Günnis Reviews

Monat: Juni 2022

18.06.2022, Altonale, Hamburg: NO SPORTS + DAS KARTELL + RADAU

Das offizielle und öffentliche Stadtteilfest Altonale kam für mich dieses Jahr überraschend, erst am Samstagmorgen erfuhr ich davon. Also nach dem Frühstück erst mal den riesigen Flohmarkt abgeklappert. Auf dem Platz der Republik sollten dann diverse Bands spielen, von denen man mir die Ska-Punk-Band SICK LEAVE nahelegte. Um mich mit Freundinnen und Freunden zu treffen, schlug ich dort bereits am Nachmittag auf und wurde Augen- und Ohrenzeuge der Rockband RADAU, die, irgendwo zwischen ROLF ZUCKOWSKI und RANDALE anzusiedeln, Musik speziell für Kinder macht. Die waren an diesem Tag bei bestem Open-Air-Wetter auch reichlich zugegen. RADAU transportierten kindgerechte und nicht immer 100%ig pädagogisch wertvolle, daher für die Zielgruppe umso reizvollere Botschaften in eingängigen Songs bei glasklarem Sound. Ihre Show reicherten sie mit diversen Mitmachspielen an, schlüpften in verschiedene Kostüme und brachten ihre jungen Fans dazu, sich kräftig auszupowern, während die Eltern oder Aufpasser(innen) sich in Ruhe am Bierchen laben konnten. Als ich anregte, auch in unsere Shows solche Mitmachspielchen zu integrieren, schlug Kai vor, mich als Ball ins Publikum zu werfen, woraufhin ich von dieser Idee wieder Abstand nahm. Schön zu sehen: Die jüngsten kaufen noch CDs! Zumindest von RADAU.

Anschließend tat sich ‘ne ganze Weile nix auf der Bühne, bis die Ansage kam, dass SICK LEAVE leider krankheitsbedingt kurzfristig absagen hatten müssen. So konnte DAS SKARTELL in Ruhe aufbauen und schließlich seinen deutschsprachigen, modernen Ska präsentieren. Das ist ja nicht so ganz meine Richtung, wenngleich sie mir diesmal etwas besser als einst auf dem Elbdisharmonie-Festival gefielen. Technisch ist das, was die neun Musiker da fabrizieren, alles knorke, musikalisch ist’s mir – wie bei so vielen Genrekollegen auch – hingegen meist zu fröhlich und zu clean. Mir fehlt da neben etwas Dreck der melancholische Touch (nicht nur) des Two-Tone, der erst erklang, als die Berliner als Zugabe MR. REVIEW coverten. Etlichen Besucherinnen und Besuchern gefiel’s aber und als Begleitmusik zum sonnigen, entspannten Open-Air-Umtrunk war das nun auch wirklich nicht verkehrt.

Den DAS-KARTELL-Gig hatte ich im Vorfeld übrigens genauso wenig auf dem Schirm wie den des Headliners NO SPORTS. Nachdem ich davon erfahren hatte, war klar, dass der Abend etwas länger werden würde. Die Stuttgarter zählen zu den Pionieren der deutschen Ska-Szene, das Debüt-Album „King Ska“ (1989) und die EP „Stay Rude Stay Rebel“ (1990) genießen Kultstatus. Insbesondere das Titelstück letztgenannter Veröffentlichung avancierte zu einer der Hymnen der antirassistischen Skinhead-Bewegung, auf die der Text auch eindeutig Bezug nimmt. Eben jene Szene verzieh aber auch den einen oder anderen Stilwechsel der Band nicht, die bis auf Bandkopf D. Mark Dollar zudem eine hohe Mitgliederfluktuation aufwies. Live gesehen hatte ich NO SPORTS noch nie, Ende der ‘80er/Anfang der ‘90er war ich zu jung und 2002 die Band bereits aufgelöst, um ein paar Jahre später als NU SPORTS zurückzukehren. Offenbar bereits seit 2013 ist man als NO SPORTS aber wieder aktiv, hat 2021 gar ein Comeback-Album veröffentlicht. In sechsköpfiger Besetzung mit Quetschkommode/Keyboard-Doppelbelastung für die einzige Frau in der Band und D. Mark Dollar an Gesang und Gitarre konnte man auf ein bereits gut eingetanztes, gemischtes Altona-Publikum zurückgreifen – und lieferte zu meiner Überraschung erstklassig ab. NO SPORTS ließen sich nicht lumpen und spielten ausdauernd ein recht langes Set, das mit den bekannten Hits gespickt war, „Stay Rude Stay Rebel“ nicht vermissen ließ, aber auch einen brandneuen Song beinhaltete, der ziemlich vielversprechend klang. Nicht zuletzt durchs Gesabbel und Getrinke mit dem einen oder anderen Bekannten (und vielleicht auch, weil mir die Sonne den ganzen Tag auf den Schädel gebrannt war und das Bier seine Wirkung zeigte…) war meine Aufmerksamkeitsspanne irgendwann erschöpft, will sagen: Das Konzert verfolgte ich nicht sonderlich konzentriert, nahm es aber als sehr angenehme Beschallung wahr und könnte mir vorstellen, dass das in ‘nem verschwitzten Club mindestens genauso gut gekommen wäre.

