Günnis Reviews

Autor: Günni (page 7 of 107)

12.07.2024, Lobusch, Hamburg: THRASHING PUMPGUNS + GIF

Die Hamburger THRASHING PUMPGUNS luden zum Record-Release-Gig ihres nach „The Lord is Back“ aus dem Jahre 2014 (echt schon zehn Jahre her?!) zweiten Albums in die Lobusch. Das konnte natürlich nur gut werden. Als Vorband hatte Shouter Rolf die seit letztem Jahr existierenden JPEG PNG GIF verhaftet, nachdem er sie auf dem Gaußplatz live gesehen hatte. Verständlich, denn das sich, wenn ich richtig informiert bin, aus Mitgliedern von ATTACK OF THE MAD AXEMAN und KSM40 zusammensetzende Quartett spielt musikalisch einwandfreien, schnörkellosen und vom Drummer mit flottem, wuchtigem Punch vorangetriebenen Hardcore, zu dem der vor statt auf der Bühne agierende Shouter überwiegend deutschsprachige, prägnant auf den Punkt gebrachte Texte herausschreit, die sich kritisch mit den Begleiterscheinungen von Kokainkonsum („König Kunde“), dem Klimawandel („Anthropozän“) oder auch zynischem Gelächter („ROFL“) auseinandersetzen. Mit „Tot geboren“ coverte man BLITZKRIEG bzw. BOSKOPS, „Es Mentira“ war ‘ne spanischsprachige Nummer und weil vehement Zugaben gefordert wurden, zockten GIF noch „Löschkalk“ und „Friedensnobelscheiß“, bis dem Gitarristen ‘ne Saite riss. Nach gut 30 Minuten war Schluss. Geiler Gig, geile Band – geht absolut klar! GIF haben ein Tape draußen, anhören kann man es sich auch auf Bandcamp: https://gifpunk.bandcamp.com/album/das-lachen-der-hyaene

Beim HC-/Thrash-Crossover-Sound der THRASHING PUMPGUNS rappelte es dann so richtig in der mehr als gut gefüllten (und an diesem Sommertag entsprechend temperierten) Kiste. Man zockte einen bunten Mix aus Klassikern und neuem Material, das zwar auf Vinyl erhältlich war, aber zumindest Stand heute noch nicht im Netz zu finden ist. Wie schon bei GIF war der P.A.-Sound schön druckvoll, und hier kamen auch die beiden Gitarren relativ differenziert durch. Erstmals sah ich die Band mit meinem Bandkollegen Holler am Bass, der seine Sache absolut souverän zu meistern schien. Die beiden ehemaligen Bandmitglieder Flo und Oli befanden sich im Publikum und alle hatten Bock auf Party, die die Band mit Entertainer Rolf am Mikro dann auch wie bestellt abfackelte. Nach wenigen Songs war vor der Bühne gut was los, die speedigen Riffs flogen einem nur so um die Ohren und manch launige Ansage sorgte für zusätzliche Kurzweil. Vic an den Drums haute kräftig auf die Pauke und schwitzte sämtliche Klamotten durch. Der MANOWAR-Diss-Track „Girlowar Not Manowar“ hat das Zeug, die True-Metal-Fraktion zu vergrätzen, aber die war gar nicht da. Was von der Decke tropfte, war übrigens kein Schweiß, sondern Rolfs Rotze, die er dort verteilte, bis sie sich wie glibberige Stalaktiten abseilte… Wie viele Songs genau gespielt werden würden, hatte sich laut Holler erst während des Gigs entschieden; dafür gab’s dann wie üblich bei den PUMPGUNS keinen Nachschlag in Form einer klassischen Zugabe, immerhin aber noch ‘nen kleinen Jam. Astreines Oldschool-Crossover-Geschrote, das demnächst wohl auch quer durch die Republik getragen werden wird. Viel Erfolg mit der neuen Platte (die ich mir mangels verbliebenem Kleingeld in der Tasche noch nicht direkt mitnahm – aufgeschoben ist aber nicht aufgehoben) und hoffentlich auf bald mal wieder!

Danke an den eigens aus dem hohen Norden angereisten Rohrpost-Torben, auf dessen Fotofundus ich zurückgreifen durfte – alle mit „Foto: TR“ markierten Bilder stammen von ihm!

Mad-Taschenbuch Nr. 4: Don Martin dreht durch

Es musste ja so kommen: Nachdem „Mad“-Stamm- und Kultzeichner Don Martin bereits die Taschenbuchreihe hatte eröffnen dürfen, schnappte er über, als man ihm sagte, dass auch die Nummer 4 wieder ihm ganz allein gewidmet sein würde. Im US-amerikanischen Original erschien diese im Jahre 1974, ein Jahr später stand die deutsche Fassung in den Regalen der Hochliteratur. 160 unnummerierte Schwarzweiß-Seiten strapazieren das Zwerchfell, für die Dick de Bartolo Don Martin bei den Texten unterstützte.

Die versammelten Cartoons und Geschichten erstrecken sich über drei bis etliche Seiten, wobei mit dem Platz großzügig umgegangen wird, weisen sie doch in der Regel lediglich ein Panel auf. Eines der Herzstücke des Buchs ist das eigentliche Taschenbuch-Debüt Käpt’n Hirnis, der hier seltsamerweise noch „Privatdetektiv Feinbein“ heißt und es mit dem „Unhold mit den 1000 Gesichtern“ zu tun bekommt. Schön, wie dort die Schwarzweiß-Gestaltung für einen Telefon-Gag aufgegriffen wird. Ebenfalls recht viel Platz nimmt die Zoologie-Persiflage „Die Küchenschabe als solche“ ein. Wie später im Taschenbuch Nr. 38 findet sich auch hier eine „Die Fliege“-Verballhornung und „King Kong“ bzw. das Hollywood’sche Film-Biz werden ebenfalls kräftig aufs Korn genommen.

Die Macken des Taschenbuch-Debüts wurden ausgemerzt, übrig blieb pures Don-Martin-Destillat, gewonnen aus schrägem Anarcho-Slapstick-Humor, herrlich karikierendem Strich und kreativem Gebrauch von Soundwords. Schön, dass ich diese Lücke endlich habe schließen können.

06.07.2024, Indra, Hamburg: St. Pauli Punk Festival #5 mit COCK-UPS + FREVEL + ASTRA ZOMBIES + DISILLUSIONED MOTHERFUCKERS + FIRST-CLASS LEG SPACE

Die von Bitzcore-Juergen organisierten St.-Pauli-Punk-Festivals – eintägige Indoor-Festivals mit jeweils vier bis fünf lokalen Bands – gingen in die fünfte Runde und nachdem wir vor ‘nem guten halben Jahr bereits bei der mehr oder weniger improvisierten #3 dabei waren, durften wir erneut ran. Diesmal konnte man auch seine eigenen Amps mitbringen, statt seinen Sound über einen Kemper simulieren zu müssen, konnte sich somit seinen gewohnten Bühnensound zurechtpfriemeln, und bei der P.A. funktionierten auch die Tieftöner wieder. Das waren schon mal gute Voraussetzungen. Um 20:00 Uhr sollte es losgehen und obwohl die Boxen für die Bühne erst kurz vor knapp kamen, wurde der Zeitplan glaube ich weitestgehend eingehalten. Keine der Bands habe ich ihren kompletten Auftritt lang konzentriert verfolgt, weil ich viel zwischen Backstage, Merch-Stand und Biergarten hin und her lief, aber doch jeweils genug mitbekommen – zumal der Sound eigentlich überall (außer im Backstage) gut zu vernehmen war. FIRST-CLASS LEG SPACE machten mit punkigem Alternative Rock den Anfang, der mir dann am besten gefiel, wenn der gut aufgelegte, bewegungsfreudige Sänger etwas rauer zur Sache ging. ‘ne Offbeat-Nummer inklusive Tröteneinsatz gab’s auch, doch auch ohne hatte man das Publikum zum Tanzen gebracht – und somit als Opener alles richtig gemacht! (War der letzte Song eigentlich ‘ne Coverversion? Kam mir jedenfalls irgendwie bekannt vor.)

