommen oder schlicht ignoriert hat, weil einen das Genre nicht mehr sonderlich interessierte. Darunter finden sich einige ganz spannende eingestreute Geschichten, es geht aber auch relativ ausführlich um Noise‘ Unternehmungen und Dependancen im Ausland inklusive viel Namedropping und wer genau wann wo welchen Vertrieb für Noise übernahm oder von Noise angestellt wurde, was für mich persönlich eher semiinteressant ist. Am Ende steht der Verkauf des Labels an Sanctuary. Angemerkt sei noch, dass Timo Kotipelto erst ab 1994 bei Stratovarius sang, nicht wie auf Seite 405 behauptet bereits ab 1984.
Der letzte Abschnitt befasst sich mit Walterbachs Aktivitäten im Band-Management. Das Nachwort gehört Walterbach persönlich. Gehlkes Danksagungen, die Noise-Top-5 verschiedener Szene-Größen und eine komplette Noise-Diskographie runden das Buch ab, das trotz erwähnter Fehlerchen einen umfassenden Einblick nicht nur in die Geschichte von Noise Records, sondern auch in die Vita und den Charakter des streitbaren Karl-Ulrich Walterbachs gewährt und zahlreiche Szenestimmen zu Wort kommen lässt, die verhindern, dass es zu Walterbach-exklusiv würde. Auch als jahrzehntelanger Metal-Postillen-Leser, dem vieles bereits bekannt war, habe ich einiges Neue erfahren, vorhandenes Wissen auffrischen oder tiefer ins Detail gehen und nicht zuletzt einer über weite Strecken unterhaltsamen Lektüre über eines meiner Steckenpferde frönen können. Die vielen Fotos, seien es die Schwarzweiß-Bebilderungen im Text oder die beiden mehrseitigen Farbfotostrecken, lockern das Buch zudem angenehm auf und zeigen nicht nur Altbekanntes.
Nicht am falschen Ende zu sparen und das Manuskript vor Drucklegung einem Lektorat zu überantworten, hätte wohl die o.g. Fehler verhindert; und ein professionelles Korrektorat hätte sicherlich Tippfehler wie „Mitpreis“ (S. 88, statt „Mietpreis“) oder „Maquis“ (S. 270, statt „Marquis“) oder auch Sätze wie „Wir baten ihnen sogar von uns aus, wieder mitzumachen“ (S. 95) respektive „Du denkst, du bekommst eine große Chance, und jemand niemand sie dir“ (S. 353) ausgemerzt. Einerseits mögen das typische Erstauflagenkrankheiten sein, andererseits ist es ein bisschen schade, dass dieses als Standardwerk zu Noise Records zu bezeichnende Buch davon betroffen ist.