Und das alles nicht nur vollkommen unerwartet, sondern auch noch für umme mitten in Altona – das ist schon ziemlich geiler Scheiß. Nächstes Jahr dann SELECTER, MADNESS und THE SPECIALS?

14.06.2022, Stadtpark, Hamburg: GIANNA NANNINI

Ich war schon als Kind von der rauen Stimme der italienischen Rock-/Pop-Sängerin Gianna Nannini und ihrem zuweilen burschikosen Auftreten fasziniert. Ihre musikalische Bandbreite reicht von Chansons über Pop-Rock mit Elektro-/Synthie-Einflüssen bis hin zu E-Gitarre-dominiertem Hardrock und Indie-/Alternative-Einflüssen. Ich liebte – und liebe! – Songs wie „Bello E Impossibile“, „Hey Bionda“ und „Un Ragazzo Come Te“, „Hey Bionda“ war gar eine meine allerersten 7“-Singles, mir seinerzeit von meinen Eltern gekauft worden. Als Erwachsener, weit nach Abschluss der Punk- und Metal-Sozialisation und mittlerweile in der „Was gab’s denn da noch so alles?“-Kindheits- und Jugendaufarbeitungsphase gelandet, konnte ich mich dank der breiten Verfügbarkeit im Internet durch weite Teile der Nannini-Diskographie hören, fand viel Schönes und stellte fest, dass die ‘80er-Alben „Profumo“ und „Malafemmia“, flankiert von den Live-Alben „Tutto Live“ und „Giannissima“, für mich am besten, um nicht zu sagen: hervorragend funktionieren. Gianna hatte schon immer eine rebellische Ader, setzte sich für Frauenrechte ein und war fürs eine oder andere Skandälchen gut. Auch das passt also.

Wenn nicht gerade eine Pandemie wütet, findet jährlich eine Saison mit Open-Air-Konzerten im Hamburger Stadtpark statt, bei der das Programm ungefähr von Mainstream bis Indie reicht. Vor etlichen Jahren, als jüngerer Punk, lauschte ich dort mal von außen BILLY IDOL, ging mangels der nötigen Finanzen aber nicht hinein. Mein erster wirklicher Besuch ließ länger als geplant auf sich warten, denn natürlich kauften meine Liebste und ich auch dieses Ticket kurz vor Pandemieausbruch, sodass sich der Konzertbesuch um rund zwei Jahre verzögerte… Dafür spielte an diesem sonnigen Dienstag aber das Wetter perfekt mit. Das Konzertgelände ist sehr schön: ein Rund mit Verzehrbuden und Toiletten im äußersten Kreis, abgetrennt durch hohe Hecken mit zahlreichen Durchgängen, die Gedrängel vermeiden. Im Inneren zur Bühne hin immer leicht abschüssiges Gelände grob im Amphitheater-Stil, sodass gute Sicht kein Problem ist. Und auch noch mal paar Bierbuden.