Dann gaben wir uns die Ehre. Monitor- und Bühnensound passten, das war ein großer Unterschied zum Dezember-Gig hier. Um ‘ne ordentliche Anzahl Songs unterzubringen, versuchten wir, relativ stringent und ohne viel Palaver durchzuziehen. Trotzdem gab’s natürlich die eine oder andere Stimmpause, eine überraschenderweise mitten im Song – zunächst dachte ich, Kai sei ‘ne Saite gerissen, was sich zum Glück nicht bewahrheitete. „Wæende“ mussten wir allerdings abbrechen und von vorn beginnen, weil ich Depp meinen Einsatz vergessen hatte. Ebenso erging es mir mit der Hälfte der letzten Strophe, die ich glatt unterschlug. Dat üben wir noch mal… Dafür feierte das größtenteils von unserem Ex-Drummer Dr. Tentakel getextete „Straße“ (Arbeitstitel) seine Live-Premiere. Ansonsten gaben wir uns glaube ich keine allzu große Blöße. Auch wir brachten einige Leute zum Zappeln und erhielten Zuspruch, der sich auch am Merchstand bemerkbar machte. Bei den knackigen Temperaturen im Indra geriet der Gig wie so oft zu ‘ner Art Workout; umso angenehmer war dann das Klima im Backstage, wo das Schraibfela-Video-Fanzine ein Kurzinterview mit uns führte (wie übrigens auch mit allen anderen Bands).

Die MISFITS-Coverband ASTRA ZOMBIES hatte im Anschluss mehr zu bieten als lediglich das Nachspielen der altbekannten Horrorpunk-Gassenhauer, denn zum einen fanden sich auch ein paar nicht ganz so populäre (bzw. zumindest mir nicht so geläufige) Nummern im Set und zum anderen hatte man keinen Möchtegern-Danzig am Mikro, sondern eine Sängerin, die mit ihrer tollen Stimme die Songs in einem ganz anderen Licht erstrahlen ließ. Alle Bandmitglieder waren stilecht geschminkt, der Gitarrist im Jason-Voorhees-Look sogar unter seiner Eishockey-Maske, damit’s an deren Rändern hübsch modrig durchscheint. (Ich hoffe, das war jetzt keine versehentliche „Maske? Welche Maske…?“-Taktlosigkeit von mir.) Und das bei den Temperaturen – Respekt! Vorbehaltlos zu empfehlende Band, die entsprechend bejubelt wurde. An Halloween übrigens live im Monkeys Music Club!

FREVEL packten wieder die grobe Kelle aus und wüteten sich durch ein deutsch- und englischsprachiges Hardcore-Punk-Set, dessen RAWSIDE-Einflüsse (von denen Shouter Tim auch ein Shirt trug) unüberhörbar waren – was ja nun beileibe keine verkehrte Inspirationsquelle ist. Songs voller authentisch rüberkommender Aggression gegen „Bullen, Bonzen, BRD“ (so der Name des Albums), gespielt mit ‘ner gut ballernden, Druck erzeugenden Rhythmusfraktion und ‘ner sehr kompetenten, sägenden Metal-Klampfe. Tim hielt es nicht dauerhaft auf der Bühne, stattdessen ging er auf Tuchfühlung mit dem Mob davor. Gecovert wurde „Greif ein“ von DRITTE WAHL und „Fascist Scum“ als Zugabe ein zweites Mal dargereicht. All das wurde dankend angenommen, gefeiert und war teilweise gar nicht so weit weg von dem, was wir so machen. Vielleicht sollte man mal zusammen zocken?

Mit meiner anderen Band hatte ich 2016 mal zusammen mit COCK-UPS in Rotenburg gespielt, sie seitdem aber nicht mehr zu Gesicht bekommen. Von der Besetzung ist seit damals nur noch Bandkopf und Sänger Sven übrig, an der Schießbude aber nun ein Altbekannter: Jaybee, der u.a. in den ‘90ern bei LA CRY spielte. Ich glaube, die Band ist etwas härter geworden, jedenfalls hat Jaybee ‘nen ordentlich treibenden Punch. Musikalisch geht’s stark Richtung UK-’82-HC- und Chaos-Punk, der aber immer mal wieder durch kleine Gitarrenmelodien und Soli aufgelockert wird. Ansonsten geht’s schnörkellos und relativ puristisch zur Sache und Sven bellt sich amtlich durchs Repertoire. Ein Teil der zahlenden Gäste schien mittlerweile ein wenig ausgelaugt und müde zu sein, andere genossen aber auch diese Adrenalinkicks noch in vollen Zügen, bevor irgendwann Feierabend war. Danke übrigens für Stellen des Drumsets!

Alles in allem war’s ‘ne geile Party bei durch die Bank weg gutem, wuchtigem Sound (Danke, Andy!), wenngleich parallel das Wohlwill-/Brigittenstraßenfest mit zwei Open-Air-Gratis-Punkrock-Bühnen gleich um die Ecke stattfand. Dafür hatte sich dann doch eine ansehnliche Anzahl Besucherinnen und Besucher ins Indra verirrt. Juergen führt dort diese Festivals in schöner Regelmäßigkeit vierteljährlich durch und ich kann, auch unabhängig von etwaigen Straßenfesten oder „Konkurrenz“veranstaltungen, nur hoffen, dass sich das für alle auch wirklich lohnt. Uns als Bands kann’s egal sein, wir dürften alle unseren Spaß gehabt haben! Nur scheint mir das Indra nach wie vor etwas überdimensioniert für diese Festivals, solange kein zugkräftiger, „großer“ Name dabei ist. Läden wie die Lobusch oder die Gängeviertel-Druckerei hingegen wären wahrscheinlich voll gewesen. Und die eine oder andere Werbemaßnahme (Flyer, Plakate, Fratzenbuch-Event) etwas früher anzuberaumen, hätte sicherlich nicht geschadet 😉 Wie auch immer, das Konzept hinter diesen Lokalfestivals ist ‘ne feine, unterstützenswerte Sache.

P.S.: Auch diesmal wurden mit Profiequipment Audioaufnahmen aller Auftritte angefertigt und an die Bands verteilt – auch dafür besten Dank! Ebenso danke an Dr. Martin für die Fotos unseres Gigs. Und hier noch das erwähnte Schraibfela-Video:

Frank Schäfer – Zensierte Bücher

Zu meinen favorisierten zeitgenössischen deutschen Autoren sowohl im Sachbuchbereich als auch in der Belletristik zählt der Braunschweiger Literatur- und Musikexperte Frank Schäfer, ohne dessen im Jahre 2007 im Erftstädter Area-Verlag erschienener, rund 400-seitiger Abhandlung über von der Zensur betroffene Bücher ich nicht mehr auszukommen beschloss und sie mir neben Bud Spencer, Eis am Stiel und diversen Comics als Urlaubslektüre einpackte.

Der hübsch gebundene Schmöker widmet sich 32 verschiedenen Werken quer durch die Literaturgeschichte, enthält eine Handvoll Interviews und wird von einem ausführlichen, sich über zehn Seiten erstreckenden Vorwort Schäfers eingeleitet. Bis auf eine Ausnahme hat er bereits in „Kultbücher – Was man wirklich kennen sollte“ rezensierte Bücher ausgespart und äußert sich zu Herangehensweise und Selbstverständnis wie folgt:

„(…) außerdem keine Aufnahme findet der neonazistische, rassistische, antisemitische Dreck der rechten Subkultur. Wer sich auf so ein Niveau begeben will, möge dies tun – ich nicht.
Die Forschung zum Thema ist umfangreich, wenn nicht inflationär. Warum also die vielen Regalmeter Sekundärliteratur noch um drei Zentimeter verlängern? Nun, zum einen, weil die bisherigen (oft auch nicht mehr lieferbaren) Arbeiten schlicht veraltet sind, folglich auf die neueren Zensurfälle gar nicht mehr eingehen konnten.
Zum anderen weil eigentlich allen die Literatur selbst aus dem Blick gerät. Man zeichnet detailliert die Publikations- und Rezeptionsgeschichte nach, aber an einer literaturkritischen Auseinandersetzung ist eigentlich so recht keiner interessiert.“ (S. 19)