Auf dem Hinweg waren uns schon zahlreiche Picknicker(innen) begegnet, die es sich vorm Gelände mit Snacks und Getränken bequem gemacht hatten – ein bisschen wie ich damals, nur war’s da schlicht Dosenbier. Der Einlass ging superflott. Um 19:00 Uhr sollte es losgehen. Wir schauten uns nach Essbarem um. Bratwurst mit Brötchen ohne Brötchen, weil diese ausgegangen waren. Hm. Vegetarisch war das auch nicht. Die Burritos sahen ganz gut aus, schlugen aber mit unverschämten 8,- EUR zu Buche, und fürs Sättigungsgefühl musste Bier nachgekippt werden. Memo: Nächstes Mal auch vorher im Park picknicken. Das Gelände war gut gefüllt, aber nicht ganz ausgefüllt – zum Glück, wie jemand am Bierstand anmerkte, bei FOREIGNER sei es zuletzt ein heilloses Gedrängel gewesen. Hier ist’s entspannt. Wir suchten uns ein Plätzchen in Bierstandnähe und warteten, bis es um 19:18 Uhr tatsächlich losging: Ein quickfideles 68-jähriges Geburtstagskind (Sie hatte an diesem Tag Geburtstag!) spurtete auf die Bühne, ihr Fanclub in den ersten Reihen war mit Partyhütchen und Luftballons ausgestattet, stimmte irgendwann zwischen zwei Songs „Happy Birthday To You“ an, überreichte Blumen und war generell die ganze Zeit ganz aus dem Häuschen. Sozusagen der Pogomob der Veranstaltung.

Gianna und ihre Band stiegen mit „L’aria sta finendo“ vom aktuellen 2019er Album „La differenza“ ein, das ich mir ehrlich gesagt noch gar nicht angesagt hatte. Der Song gefällt mir, doch es sollte einer von ich glaube nur zwei brandaktuellen Songs bleiben. Der überwiegende Teil des 20 Songs umfassenden Sets ging in Richtung Best of, „Primadonna“, „Profumo“, „Ragazzo dell’Europa“ und „I maschi“ hießen die Hits, ferner natürlich „Scandalo“, „Hey Bionda“, „America“, „Latin Lover“ und „Bello E Impossibile“. Wunderbare Stücke mit großen Melodien, etwas Pathos und ganz viel Ausdruck in Giannas Stimme bei einwandfreiem Sound. „Bello…“ klang wieder näher an der Studioversion und weniger punkig als sie ihn zwischenzeitlich gemäß YouTube-Clips gespielt hatte. Die Kinderchöre schienen mir aus der Konserve zu kommen, alles andere dürfte die fünfköpfige, international besetzte Band aber live intoniert haben. Die Gitarristen wechselten je nach Song ihr Gitarre, Gianna ihre Jacke mehrmals und vermied in ihren Ansagen jedes englische Wort.

Bis auf ein paar Worte in gebrochenem Deutsch ging’s hier ausschließlich italienisch zu, was nicht nur meine Mitsingfähigkeiten arg einschränkte. Manch Refrainzeile konnte Gianna dennoch rein vom Publikum singen lassen. Dieses wies ein erhöhtes Durchschnittsalter auf, oder um es positiver zu formulieren: Es bestand aus zahlreichen seit Jahrzehnten loyalen Fans. Und darunter waren neben augenscheinlich völligen Normalos auch Rockfans mit AC/DC-Shirt, ein Metal-Shirt habe ich auch gesichtet, jedoch keine Betrunkenen, keine Rempler oder ähnliche Klientel. Verdientermaßen erhielt das Hamburger Publikum einen mehrere Songs umfassenden Zugabenblock, darunter „Nel blu, dipinto di blu“, besser bekannt als „Volaaaareeee!!! Ooohoo!!!“, einer meiner ewigen Favoriten: die herzergreifende Ballade „Meravigliosa creatura*“, und ganz am Schluss der ultimative Flashback zur Fußball-WM 1990 in Italien, der von Giorgio Moroder komponierte und von Nannini seinerzeit zusammen mit Edoardo Bennato gesungene offizielle WM-Song „Un’estate italiana“. Hach. Die Urlaubsstimmung hatte ihren Höhepunkt erreicht, wenngleich wir am nächsten Tag wieder zur Maloche mussten.

Ok, kein „Un Ragazzo Come Te“, kein „Kolossal“, aber meckern kann ich über die Songauswahl nicht.  Blöd nur, dass ich ausgerechnet während „Hey Bionda“ auf dem Klo war (ähnlich wie kürzlich während „Heart“ bei den PET SHOP BOYS – offenbar pinkle ich Hits), aber wie auch immer: 68 muss das neue 42 oder so sein, jedenfalls hatte Gianna ordentlich Pfeffer im Hintern, klang ihre Stimme herrlich verraucht wie eh und je und war die ganze Band in bester Spiellaune. Großen Respekt vor dieser Frau!

Einen Absacker gab’s anschließend noch im Biergarten des Lesecafés des Parks, wo man sich aufs Konzertpublikum mit entsprechender Musik aus der Anlage und Bierbestellschnellstraße eingerichtet hatte. Für mich war’s mal wieder ein etwas anderes Konzert, das sich gelohnt hat und schlicht Spaß machte – nicht nur, weil es mir eine ‘80er-Hitdosis nach der anderen injizierte. An meine fixe Idee, Nannini mal live sehen zu wollen, kann ich jetzt ‘nen Haken machen. Und wenn’s nach mir geht, muss es nicht das letzte Mal gewesen zu sein. Ich glaube, ich werde mich die Tage mal ein wenig durch ihr Spätwerk hören…

*) Was sich wie eine fiese Beleidigung oder der Name einer Death-Metal-Band anhört, heißt übersetzt nichts anderes als „Wunderbares Wesen“.

10. + 11.06.2022, Gaußplatz, Hamburg: GAUSSFEST 2022

Endlich wieder Gaußfest! Das Open-Air-Festival des Wagenplatzes im Herzen Altonas mit anschließendem (traditionell ohne mich stattfindendem, weil sonntäglichem) Fußibuff hatte ich 2019 aus irgendwelchen Gründen verpasst, die vergangenen beiden Jahre war’s pandemiebedingt ausgefallen. Pünktlich zum 30-jährigen Bestehen des Platzes (Glückwunsch!) aber lud man wieder bei freiem Eintritt und Inflation, Krise und Krieg zum Trotz stabilen Preisen (Halber Liter kaltes Markenbier: ein schlapper Euro! Warme Mahlzeit: ein schlapper Euro!) zur rustikalen Punkparty. Freitag war ich erst noch mit DMF im Proberaum, wo’s bereits feuchtfröhlich zuging. Besuch war da, die Kannen kreisten. In kleiner Gruppe ging’s schließlich auf den Platz, wo mit LIQUOR SHOP ROCKERS und FRONTALANGRIFF leider gleich zwei Bands krankheitsbedingt hatten absagen müssen.

Die Berliner SPLITTIN‘ IMAGE hatten wir verpasst, über sie war nur Positives zu vernehmen. Das kolumbianische Frauentrio POLIKARPA Y SUS VICIOSAS hingegen fing gerade an und zockte begeisternden, mitreißenden Hardcore-Punk mit wechselndem Gesang in Landessprache, der zurecht schwer abgefeiert wurde. Besonders die Drummerin hatte ein sehr brutales Organ. Ich war von der Menschenmasse und den vielen bekannten Gesichtern erst einmal überfordert – zu lange war so etwas zuletzt her gewesen. Eigentlich hatte ich mir auch vorgenommen, nicht so doll zu machen, um am nächsten Tag fit und pünktlich zu erscheinen, aber das war natürlich wieder leichter gesagt als getan. Hier ‘nen Plausch, da ein Anstoßen, noch ‘n Bierchen, na klar…

Und dann folgte auf den famosen Gig der Kolumbianerinnen zu allem Überfluss das Hamburger Elektropunk-Duo KID KNORKE & BETTY BLUESCREEN, das überraschend eingesprungen war. Mit seinen Elektroklängen polarisierte es, brachte diejenigen, die ihm zusprachen, aber zum Tanzen und überzeugte nicht zuletzt mit seiner Show voller Laser und Blingbling bei mittlerweile nächtlichem Firmament. Mit meiner gewissen Schwäche für Synthiepop in Kombination mit meiner Partylaune und entsprechendem Pegel lief mir das gut rein, zumal offenbar tatsächlich viel kreative Arbeit und Liebe zum Detail dahintersteckt. Machte Laune und traf den Nerv vieler Besucherinnen und Besucher, die sich den Stock aus dem Arsch gezogen haben. Anschließend gelang mir glücklicherweise der Absprung nach Hause.