Das älteste Buch dieses Reigens stammt aus dem Jahre 1749 („Die Abenteuer der Fanny Hill“), die beiden jüngsten aus 2003 („Esra“ und „Meere“); dazwischen finden sich Titel wie „Die Abenteuer von Huckleberry Finn“, „Lady Chatterley“, „Mephisto“, „Unsere Siemens-Welt“, „Harte Mädchen weinen nicht“ und „American Psycho“, also ganz unterschiedlicher Popularität und Qualität. Schäfer arbeitet religiös verbrämte oder von fragwürdigem und mangelndem Kunstverständnis bis hin zu von der Kontinuität der Nazi-Ideologie geprägte Urteile auf und erwähnt mehrere Grundsatzurteile, die im Laufe der Jahrzehnte gesprochen wurden. Die verhandelten Bücher fasst er auf den Punkt gebracht zusammen, beschreibt und analysiert nie zu lang oder ausschweifend, aber bei entsprechend bescheinigter Qualität Lust auf die jeweilige Primärqualität machend, von denen er Eindrücke durch ausführliche Zitate vermittelt. In eigenen Beurteilungen und Kritiken schreibt er differenziert, sprachlich herausragend und eine große Leidenschaft fürs Lesen und Schreiben erkennen lassend – wenn auch immer mal wieder in etwas zu gewollt bildungsbürgerlichem Duktus. Und natürlich lässt er es sich auch nicht nehmen, die jeweiligen Urteilsbegründungen süffisant zu kommentieren. Ein großes Plus des Buchs ist es, dass Schäfer Werke und Urteile zeithistorisch einordnet und auch über Zensurversuche berichtet, die mal den Werken vielleicht sogar nützten, häufig aber den Verlagen immensen Schaden zufügten.

Zumindest Teile Schäfers Texts über Timothy Learys „Politik der Ekstase“ kannte ich bereits aus seinem Woodstock-Buch, sein Interview mit Günter Amendt zum Thema LSD im direkten Anschluss hingegen noch nicht. Nicht nur juristisch besonders interessant wird es im Falle „Josefine Mutzenbacher“, wenn sich die Zensoren der Bundesprüfstelle (BPS), der Schäfer „aggressive Ahnungslosigkeit“ attestiert, sogar über das BVerfGE hinwegsetzen, Verlage in dieser Pattsituation aber trotzdem fröhlich veröffentlichen. Der Witz, mit dem Schäfer über Mutzenbacher schreibt, scheint jenem Werk angemessen. Geradezu schildbürgerlich: Von Henry Millers „Opus Pistorum“ wird eine Neuauflage beschlagnahmt, die Originalausgabe aber bleibt unbehelligt. Unfassbar auch die Begründungen auf S. 321, die tief blicken lassen – spricht aus ihnen doch noch der restauratorische Prä-‘68er-Staat zum einen, der paranoide Cancel-Culture-Staat der Zeit der Terror- und Kommunistenparanoia zum anderen. Da schimpft Schäfer dann auch mal wie ein Rohrspatz – zurecht! Einmal verschlägt es dem eigentlich so eloquenten Autor angesichts hanebüchener Urteilsbegründungen auch glatt die Sprache: Man müsse nicht jeden Blödsinn kommentieren. Das Fazit jedenfalls: Die Bundesprüfstelle agiert verfassungsfeindlich.

Die Zensurversuche gegen Comiczeichner Ralf König und andere Comics in den 1990ern hatte ich damals selbst mitbekommen, auch das erfreuliche Kontra der Populär- und Subkultur. Ein skandalöser Fall von Homophobie im Namen des Jugendschutzes durch bayrische Behörden, das Urteil der BPS fiel glücklicherweise zugunsten Königs aus. Kein Fan ist Schäfer von „American Psycho“, um dessen Indizierung die BPS kurioserweise jahrelang und letztlich vergeblich rang, nachdem bereits 70.000 Exemplare abgesetzt worden waren und das Ding anscheinend unabhängig seines jeweiligen rechtlichen Status ein Bestseller über Jahre hinweg geworden war. Bezeichnend ist es, wie sich die BPS regelmäßig über Expertengutachten hinwegsetzt. Häufig geht es um die vermeintliche Verletzung von Persönlichkeitsrechten und das Abwägen gegen die Kunstfreiheit, so auch im Falle der Autorin Birgit Kempker, die Schäfer ebenfalls interviewte. Zugleich geht es dabei aber auch um den Streisand-Effekt, der sich häufig als Bumerang für die Klagenden erweist.

Interessanterweise findet mit „Esra“ auch ein Fall Berücksichtigung, bei dem eigentlich, so sollte man meinen, das Persönlichkeitsrecht hätte greifen müssen. Schäfer erläutert, warum dem, ungeachtet des seines Erachtens miserablen profilneurotischen Schlüsselromans, nicht so ist bzw. hätte sein sollen. Zudem führte er zu dieser Causa ein Interview mit dem KiWi-Geschäftsführer Helge Malchow. Der letzte Fall, Alban Nikolai Herbsts „Meere“, war bei Drucklegung noch nicht abgeschlossen. Wie er ausging, lässt sich bei Wikipedia & Co. nachlesen.

Viele Prozess- und Urteilsbegründungen offenbaren ein elitäres und dennoch höchstens halbgebildetes Kunstverständnis, das vielleicht die Folge totalitärer deutscher Vergangenheit und ihrer Zensurgeschichte, aber auch einer hochnäsigen Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur ist. Schäfers Buch bietet einen erkenntnisreichen wie unterhaltsamen (also „E“ und „U“ vereinenden) Überblick über deutsche Zensurbemühungen im Literaturbereich und ist ganz sicher nicht nur für, Zitat: „Freunde juristischer Rabulistik“. Lediglich bei seinen Ausführungen zum Fall „Siegfried“ kam ich nicht ganz mit, wenn auf S. 231 von einem Prozess gegen die beiden „Spiegel“-Redakteure die Rede ist. Diese waren es doch (u.a.), die gegen Jörg Schröder geklagt hatten…? Vielleicht hat sich in diesem (mir ansonsten sauber lektoriert erscheinenden) Buch dort lediglich ein falsches Wort eingeschlichen.

Frank, wann kommt eigentlich „Zensierte Musik“?

15.06.2024, Gaußplatz, Hamburg: GAUSSFEST 2024

Der Bauwagenplatz im Herzen der Stadt lud einmal mehr zum zweitägigen Gratis-Open-Air-Festival bei Bier für ‘nen lumpigen Euro sowie Essen und Eis zum Selbstkostenpreis. Das Wetter spielte diesmal nicht ganz so gut mit wie beispielsweise noch letztes Jahr und am ersten Tag musste ich passen, am zweiten ließ ich mir einen Besuch aber nicht nehmen. Zwei Bands hatte ich dennoch auch diesen Samstag schon verpasst; FRONTALANGRIFF, die aktuelle Band um Ex-RAWSIDE- und Ex-TROOPERS-Mitglied Ralle an der Gitarre schienen aber noch nicht allzu lange zu spielen, als ich eintraf. Rustikaler deutschsprachiger HC-Punk der alten Schule aus Berlin, der gut Alarm machte und sich inhaltlich mit den Schattenseiten der Gesellschaft und der menschlichen Existenz auseinandersetzte. Wurde entsprechend gut aufgenommen und machte Lust auf mehr. Es war noch früh am Abend, das Wetter hatte sich bereits seit ein paar Stunden beruhigt und der Platz war neben den Bewohnerinnen und Bewohnern voller Gäste, die Bock auf Party hatten.

Nach relativ kurzer Umbau- und Soundcheck-Phase betrat mit THE SYSTEM eine uralte (1980 gegründete) UK-Anarchopunk-Combo die Bühne, die sich – im Gegensatz zu den alten Aufnahmen – mittlerweile mit weiblichem Gesang präsentiert. Hatte ich beim ersten Song noch die Befürchtung, dort würden ein paar alte Säcke gelangweilt ihr Set runterschrubben, änderte sich dies schon mit der zweiten Nummer: Die Stimme der Sängerin erweitert den Sound um eine reizvolle zusätzliche Klangfarbe, zudem zockte die Band derart tight, dass sich die Mischung aus ’77, Anarcho-Stakkato und UK ‘82 angenehmerweise eher zu letzterem verschob. Die meist mehrstimmigen Refrains blieben im Ohr und ließen sich rasch mitsingen, u.a. weil der von Wurzel gezauberte Sound so gut war, dass der Gesang mitsamt seinem charmanten britischen Akzent schön im Vordergrund stand. Auch wenn die Sängerin wie angewurzelt dastand und lediglich ein bisschen hin und her wippte: Vor der Bühne ging’s nun richtig rund und es wurde fröhlich durch den Matsch gesprungen. So schnell wollte THE SYSTEM dann auch niemand gehen lassen, sodass zwei, drei Songs noch mal als Zugaben über den Platz schallten. Sehr geiler Gig!

BARACKCA aus Budapest, Ungarn (oder wie es die Band sagt: „aus Scheißland“), existieren auch schon seit 1993 und sind sowas wie ‘ne lebende Ostblock-Punk-Legende – wie mir mein Kollege Holler verriet, denn ich hatte die nicht wirklich auf dem Schirm. Der Sound bewegt sich irgendwo zwischen Punkrock und Melodic Hardcore, frei von etwaigen folkloristischen Elementen. Der Sänger machte sämtliche Ansagen auf Deutsch und bereits während des Soundchecks Werbung fürs auf dem Platz angebotene Speiseeis für Mensch und Hund. Während seiner langen, zum Teil ironie- und humorgespickten Einführungen ließ sich prima Punk-Bingo spielen: Gegen Religion: check, gegen Politik: check, gegen Geld, Polizei und Arbeit: check, gegen Grenzen, Krieg und Nationalismus: check, für Hausbesetzungen, Anarchismus, und die Arbeiterklasse: check, für Alkohol: check, für Atomkrieg, damit endlich Ruhe ist: Bingo! Gesungen wurde vornehmlich in Landessprache, zuweilen aber ebenfalls teutonisch, beispielsweise beim „Arbeit ist scheiße“-Song oder beim Alkohollied – inklusive „Jawohl, jawohl, ich liebe Alkohol“-Mitsingpart fürs Publikum. Dieses – und da nehme ich mich keinesfalls aus – hatte seinen Spaß, sodass noch ‘ne Zugabe und sogar ein bisschen mehr durchgepeitscht wurde.

Schöne Bandauswahl wieder, soweit ich es dieses Jahr mitbekommen habe, und bei den Getränkepreisen geht man irgendwann voll wie tausend Ungarn nach Hause und hat nächsten Mittag trotzdem noch ein paar Kröten für die Frühstücksbrötchen auf Tasch‘. Danke den Bewohnerinnen und Bewohnern des Gaußplatzes für die einmal mehr gelungene Sause! Und die Arschlöcher, die am Freitag Teile der sanitären Anlagen zerstört haben, soll der Blitz beim Scheißen treffen! Sind wir hier auf dem Gaußfest oder bei FCSP vs. HRO im Millerntorstadion?!

Bud Spencer – Was ich euch noch sagen wollte…

Der alte Mann und das Netz

Mit der Veröffentlichung der ins Deutsche übersetzten Biographie des Schauspielers Bud Spencers im Jahre 2011, in deren Zuge Spencer auch durch Deutschland tourte, hatte der Verlag Schwarzkopf & Schwarzkopf offenbar einen großen Coup gelandet. Böse Zungen behaupten, dass anschließend die Kuh gemolken werden sollte, solange sie noch Geld gibt, sprich: dass die darauf gefolgten drei (!) autobiographischen Bücher vom Verlag lanciert wurden, um aus dem Phänomen des damals schon kränkelnden und 2016 dann ja auch leider verstorbenen Bud Spencer möglichst viel Kapital zu schlagen. Für diese These sprechen die teuren Sondereditionen (Spencer soll sogar 10.000 (!) Exemplare handsigniert haben) und die etlichen Veranstaltungen, die zusammen mit Spencer durchgeführt wurden – zu einem Zeitpunkt, zu dem man dem Mann in erster Linie Ruhe und Zeit mit seiner Familie gegönnt hätte. Ich weiß es natürlich nicht und habe – Schockschwerenot! – seine ersten drei Bücher (von denen zumindest das erste, „Mein Leben, meine Filme“ vorbehaltlos zu empfehlen sein soll) noch nicht einmal gelesen. Beim dritten handelte es sich übrigens um eine philosophische Abhandlung übers Essen.

Gelesen habe ich aber das vierte Buch: „Was ich euch noch sagen wollte…“ Den rund 370-seitigen, 20 Kapitel plus Pro- und Epilog umfassenden gebundenen Wälzer im Schutzumschlag, der im April 2016 (also kurz vor Spencers Tod) bei den Schwarzköpfen erschien, bekam ich einst zum Geburtstag geschenkt und legte mich im Sommer vergangenen Jahres in eine mallorquinische Bucht damit.

Wie zuvor verfasste Spencer das Buch zusammen mit Lorenzo de Luca, die Übersetzung besorgte Johannes Hampel. Spencer nimmt seine neue Facebook-Präsenz „Facebud“ zum Anlass, seine Gefühle bei der Kommunikation mit Fans zu beschreiben, zu erkunden zu versuchen, woher seine anhaltende Popularität rührt, aber auch immer wieder aus seinem Leben zu berichten, Respektsbekundungen und Ehrerbietungen an Kollegen und Regisseure dazulassen und auch einzelne Filme – eigene wie fremde – hervorzuheben sowie seine Arbeitsphilosophie zu erklären. Als Aufhänger dient ihm dabei jeweils eine Antwort auf einen Facebook-Kommentar. Er hält ein Plädoyer gegen Rassismus, liefert Anekdoten und Überlegungen zum Thema Sport (Spencer war einst Leistungsschwimmer) und zur Abschottung junger Menschen durch Flucht in virtuelle Welten. Er bricht eine Lanze für seine Heimat Neapel und gibt sich bodenständig, bescheiden und verständnisvoll, u.a. wenn er beschreibt, wie er damit umzugehen versucht, dass Fans ihn zu einem Mythos stilisieren.

Von der europäischen Idee zeigt er sich begeistert, wirkt aber politisch naiv, wenn er glaubt, China werde sich schon in Richtung Demokratie entwickeln, und verfängt sich ein wenig in der „Seid froh, wie gut es hier habt“-Politphrase, denn: „Das ist die Drohung mit dem Faschismus. sie ist immer da.“ (Ronald M. Schernikau) Spencer schreibt weiter: „Wir schwitzen und rudern herum, aber schließlich haben wir Italiener doch zwei Weltkriege überstanden, haben den Terrorismus, die Inflation und eine endlose Folge von Regierungen und Skandalen überlebt. Wir werden es auch diesmal schaffen.“ (S. 83) Nun ja, dieses Aushalten, Durchstehen und Überleben darf nicht unser europäischer Anspruch sein – gerade nicht nach Faschismus und zwei Weltkriegen. Gegen Kriege spricht er sich dann auch deutlich aus, gegen korrupte Politik und gegen unmenschliche Subjekte ebenso – seine Ansprüche scheinen also doch nicht ganz so niedrig zu sein – und spannt den Bogen zur Kraft der Solidarität und seiner Hoffnung für die Menschheit, ja, bezieht sogar Position für die Solidarität mit übers Mittelmeer kommenden Flüchtlingen und nennt als Ursache unter anderem die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents durch die sog. Erste Welt. Er ist sich der Abstraktion seiner Filme, ihrer Vermittlung schlichter Weltbilder, bewusst, und kritisiert Banken, Rüstungsindustrie und Kapitalismus. Das sechste Kapitel heißt dann gar „Krieg dem Krieg!“. Leider verfiel er der NATO-Propaganda, im jugoslawischen Krieg habe es KZs gegeben, philosophiert im Anschluss aber klug über Krieg und Frieden und erwähnt eine Reihe Antikriegsfilme lobend.