Mit nur leichtem Kater traf ich ohne meine Gruppe vom Vortag, dafür mit meiner Liebsten gegen 18:00 Uhr ein, labte mich am Kokosgemüsecurry und vernahm die irritierenden ersten Klänge des Darmstädter Folklore-Duos THE INVASION. Phoenix erinnerte mich mit seinem Auftreten an Dennis Rodman, seinen Bass spielte er wie ‘ne Gitarre und jaulte dazu in schrägen Tönen. Drummer Bubblegumtrash spielte den Beat dazu und verfiel hin und wieder in schön räudiges Geschrei. Die Performance hatte Freejazz-Charakter, manch bekannte Melodie von Paulchen Panther bis zum House of the Rising Sun wurde vergewaltigt. Immer mal wieder bahnte man sich durchs Publikum, mal einer auf dem anderen huckepack, meist jedoch Phoenix allein, der mit dem Hals seines Instruments die um die verzückt tanzenden Schmerzbefreiten herumstehenden und mal ungläubig, mal fassungslos dreinblickenden, oft aber auch debil grinsenden Schaulustigen umzumähen Gefahr lief. Am Schluss des auffallend langen Sets war reichlich Konfetti geworfen worden – und ich am meisten schockiert darüber, dass Phoenix tatsächlich zwischendurch seinen Bass immer mal wieder nachgestimmt hatte. THE INVASION seien nicht repräsentativ für unsere Musik, erklärte ein Stammgast seinem offenbar erstmals mitgekommenen, verdutzten Besuch. Das kann man so sehen.

Der Trend geht zum Duo, denn auch die französischen AL’HYENA LUNA waren nur zu zweit und damit bereits der dritte solche Act auf diesem Festival. Die Sängerin und Bassistin spielte ihr Instrument ebenfalls mehr wie eine Gitarre, dazu ein Drummer – das war’s. Der Sound: Angepisster D-Beat. Dem Bandcamp-Profil nach zu urteilen gab‘s zumindest mal einen Dritten im Bunde. Und tatsächlich fehlte mir hier ein bisschen was. Klang eben nach D-Beat mit französischen Texten, relativ unspektakulär, nichtsdestotrotz für ein Duo sehr respektabel heruntergeholzt. Sicherlich ist dieser Sound repräsentativer für unsere Musik, wenn man so will – den spektakuläreren Auftritt hatten aber THE INVASION hingelegt.

Letztlich ist das natürlich wie Äpfel mit Birnen zu vergleichen, weshalb ich mir weitere solcher Gegenüberstellungen verkneife. MALAKOV aus Braunschweig und Gelsenkirchen machen mir dies leicht, da sie tatsächlich in fast schon übertriebener Quintettgröße auftraten. Auf die Ohren gab’s amtlichen deutschsprachigen Punkrock mit Tempo, Schmackes und schön kehligem Gesang. Besonders haftengeblieben ist bei mir ein Stück mit ausgedehnter ruhigerer Passage und wiederholter „Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen“-Aufforderung. Aus den zwei Gitarren könnten MALAKOV noch etwas mehr herausholen, würden sie seltener das Gleiche spielen, den Tagessieg verhindert das aber natürlich nicht. Der Platz war mittlerweile wieder rappelvoll und als Zugabe gab’s TOXOPLASMAs „Ordinäre Liebe“, mitgebrüllt aus vielen heiseren Kehlen. So die Digitalpunks scheinen die Herren nicht zu sein, im Netz ist kaum etwas über sie zu finden. Ich weiß auch nicht, ob’s irgendeinen Tonträger gibt. Deshalb hier einfach mal ein Video, das auf einem anderen Open Air mitgeschnitten wurde:

Mittlerweile hatte ich ganz gut einen im Tee, es dämmerte und die Vorfreude auf die als eigentlichen Tageshöhepunkt gehandelten AKRABUT aus Israel stieg. Durch seine Verbindung zu den CITY RATS pflegt der Gaußplatz schon seit etlichen Jahren eine Freundschaft zu israelischen Punks. Unter anderem aus CITY-RATS-Mitgliedern rekrutieren sich auch AKRABUT, die einen rohen HC-Punk-Stiefel mit hebräischen Texten spielen, auf ihren Platten aber besser klingen als an diesem Abend. Der Gitarrensound bestand quasi nur aus Crunch, die Drums waren sehr in den Vordergrund gemischt. So richtig abgeholt hat mich das nicht; mir war’s ‘ne Weile zu krachig, wenngleich der Drummer sehr tight durchholzte und sich der Sound nach hinten raus zu bessern schien. Die „Hiroshima Palastina“-EP macht mir dagegen richtig Spaß. Die Ansagen gab’s in englischer Sprache und bestätigten mich in meiner Ansicht, dass, wer sich im Israel-Palästina-Konflikt stramm auf eine Seite stellt, reichlich suspekt ist – gleich ob „Antideutscher“ oder Israel am liebsten als ersten aller Nationalstaaten abschaffen wollender Antisemit. Vielmehr gilt es, sich mit progressiven Kräften beider Seiten zu solidarisieren – und AKRABUT scheinen zu diesen zählen.