Er teilt mit seinen Leserinnen und Lesern seine Erinnerungen an seine Zeit als Straßenbauer in Südamerika. Dann lässt er seine 55-jährige glückliche Ehe Revue passieren – ganz wunderbar, ohne sentimental zu werden. Als ehemaliger Raucher spricht er sich gegen das Rauchen aus, bezieht Stellung gegen Drogen und Alkohol und reflektiert auch kurz seine Adipositas. Er stellt echte Freundschaften, auch die zu Terence Hill, dem Geltungsdrang anderer Prominenter im Netz gegenüber. Das ist in Ordnung, eigentlich aber auch klar und sicherlich dem Missverständnis geschuldet, dass Facebook Vernetzungen mit anderen Personen Freundschaften nennt. Anschließend plaudert er ein wenig über Schauspielkollegen, allen voran über Giuliano Gemma weiß er nur Gutes zu berichten. Hiernach geht es um die Regisseure, mit denen er drehte. Ausgehend von einem Facebook-Kommentar geht er noch einmal tiefer auf seine Freundschaft zu Hill ein und arbeitet Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu den von ihnen verkörperten Filmfiguren heraus – und zwar während der Konversation mit einem einsamen, introvertierten jungen bei Facebook, der sich ihm öffnet und die Freundschaft zwischen Hill und ihm idealisiert. Spencer scheint sich seiner Verantwortung sehr bewusst. Anhand dieses Kontakts lernt er auch Schattenseiten sozialer Netzwerke kennen. Zum Web 2.0 resümiert er: „(…) ich halte es für ein Eigentor, wenn man sich als älterer Mann in den sozialen Netzwerken so exponiert, denn letztlich wird man ja dann irgendwelche sinnlosen Wortgefechte mit kleinen Jungs austragen, und in gewisser Weise entwürdigt man sich dadurch auch selbst. Der Meinungsaustausch mit den jüngeren Generationen ist sicher sinnvoll; das aber via Web zu machen kitzelt manchmal die hässlichste Seite in den Menschen hervor. (…) Die Kommentarmöglichkeiten im Web kommen mir wie eine Art Prüfstein für den IQ von Menschen vor, die im normalen Leben durchaus angenehme Zeitgenossen sein mögen.“ (S. 153f)

Es folgt ein Kapitel über seine Begeisterung für Motorentechnik, das aber schnell zum Thema Cybermobbing und die Verantwortung der Eltern übergeht. Ein weiterer Exkurs in seine Zeit in Venezuela geht erneut vom Gedankenspiel aus, dass es bereits in den 1950ern PC und Mobilfunk gegeben hätte. Sprunghaft geht es auch im darauffolgenden Kapitel zu: Von seiner Liebe zur Musik über die Frage nach seinem Glauben zu Kritik an US-Actionfilmen und Überlegungen zu Waffenbesitz hin zur Flüchtlingswelle in nur wenigen Zeilen – puh, da kann einem schon mal schwindelig werden. Gedanken zu Politik und zum modernen Fernsehen, Ehrerbietungen an weitere Filmklassiker – dieses Kapitel ringt um seinen Fokus, findet ihn aber schließlich in der Glaubensfrage: Natürlich ist er kein religiöser Fanatiker, dennoch wird’s hier etwas anstrengend, denn an seinen Überlegungen zur Existenz eines Gottes lässt er einen sehr detailliert teilhaben. Darüber landet er jedoch bei Bibelverfilmungen, inklusive einer schönen Anekdote vom „Barabbas“-Set, an dem er mitwirkte. Ein Kapitel weiter geht es ihm um seinen Glauben an ein Leben nach dem Tod, um seine Serienfolge „Extralarge gegen Tod und Teufel“ sowie um neapolitanische Bräuche und Legenden. Vom Teufel persönlich kommt er zum Geld und seinen Umgang damit. Das Kapitel endet köstlich!

Im Netz sieht sich Bud Spencer auch mit Falschmeldungen und Verschwörungstheorien wie von seinem Tod oder der Fälschung der ersten Mondlandung konfrontiert, woraufhin er Überlegungen zu Raumfahrt und Wissenschaft allgemein anstellt. Sein nächster Exkurs in die Vergangenheit führt zu seiner ersten Zusammenarbeit mit Terence Hill – und wie es zur ihr kam. Mit am schönsten ist es, wenn er Beiläufiges aus seinem Privatleben erwähnt, das ihn nahbar macht, zu Facebook und was sich auf seiner dortigen Seite so tut übergeht und dann anhand eines einzelnen Kommentars ein bestimmtes Thema herauspickt und vertieft – so wie in Kapitel 16, als er mit einem Ausreißer chattet. In diesem Zusammenhang spricht er sich gegen Homophobie und für die gleichgeschlechtliche Ehe aus, bittet aber auch darum, die Berichterstattung angemessen zu gewichten und keine Hysterie oder Kontraproduktivität durch Omnipräsenz zu erzeugen. Als er dem Ausreißer rät er müsse seinem Vater auch Zeit lassen, sich an eine Realität, die er nicht kannte, zu gewöhnen (S. 250), mutet dies beinahe exemplarisch für eine mögliche Progression der Gesellschaft auch in ganz anderen Fragen an.

Bud Spencer ist gegen Gewalt, kokettiert aber immer mal wieder mit der cartoonesken Variante eben dieser und seinen Filmen. Er erzählt ehrlich und zugleich herzlich von seinem Vater und beantwortet die 21 ihm am häufigsten gestellten Fragen, darunter jene, wie oft er im Leben jemanden wirklich verdroschen habe. In seiner Antwort fehlt seltsamerweise der Vorfall, den er im nächsten Kapitel erwähnt und schon oft erzählt habe. Ein Spaziergang im Park fördert Erinnerungen und nachdenkliche Gedanken zutage – und endet einmal mehr mit einer köstlichen Pointe. Ein hypothetischer Chat mit seiner Rolle Banana Joe führt ihn zum Thema Bürokratie und dazu, wie gut der Film gealtert sei. Er erwähnt recht häufig alte Meister, besonders gern Philosophen, scheint in dieser Hinsicht wirklich belesen. Dies war offenbar auch Teil seines dritten Buchs „Ich esse, also bin ich“. Das Paradoxon von Achilles‘ Wettlauf mit der Schildkröte wendet er auf seine früheren Sorgen an, in finanzieller Hinsicht ein guter Familienvater zu sein.

Auf Seite 318 liefert er eine Definition seiner Paraderollen des rauen, aber gutmütigen Riesen: „(…) dass jener Außenseiter, sowohl als Solist als auch im Duo, eine Gestalt ist, die gestern wie heute auf unblutige Art die einfachen Menschen vor den Bedrängnissen rettet, denen sie Tag um Tag ausgesetzt sind, ohne sich zur Wehr setzen zu können.“ Von hier aus gelangt er zu Politikern und Politik und schließlich zur Reflektion eben jener Paraderolle. In seiner Bescheidenheit hadert er damit, sich als Schauspieler zu bezeichnen. Im Epilog zieht er ein Stück weit Bilanz eines erfüllten Lebens. Enttäuschend jedoch: Letztlich gibt er zu, dass die Facebook-Kommentare und -Chats frei erfunden waren.

„Was ich euch noch sagen wollte…“ ist gespickt mit dem feinen, selbstironischem Humor eines überwiegend altersweisen, besonnenen Senioren, der gern blumige Sprache verwendet und in Metaphern und Bildnissen schreibt. Große Teile des Buchs sind kreativ und originell verfasst, zudem gut übersetzt. Bud Spencer wirkt am Ende seines Lebens sehr dankbar, gelassen und optimistisch. Sein Buch steckt voller positiver Energie. Unbedingt erwähnenswert sind auch die beiden eingearbeiteten Fotostrecken, die ihn bei einer Stippvisite in Berlin zeigen und Porträtaufnahmen eines schelmischen Bud Spencer enthalten.

Filmfans erfahren sicherlich aus anderen Büchern mehr über Spencers Arbeiten, zudem fehlen mir die Vergleiche mit den von mir ungelesenen vorausgegangenen drei Büchern. Insofern kann ich nicht beurteilen, was zum Beispiel eventuell doppelt und damit redundant wäre. Und noch weniger kann ich wissen, wie groß Spencers Anteil an diesem Buch tatsächlich war und wie viel davon der kreativen Schreibe Lorenzo de Lucas entspringt. Ich fühlte mich aber dann doch überraschend gut unterhalten, fand Inspiration und wurde zum Nachdenken animiert – und erhielt interessante Einblicke in das Leben, Wirken und Denken dieses Schauspielers, der mich seit Kindheitstagen begleitet. Wenn es sich also um aus in erster Linie monetären Gründen nachgeschobenes „Bonusmaterial“ handelt, liest es sich dafür ziemlich gut – wenngleich man auf den „Facebud“-Aufhänger gern hätte verzichten dürfen, suggeriert er doch eine unmittelbare Fan-Nähe, die sich am Ende als Trugschluss erweist.