Dieser sehr musikfokussierte Bericht vermittelt möglicherweise einen falschen Eindruck: Beim Gaußfest geht’s nicht unbedingt hauptsächlich um die Live-Acts, im Prinzip hätte ich auch mit keiner einzigen Band etwas anfangen und trotzdem meinen Spaß haben können. Das Gaußfest ist in erster Linie eine riesige Party in meist entspannter Atmosphäre und vielen Gästen von außerhalb. Dieses Jahr gab’s so wenig Glasbruch, dass zahlreiche Mädels barfuß tanzen konnten. Ein Vertreter eines ebenfalls sein 30-jähriges Jubiläum feiernden Schweizer Platzes war vor Ort und unterhielt sich mit uns in seinem drolligen Akzent. Ein Feuerspucker sorgte zwischen den Gigs für spektakuläre Unterhaltung, indem er sich ständig fast die Fresse zu verbrennen schien, und Höppi führte sein herzallerliebstes Punkrock-Marionettenspiel auf. Im Nachhinein ist’s nur etwas schade, dass ich am Freitag so gar keinen Sinn für das opulente Büffet hatte, das in der Platzkneipe El Dorado aufgebaut worden war und mit zahlreichen Leckereien aufwartete, als befände man sich im Luxushotel… Vornehm und mit Punk-Soundtrack geht die Welt zugrunde! Auf die nächsten 30 Jahre Gaußplatz!

05.06.2022, Barclays-Arena, Hamburg: PET SHOP BOYS

Es gibt diese Momente, in denen man über eine Konzertankündigung stolpert, die so gar nichts mit Subkultur zu tun hat, aber einen Act betrifft, der einen – mal mehr, mal weniger – schon sein ganzes Leben lang begleitet und sich nicht nur mit einer Handvoll Evergreens im Langzeitgedächtnis festgesetzt hat, die man in unregelmäßigen Abständen immer mal wieder hervorkramt, sondern der auch im Radio nach wie vor omnipräsent ist und sogar weiterhin regelmäßig abliefert. Das britische Synthie-Pop-Duo PET SHOP BOYS ist so ein Fall. In den 1980ern haben Neil Tennant und Chris Lowe diesen Musikstil und aufgrund ihres immensen Erfolgs die Populärkultur jener Dekade mitgeprägt und waren seitdem nie weg. Die PET SHOP BOYS entwickelten sich musikalisch weiter, modernisierten ihren Sound und landeten immer mal wieder Treffer, die auch mich erreichten. Dies gelang ihnen vor allem mit der „Agenda“-EP aus dem Jahre 2019, mit der sie sich auf ihren ‘80er-Stil zurückzubesinnen schienen.

Als ich irgendwann 2019 oder Anfang 2020 davon erfuhr, dass sie auf Tour kommen würden, unterlag ich meiner diffusen Schwäche für ‘80er-Synthie-Pop und gelang es mir gerade noch, zwei Karten für den Hamburg-Gig im Mai 2020 zu besorgen. Dann kam die Covid-19-Pandemie und die Tickets landeten auf dem Stapel unbekannt verschobener Veranstaltungen. Der Ersatztermin 2021 fiel ebenfalls dem Virus zum Opfer, aber am Pfingstsonntag ’22 sollte es tatsächlich klappen! Die einst von O2-Arena in Barclaycard-Arena umgetaufte große Halle heißt mittlerweile Barclays-Arena, aber unsere alten Tickets besaßen noch immer Gültigkeit. Nach einer kräftigen Stärkung am Imbiss ging’s per S-Bahn nach Stellingen, wo wir ob des hervorragenden Wetters auf den Shuttle-Bus pfiffen und uns in einem Pulk weiterer PET-SHOP-Hools durch Parkanlagen hindurch den Weg zur Was-auch-immer-Arena bahnten. Bald hatte ich meinen Denkfehler bemerkt, das Publikum bestünde mit Sicherheit größtenteils aus Teenies, die die Band seit den ‘80ern hören. Ähm… Angesichts der tatsächlichen Besucherinnen und Besucher witzelten wir dann, dass wir uns statt vor einer Wall of Death vor einer Wall of Mums and Dads in Acht würden nehmen müssen.