17.05.2024, Lobusch, Hamburg: 1323 + BOMBE + RE-NI-TENT

Zurzeit kommt man aus dem Feiern kaum noch raus: Nach dem Hafengeburtstag und dem Aufstieg des FC St. Pauli stand die letzte reguläre Partie des AFC vor der Aufstiegsrunde an, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits die Meisterschaft der Hamburger Oberliga gesichert hatte. Aus dem Stadion ging’s direkt in die Lobusch, wo zwei (von drei) Bands spielten, die sich bereits eine Woche zuvor auf dem alternativen Hafengeburtstag ein Stelldichein gegeben hatten, von denen ich eine – BOMBE – jedoch verpasst hatte. Ich war dabei anscheinend etwas sehr schnell, denn um kurz nach 21:00 Uhr war noch nicht viel los. Nach und nach trudelten aber so einige bekannte Gesichter aus dem Stadion und weitere Freundinnen und Freunde des deutschsprachigen HH-Punks ein, ohne dass es übermäßig voll und drängelig geworden wäre – was auch mal sehr angenehm ist.

Das Trio RE-NI-TENT mit Leuten von ANSCHLAG und 1323 machte den Anfang. Bei im Vergleich zum Hafengeburtstag (wo ich sie erstmals sah) wesentlich saftigerem P.A.-Sound kamen die melodischen, aber auch flotten und zuweilen mit HC-Punk-Kante versehenen Songs noch mal besser rüber. Von ANSCHLAG fanden sich Songs wie „Revolution“, „Fundament“ und der Ohrwurmgarant „Melodie“ im Set, das Stück über Georg Elser hatte ich gar nicht derart, äh, kompakt in Erinnerung, sein Fett weg bekam u.a. die Hamburger Karikatur eines Innensenators, namentlich Andy Grote. Der Gesang kann Melodie, ist aber kein Gefistel, sondern schön angeraut. Leider verhinderte ein Atemwegsinfekt des Sängers/Gitarristen, dass auf die Zugabeforderungen eingegangen worden wäre. Egal – überzeugender Gig, weiter so!

BOMBE scheinen mir eine Art Nachfolgeband von HOT SCHROTT zu sein, die letztes Jahr auf dem Gaußfest ihren Abschiedsgig gespielt hatten (und sich wiederum zum Teil aus Leuten von CIRCUS OF HATE rekrutierten). Größte Auffälligkeit bei allen drei Bands ist die Geige, die bei einigen Songs zum Einsatz kommt. Zumindest zu Beginn des Lobusch-Auftritts wurden auch schon mal die Instrumente durchgetauscht, beim Gesang wechselten sich Männlein und Weiblein ab. Statt auf große Melodien oder Geballer setzt man eher auf leicht postpunkige Monotonie als Stilelement und kombiniert diese mit metapherreichen Texten. Den Leuten gefiel’s, Zugaben wurden verlangt, gleich drei Stück gab’s. Der unnachgiebige Ohrwurm „Die Uhr“ von HOT SCHROTT entließ aus diesem Auftritt, während der Gitarrist ins Publikum sprang. Das ist zweifelsohne kreatives, originelles Zeug, das seine Zielgruppe hat, auch wenn ich mich damit etwas schwertue.

Meinem persönlichen Geschmack kamen dafür 1323 umso mehr entgegen. Keine Ahnung, warum es schon wieder fünf Jahre oder so her ist, dass ich die zuletzt live sah, verlernt ham’se jedenfalls nix: Hardcore-Punk der guten alten ‘80er-Schule in Musik und Attitüde, meist eher desillusioniert-düster und/oder derbe angepisst nach vorne peitschend, hier und da mit Auflockerungen (z.B. dem spanischen „La pinche soledad“) und manch mitsingkompatiblem Refrain versehen. Drummer Andi brachte mit seiner Bassdrum die Bude zum Beben, Ali (der nach seinem Auftritt mit RE-NI-TENT nun noch mal ranmusste) schepperte ‘nen richtig geilen Bass und Phil schrammte sich durch die Akkorde, während er am Mikro seinen Aggressionen freien Lauf ließ. Ein paar Songs wurden wie üblich auch von Andi gesungen, dessen Lautstärke dabei leider eher auf Background eingepegelt worden war. Das auch im Original alles andere als balladeske „Staatsfeind“ von CANALTERROR wurde in gefühlt doppelter Geschwindigkeit durchgeholzt, dominiert wurde das Set aber natürlich vom Material des „Realität“-Albums. Arschgeiler Gig ganz nach meiner Kragenweite, der mich dann auch zum Tanzen und Bierrumspritzen animierte. Brauchte ich mal wieder!

04.05.2024, Punk im Viertel, Hamburg: GRANNY’S MILK | 10.05.2024: Hamburger Hafengeburtstag von unten / Affengeburtstag | 12.05.2024, Jolly Roger, Hamburg: LOS FASTIDIOS

Die Gratiskonzerte der letzten Zeit mal im Schnelldurchlauf:

Bei angenehmem Frühlingswetter luden BETON DE ROUGE und GRANNY’S MILK am Nachmittag zum „Tanzbier mit Kuchen“ im Viertel, sprich: Zwischen den Neubauten in Altona-Nord wurde ‘ne kleine Bühne improvisiert und neben der unmittelbaren Nachbarschaft samt Kind und Kegel kamen Punkrockerinnen und Punkrocker aus den anliegenden Stadtteilen zusammen, um zu schnacken, paar Getränke zu zischen und die beiden Bands zu begutachten. Meiner Liebsten und mir war das bischn zu früh, aber immerhin zu GRANNY’S MILK schafften wir’s. Das anscheinend noch nicht lange bestehende Quartett mit gut aufgelegter Sängerin zockte englischsprachigen Oldschool-Punk/HC mit knackig kurzen Songs, starken, dominanten Bassläufen und sympathischer Ausstrahlung. Kam gut und würde ich mir mit ‘ner P.A. mit etwas mehr Wumms auch noch mal angucken.

Hier kann man sich einige Demo- und Proberaumaufnahmen anhören:
https://soundcloud.com/daily-junk-572607099

Dann stand mal wieder der Hafengeburtstag an, satte vier Tage lang Spektakel und Gedrängel in St. Pauli. Die Jolly-Roger-Bühne wird weiterhin schmerzlich vermisst, aber es gibt ja das Alternativprogramm mit zwei subkulturellen Bühnen unten vor der Vokü (mit lokalen Acts) und oben vorm Störtebeker (mit internationalem Line-up). Dass es unten bereits am Donnerstag mit u.a. VIOLENT INSTINCT losging, hatte ich komplett verpeilt, hätte aufgrund der Probe mit meiner eigenen Combo aber auch keine Zeit gehabt. Am Freitag schaffte ich’s dann auch erst am frühen Abend, verpasste somit die ersten Acts auf beiden Bühnen. Nach Verzehr meines allhafengeburtstaglichen Lieblings-Veggie-Döners waren BOMBE bereits durch und die zweite Band des Abends – das dürften POSSIBLE DAMAGE gewesen sein – lärmten gerade amtlich, lagen aber auch schon in den letzten Akkorden. Also ging ich runter und pfiff mir RE-NI-TENT rein, die aktuelle Band des ehemaligen ANSCHLAG-Bandkopfs, wie ich mir erzählen ließ, und zudem die Zweitband von 1323-Ali (der hier Bass spielt und kräftig beim Gesang unterstützt). Der erste Auftritt ist erst ein paar Monate her, die Band ist also noch jung. Das Trio zockt melodischen deutschsprachigen Punkrock, wie man ihn insbesondere in den 1990ern goutierte, und scheint ein gutes Gespür für Hooks zu haben. Im Set fanden sich dann auch noch Songs von ANSCHLAG, in Erinnerung geblieben ist mir zudem eine Nummer zu Ehren Georg Elsers – jenem Hitler-Attentäter, der kein Nazi war. Diese gab’s ebenso wie einen klasse ANSCHLAG-Singalong-Ohrwurm als Zugabe noch mal. Der Sound war – besonders, wenn man gerade von oben kam – aufgrund der etwas schwachbrüstigen P.A. gewöhnungsbedürftig, entwickelte aber rasch rauen Impro-Charme. Das Publikum stand bereits bis auf die Straße, und die Stimmung war bestens, Bengalos und Rauchtöpfe sorgten für ein Plus an Atmosphäre. Fotos machen ist an dieser Bühne leider nicht erwünscht, was ich natürlich respektierte. RE-NI-TENT spielen übrigens noch mal am Freitag zusammen mit 1323 und BOMBE inner Lobusch!

Nun war hier Umbaupause angesagt, also wieder hoch vors Störtebeker. URBICYD, ein polnisches Quartett, lud zum Tanztee. Mucke: Crust, Gesang: Gegurgel, Gespeie und Gegrowle. Der Drummer kloppte ‘nen verdammt heftigen Snare-Punch und der Sänger hatte seine Schuhe vergessen (oder versoffen). Ansagen gab’s keine; es wurde durchgeballert, und zwar dann doch auch mit etwas Groove, was gar nicht so verkehrt klang. Alles in allem aber mehr Geräusch als Musik und nach rund 20 Minuten war auch schon wieder Schluss.

Stimmungsvoller und unterhaltsamer ging’s im Anschluss unten bei den TRÜMMERRATTEN ab, die ich nun schon ‘ne ganze Weile nicht mehr gesehen hatte. So ist mir offenbar auch entgangen, dass der lütte Sänger gar nicht mehr dabei ist, sondern der Gitarrist das Mikro übernommen hat. Oder war das nur ‘ne Ausnahme? Wie auch immer, die bewusst simpel gehaltenen, meist kurzen Songs für Punk und ansonsten gegen alles treffen für gewöhnlich die Richtigen, gehen sofort in Ohr und Pogobein und sind hübsch rotzig und frech, ohne dabei übermäßig aggressiv zu sein. Die Straße war mittlerweile rappelvoll und vor der Bühne wurde vergnügt auf und ab gehüpft, aber die P.A. schien nun endgültig an ihre Grenzen gelangt und war schlicht verfickt leise. Zunächst zumindest. Ich drängelte mich weiter nach vorne, wo’s besser wurde, vielleicht hatte man aber auch doch noch eine Möglichkeit gefunden, ein paar Dezibel mehr herauszukitzeln. Gut, der Schwarzfahrsong ist in Schlandticketzeiten ein wenig überholt, dafür ließ mich ein sarkastisches Liedchen übers Nichttempolimit auf den Autobahnen aufhorchen – und bei „Nicht genug“ am Schluss sang gefühlt die ganze Straße mit. Hat Spaß gemacht!

Mittlerweile gut angedengelt kraxelte ich wieder die Balduintreppe hoch und bekam noch den Schluss von SEURAT mit, finnischer HC-Punk mit sehr expressionistischer Sängerin. WÜT (Berliner Metal-Punk) hatte ich komplett verpasst, aber als letzte Band standen noch BAD JESUS EXPERIENCE, ebenfalls aus Finnland, ebenfalls mit Sängerin, auf dem Plan. Die gefielen mir musikalisch fast am besten, HC-Punk mit ordentlich Druck auf dem Kessel und dem gewissen atmosphärischen Etwas. Zu Beginn des Gigs gab’s Reibereien mit jemandem im Publikum, der ein Palituch demonstrativ vor der Bühne hochhielt. Dies hatte er anschließend zu unterlassen, tragen durfte er’s aber weiterhin und der Bassist der Band tat es ihm gleich. Das sorgte in der politisch derzeit aufgeheizten Stimmung und vor dem Hintergrund des tobenden Krieges im Nahen Osten natürlich für gemischte Reaktionen und die richtig gute Stimmung wollte nicht mehr recht aufkommen. So zumindest mein Eindruck – und ich hoffe, ich habe hier jetzt keine Bandnamen durcheinandergeworfen, denn mir die Running Order abzufotografieren habe ich leider versäumt. Bei dieser Gelegenheit: Ein echter Knaller wär’s, wenn sich die Betreiber(innen) beider Bühnen zukünftig absprechen könnten, sodass während der Umbauphase auf der einen ‘ne Band auf der anderen zockt. Aber das ist vermutlich zu viel verlangt und organisatorisch kaum zu stemmen…

Ich gab mir noch bischn die Kante, (a)sozialisierte und merkte am nächsten Tag, wie alt ich geworden bin, als ich mich dann doch so gar nicht mehr erneut zum Hafengeburtstag aufraffen konnte. Stattdessen verfolgte ich zu Hause den Ausgang des Spiels Holstein Kiel gegen Fortuna Düsseldorf und hätte mich lediglich im Falle eines Kieler Siegs noch mal in Richtung Kiez aufgemacht, denn dieser wäre gleichbedeutend mit einem Aufstieg des FC St. Pauli ins Oberhaus gewesen. Das Unentschieden aber reichte den Störchen und so sah ich mir auf Sport 1 noch den Platzsturm und die Jubelarien an. Glückwunsch nach Kiel!

Dadurch ausgenüchtert und relativ fit fand ich mich Sonntagmittag pünktlich in der Sportkneipe ein, um mit Freunden dem Sieg des FC St. Pauli gegen den VfL Osnabrück beizuwohnen, durch den auch der eigene Aufstieg perfekt gemacht wurde. Freudetrunken ging’s weiter zum Jolly Roger, wo sich nach und nach eine riesige Traube feiernder und sich gegenseitig herzender Menschen einfand, die das zeitweise ausgeschenkte Freibier genossen und dafür sorgten, dass die Straße abgesperrt werden musste. Zudem hatte das Jolly da mal, äh, „spontan was vorbereitet“: LOS FASTIDIOS, deren „Antifa Hooligans“ bei jedem Heimspiel erklingt, gaben ein Konzert auf dem Balkon über der Fankneipe! Die italienische Band zockte nicht nur ein, zwei Songs, sondern ein reguläres Set, also ein buntes Potpourri aus Oi!-Punk, Reggae und Ska, stimmte insgesamt dreimal die Hooligans-Nummer sowie diverse Sprechchöre und Fan-Gesänge an, machte zwischendurch Platz für die HARBOUR REBELS, die als besondere Gäste ihren St.-Pauli-Skinheads-Song (mit LOS FASTIDIOS‘ Unterstützung) brachten, und coverte sich ein gutes Stück weit durch die Two-Tone-Historie. Wann erlebt man so was schon mal? Etwas kurios mutete es an, dass man den natürlich sitzenden Drummer nicht sehen konnte, weshalb er sich zwischen den Songs immer mal wieder zu erkennen gab. Glückwunsch, FC St. Pauli, und danke allen, die dazu beigetragen haben, dieses Wochenende derart legendär zu machen und mir am nächsten Tag auf Arbeit diese seltene Mischung aus etwas schwerem Kopf, müden Gliedern und seligem Grinsen einzuhandeln!

Guido Sieber – Würgsamkeiten

Das zweite Comicalbum des Berliner Illustrators, Zeichners und Malers Guido Sieber erschien im Jahre 1992 ebenfalls innerhalb der Thurner „Edition Kunst der Comics“ als großformatiger, rund 60-seitiger Hardcover-Band.

Seinem in „Aus lauter Liebe“ etablierten Zeichenstil blieb Sieber grundsätzlich treu, wie bereits die Titelseite offenbart: Ein unförmiger, nackter männlicher Körper mit zombiehafter Visage, durch den allerdings Ausschnitte aus Exemplaren der „Bild-Zeitung“ durchscheinen. Auf schwarzem, mattem Papier folgt ein Zitat E.G. Seeligers, ein Abgesang auf das Medium Zeitung. Im Anschluss versichert Sieber, dass er für „Würgsamkeiten“ ausschließlich Original-Zeitungsschlagzeilen und -Texte verwendet habe, die er weder „zweckentfremdet oder verfälscht, sondern einfach nur untermalt“ habe. Es geht also um eine kritische Reflektion speziell des Sensations- und Boulevard-Journalismus, aber auch um Kritik an generellem Medienkonsum, für die Sieber aufwändige Comiczeichnungs-Zeitungstext-Collagen in seine von alltäglicher Tristesse geprägten Geschichten und Karikaturen einarbeitete.

Das ist nicht immer leicht zu ertragender starker Tobak, der sich in den Abgründen der Gesellschaft suhlt. Daran ändert sich auch nicht viel, wenn er das Mediensujet wie für die Kurzgeschichte „Der kleine Jäger“ verlässt. Von Medien postulierte Klischees greift er zeichnerisch auf und übersteigert sie ins Absurde und Hässliche, Zeitungsmelden illustriert er auf seine ganz eigene Weise; Ausscheidungen, Brutalität und Geisteskrankheit sind allgegenwärtig. Dank des schwarzen Humors gibt es dabei aber durchaus auch etwas zu Schmunzeln, hat man sich erst einmal mit dem grotesk abstoßenden Stil arrangiert. Misanthropie feiert fröhliche Urständ. Schönheit ist tot. Ekel regiert.