Meine letzte Vorglüh-Pilsette zischte ich in der langen Schlange am Einlass, die erstaunlich schnell voranschritt. Der Grund: Taschen und ähnliches Gedöns jagte der Sicherheitsdienst kurzerhand durch Metalldetektoren und Impfnachweise entfielen. Der halbe Liter Bier kostet in der Arena mittlerweile amtliche 6 Öcken, ‘ne Piña Colada dafür nur 50 Cent mehr – und wenn man den richtigen Bierstand erwischt, gibt’s immerhin Duckstein statt Holstenplörre. Das Publikum setzte sich augenscheinlich aus einem Mainstream-Publikum in den besten Jahren, aber auch einigen Jüngeren, der „Zumindest einmal gesehen haben und ‘nen Haken dran“-Konzerttouri-Fraktion sowie ein paar ’80s-Abkultern zusammen. Ein Typ lief mit langen Haaren, Sonnenbrille, pinkem Stirnband, ebensolcher Tigerhose und „I Love The 80s“-Shirt rum, ein anderer sprach mich auf die HC-Aufnäher auf meiner Kutte an und versicherte, eigentlich auch eher aus jener Ecke zu kommen, aber nun einmal ebenfalls auf geilen ‘80er-Scheiß zu stehen.

Der Kartenkauf lag derart lange zurück, dass ich kaum etwas übers Konzert wusste. So hoffte ich, dass die PET SHOP BOYS nicht in erster Linie ein neues Album promoten, sondern möglichst viele Klassiker spielen würden – ohne mir bewusst zu sein, dass ich ein Konzert der „Dreamworld – The Greatest Hits live”-Tour besuche, ich also jeden Klassiker zu hören bekommen werde! Dass meine Liebste und ich uns mitnichten im Innenraum aufhalten werden, sondern zwei Sitzplätze auf dem Unterrang erworben haben, wurde mir ebenso erst auf dem Hinweg wieder klar wie der Umstand, dass es keinerlei Vorgruppe geben würde. Um 20:00 Uhr sollte es losgehen, ca. zehn Minuten vorher fanden wir uns auf unseren Plätzen ein und lauschten belangloser Fahrstuhlmusik in Endlosschleife. Die Herren ließen sich bitten, der Beginn verzögerte sich um ca. zehn Minuten. Als dann „Smalltown Boy“ von BRONSKI BEAT durch die gigantische Anlage schallte, atmeten alle, die ebenfalls von der vorausgegangenen Mucke genervt waren, erleichtert auf – und, ja: Das hatte doch schon mal Atmosphäre.

Nicht nur die Ränge waren bestuhlt, auch der Innenraum, was den Unterschied zwischen den Bereichen minimierte. Und als die BOYS auf der Bühne auftauchten und direkt mit der Working-Class-Synthie-Oi!-Hymne „Suburbia“ einstiegen, hielt es niemanden mehr auf den Stühlen. Mr. Tennant und Mr. Lowe allerdings standen in ihrer spacigen Kostümierung stoisch unter zwei Straßenlaternen, Lowe natürlich hinter seinem Keyboard (mit Monitor), und zeigten keinerlei Regung, während im Hintergrund digitale Animationen flimmerten. Sollte das den Rest der Show über so bleiben?

Nun ja, dass wir die beiden kaum erkannten, da sie nicht in Ausschnitten vergrößert auf die seitlichen Videoleinwände geworfen wurden: ja. Die Show an sich wechselte ab dem dritten Song jedoch beständig, ebenso die Hintergrundanimationen, in denen sich fiebrig tanzende Elektroimpulse mit Musikvideo-Ausschnitten abwechselten. Ständig wurde unbemerkt etwas umgebaut, kamen z.B. Percussionists auf die Bühne oder wechselten Aufbauten, Hintergründe und Kostüme. Warum man auf die Vergrößerungen auf den Videoscreens verzichtete, begriff ich mit der Zeit: Es hätte von der Show abgelenkt, die genau so aussehen sollte, wie sie sich einem präsentierte. Die BOYS als Teil davon, nicht überlebensgroß über ihr stehend. Elektronische Kälte und Stoizismus, konterkariert vom tanzbaren Songmaterial mit Tennants warmer, sanfter, dennoch charismatischer Stimme und dem melancholischen Touch so vieler Stücke. Auf „Suburbia“ folgte mit „Can You Forgive Her?“ ein Höhepunkt aus den 1990ern, „Opportunities (Let’s Make Lots of Money)“ hatte ich so gar nicht auf dem Schirm, überzeugte live aber vollends, „Where the Streets Have No Name (I Can’t Take My Eyes Off You)“ übernahm und gab den Staffelstab ans großartige „Rent“, „Se a vida é“ war einfach, ja: schön, und vor „Domino Dancing“ nahm sich Tennant etwas Zeit, um die Entstehung des Songs zu erläutern. Den Refrain ließ man ausschließlich vom Publikum singen, ebenso später die Bridge von „Always On My Mind“, jener BRENDA-LEE-Coverversion, mit der einst Elvis große Erfolge feierte und die von den PET SHOP BOYS bis an den Rande des Schlagers – aber eben wirklich nur bis dorthin! – adaptiert wurde und ich in mein Herz geschlossen habe. Duettpartnerin für „What Have I Done To Deserve This?” war Clare Uchima, die sich zu den BOYS auf die Bühne gesellte.

Songs, die ich nicht kannte oder mir nicht mehr geläufig waren, hielten sich mit meinen favorisierten Hits die Waage, „Monkey Business“ und „Dreamland“ (auch mit Uchima) vom aktuellen Album „Hotspot“ waren die jüngsten Stücke. Natürlich war die eine oder andere Nummer dazwischen, die mich nicht gleich zu Begeisterungsstürmen hinriss und ich eher unter „nett“ oder „ok“ einordnen würde, aber richtigen Mist habe ich nicht vernommen, im Gegenteil: Sehr gefreut habe ich mich über „You Only Tell Me You Love Me When You’re Drunk”, von dem Tennant in seiner Ansage meinte, dass es in Deutschland vielleicht kaum jemand kennen würde, da das Stück in erster Linie in der britischen Heimat ein Hit gewesen sei. Tennant schnappte sich doch tatsächlich eine Akustikklampfe und begleitete sich selbst. Ein besonderer Moment zwischen all den Elektroklängen. Ausgerechnet bei „Heart“, einem meiner ewigen Favoriten (der Videoclip!) war ich pinkeln und Getränkenachschub organisieren. Letzteres ging übrigens stets sehr flott, denn bei so einem PET-SHOP-BOYS-Konzert wird offenbar wesentlich weniger gesoffen als anderswo. Erstaunlich, ich weiß. Das VILLAGE-PEOPLE-Cover „Go West“ war ebenso gesetzter Standard wie die (Nicht-nur-)LBGTQ-Hymne „It’s A Sin“, mit dem der reguläre Teil endete.

„West End Girls“ und „Being Boring“ als Zugaben besiegelten ein satte 26 Songs umfassendes Konzert, bei dem ich entweder dauergrinsend und im Takt wippend dastand oder euphorisiert mitsang – und nicht so recht verstand, weshalb es mir nicht alle in der Arena gleichtaten. Aber damit wir uns nicht falsch verstehen: Die allgemeine Stimmung war trotzdem gelöst, fröhlich und absolut entspannt. Was da letztlich alles vom Playback kam, kann ich natürlich nicht mit Gewissheit sagen, aber Tennant sang selbst und dass man sich die Mühe machte, zeitweise zwei Percussionsets aufzubauen und zu spielen, spricht dafür, dass man versuchte, so viel wie möglich live darzubieten. Auf diese Weise gefällt mir Techno-Muffel dann so’ne Show auch. Sound, Lightshow, Songauswahl, Tennants nicht gealterte Stimme – alles knorke, mit zwei Einschränkungen: Schade, dass nichts von „Agenda“ gespielt wurde; und die Lightshow verhinderte durch ihr quasi permanentes Gegenlicht, dass Madame und moi vernünftigere Fotos schießen hätten können. Gibt Schlimmeres. Das war dann also mein erstes richtiges Konzert einer Band aus dem goldenen Pop-Zeitalter – und hoffentlich nicht mein letztes. Kann mal bitte endlich jemand Cyndi Lauper nach Hamburg holen…?!

P.S.: Im Eintrittspreis inbegriffen war ein tatsächlich durch die Bank weg überaus freundliches und bei Fragen hilfsbereites Personal, zudem dürfte es sich um einen der Hamburger Veranstaltungsorte mit den meisten und saubersten Toiletten handeln. Dass man offensichtlich ums Wohlbefinden seiner Gäste bemüht ist, relativiert dann zumindest ein Stück weit den verglichen mit anderen Veranstaltungen, die wir für gewöhnlich besuchen, recht hohen Ticketpreis…

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