Um so etwas an der Zensur vorbeizubringen, muss es vermutlich von vornherein als Kunst etikettiert werden. Das sind die meist handgeletterten „Würgsamkeiten“ ohne jeden Zweifel. Meines Erachtens sogar große.

17.04.2024, Kulturpalast, Hamburg: BLAZE BAYLEY + ABSOLVA

Da es schon ewig her war, dass ich den ehemaligen IRON-MAIDEN-Sänger BLAZE BAYLEY live gesehen hatte, war ich voller Vorfreude auf seinen Hamburger Abstecher im Zuge seiner Tour zum dreißigjährigen Jubiläum seines Einstiegs bei den Eisernen, der 1995 und 1998 zwei Alben mit ihnen veröffentlichte, nachdem Bruce Dickinson zeitweilig ausgestiegen war. Die Fan-Resonanz war seinerzeit eher verhalten, insbesondere live wollte Blaze‘ dunkleres Timbre nicht so recht zum Dickinson-Material passen. Ich bin seit jeher der Meinung, dass man aus beiden Alben ein einzelnes, richtig fettes hätte machen können, und tatsächlich sind im Laufe der Zeit etliche Songs zu Klassikern gereift. Blaze veröffentlicht zudem auch wieder fleißig Solomaterial, lässt sich auch von einem Herzinfarkt nicht stoppen und hat mit „Circle of Stones“ eine aktuelle Langrille am Start. Das Publikumsinteresse war derart groß, dass das Konzert vom kleinen Kellerclub Bambi galore in den wesentlich größeren Kronensaal des Kulturpalasts verlegt wurde – bei fairen 20,- EUR Eintritt. Ein bis eineinhalb Stunden vor Konzertbeginn nahm sich Blaze für ein kostenloses „Meet & Greet“ Zeit, signierte Material und ließ Fotos mit sich schießen – das ist gelebte Fan-Nähe.

Seine Band besteht aus den Mitgliedern der Heavy-Metal-Kapelle ABSOLVA aus Manchester, die auf dieser Tour zudem das Vorprogramm bestreitet, also unter Doppelbelastung steht. Ein Begriff waren ABSOLVA mir bisher nicht, was sich an diesem Abend änderte. „Hells Bells“ erklang als Intro aus der Konserve, sodass ich mich kurz bei einem Spiel des FC St. Pauli wähnte, wobei hier die P.A. leider nicht ganz mitkam und der AC/DC-Hit nach 96-kbps-MP3 klang. Live fiel mir ziemlich nerviges Bassgeklacker auf, entweder von der Bassdrum oder vom Bassisten kommend, vielleicht auch von beidem – wurde zum Glück mit der Zeit besser, irgendwann aber auch wieder schlimmer. Der Sänger/Gitarrist zog gern Grimassen auf der Bühne, die Background-Chöre kamen gut, einige coole Gitarren-Leads kristallisierten sich heraus, auch mal mit der zweiten Klampfe gedoppelte. In eine der Nummern integrierte man einen „Ohoho“-Mitsingpart fürs Publikum, das tatsächlich auf Temperatur kam. Dann sollten alle einen Schritt näherkommen und die Hände überm Kopf zusammenschlagen. Ein Animationsversuch, der Früchte trug; im nun zusammengerückten Pulk kam man sich im ohnehin mehr als ordentlich gefüllten Saal wie auf einem engen, etwas drängeligen Gig vor, was zur entsprechenden Atmosphäre beitrug. In „Code Red“, laut Band seinerzeit ihre erste Single, fiedelten beide Gitarristen ein feistes Synchron-Angebersolo. Vor „Refuse“ bat man das Publikum um eine Pose und nahm ein Video auf, im Song erklang dann ein weiteres Angebersolo inklusive Tapping und so’nem Zeug. Die Publikumsanimationen nahmen immer weiter zu, was die Show aber ziemlich unterhaltsam gestaltete. Nach weiterem Synchron-Sologewichse war irgendwann Schluss.

Nach einer etwas längeren Pause, die sich ABSOLVA redlich verdient hatten, betraten sie erneut die Bühne, gefolgt vom herzlich empfangenen Blaze. Man spielte „Lord of the Flies“ als Opener an, brach aber rasch ab, damit sich Blaze über die mangelnde Publikumsaktivität beschweren konnte – schließlich gölten BLAZE-BAYLEY-Fans als die lautesten Mitsinger wo gibt und überhaupt zähle nur der Moment und der morgige Tag sei jetzt einfach mal scheißegal. Das war natürlich eine von vornherein eingeplante Unterbrechung, die aber die gewünschte Wirkung zeigte. Weiter ging’s mit „Sign of the Cross“, einer alles andere als anspruchslosen Nummer (was auch fürs später gespielte „Virus“ gilt), die live erst ihre ganze Kraft entfaltet und durch die heute von Blaze animierten, fantastischen Publikumsreaktionen noch eine Ebene höhergehievt wurde. Spätestens ab jetzt wusste ich: Das wird ein hochklassiger Gig! Bei „Judgement of Heaven“, jenem Song, dessen Refrain man so schnell nicht mehr aus dem Kopf bekommt, bekam ich dann erstmals Gänsehaut. „Fortunes of War“ war nach „Sign of the Cross“ ein weiteres gelungenes Beispiel für die getrageneren, düstereren MAIDEN-Songs der Bayley-Phase, bevor er mit „Circle of Stone“ und „Rage“ zwei Songs vom aktuellen Soloalbum strategisch gut im Set platzierte. Blaze hing sich in jeden Ton voll rein und zeigte vollen Einsatz. Und das nach ‘nem Herzinfarkt – Respekt!

„When Two Worlds Collide“ und „Lightning Strikes Twice” zählen zwar nicht gerade zu meinen Favoriten aus Maidens Blaze-Ära, kamen an diesem Abend aber sehr hörenswert rüber. Zwischen beiden Nummern wurde ein krass geshreddetes Gitarrensolo untergebracht. Bei „The Clansman“ über den schottischen Freiheitskampf gab es dann gar kein Halten mehr und das Publikum sang mit, so laut es konnte. Der Stimmungshöhepunkt des Abends! Generell wurden bei den Klassikern vor der Bühne jeder Refrain und jede Gitarrenmelodie mitgesungen – und drohte dies einmal nachzulassen, riss Blaze wieder die Arme in die Luft und animierte zum Weitermachen. Im weiteren Verlauf musste Blaze „Man on the Edge“ allerdings wieder abbrechen und mahnend an seine Worte vom Beginn erinnern. Anschließend stellte er die Bandmitglieder vor und nahm sich die Zeit, zu erläutern, welche Bedeutung all dies für ihn hat, ermutigte aber auch das Publikum zur Selbstermächtigung. „Futureal“, einer meiner ewigen Lieblinge, war dann bedauerlicherweise schon die vorletzte Nummer, bevor Blaze ausgerechnet mit dem Stinker „The Angel and the Gambler“ sein Set beschloss. Da hätte ich doch lieber noch beispielsweise „Don’t Look to the Eyes of a Stranger” gehört.

Sei’s drum! Das war ein begeisterndes Konzert, Heavy-Metal-Entertainment vom Feinsten mit einer technisch überaus versierten Band und einem bestens aufgelegten, anscheinend topfitten BLAZE BAYLEY! Und ich finde es großartig, dass man für die Dickinson-Songs auf reguläre IRON-MAIDEN-Konzerte gehen kann, fürs Material der Frühphase zu PAUL DI’ANNO und für die ‘90er-Ära eben zu BLAZE BAYLEY.

Auf der Rückfahrt lauschte ich einem Gespräch zwischen ein paar Endfünfzigern, von denen einer Blaze‘ Worte zur Selbstermächtigung rekapitulierte und als Konsequenz eine Tankstelle anzusteuern überlegte, um sich eine Palette Bier zu besorgen. Dass Blaze auch mehrmals darauf hinwies, dass man heute den morgigen Tag komplett ausblenden solle, fügte ich kurzerhand an, um ihn in seinem Vorhaben zu unterstützen…

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