Für seinen im Jahre 2017 im Innsbrucker Limbus-Verlag in gebundener Form veröffentlichten Roman „Hühnergötter“ schlüpft der freie Braunschweiger Journalist, Autor und Literaturkritiker sowie Ex-Heavy-Metal-Gitarrist Frank Schäfer rund 200 Seiten und 25 Kapitel lang erneut in die Rolle seines Alter Ego Friedrich „Fritz“ Pfäfflin – zehn Jahre nach „Kleinstadtblues“, dem dritten in sich abgeschlossenen Roman dieser losen Reihe.

Die mutmaßlich erneut stark autobiographisch geprägte Handlung dreht sich um eine Erbschaft – und was sie mit sich bringt: Friedrich, verheirateter Schriftsteller, ein Sohn, erbt das Haus seines verstorbenen Onkels Adolf, einen Klinkerbau in seinem alten Heimatdorf in der niedersächsischen Einöde, irgendwo zwischen Braunschweig und Wolfsburg. Die kleine Familie ist sich unschlüssig, was sie mit der Erbschaft anstellen soll. Während seine Frau Antonia mit Sohn Ansgar auf einer Mutter-Kind-Kur auf der Ostsee-Halbinsel Fischland-Darß-Zingst weilt, bezieht Friedrich für vier Wochen das alte Gemäuer, um es zu renovieren und sich über die weitere Verwendung klarzuwerden – verkaufen, vermieten? Oder doch… einziehen? Schnell holt ihn die Vergangenheit in Form zahlreicher Erinnerungen an seine Dorfkindheit und -jugend sowie an seinen alkoholkranken Onkel ein.

„Hühnergötter“ ist mit seinen vielen eingewobenen Anekdoten aus der Vergangenheit eine Zeitreise in Friedrichs Sozialisation mit seinen alten Freunden, der gemeinsamen Band, mit Partys und zarten Liebschaften, und zugleich eine Aufarbeitung seiner Familiengeschichte. Die Erzählform der Ich-Perspektive erlaubt einen sehr intimen Zugang zu dieser Figur, die durch das anstehende Klassenjahrgangstreffen mit ihren ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern ein weiteres Mal mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird und sich plötzlich zwischen zwei Frauen stehend wiederfindet. Die Rückblicke sind von viel Melancholie, aber auch juvenilem Humor geprägt, während sich vor dem geistigen Auge des Rezipierenden das verschlafene Dorf mit seiner ganz eigenen Dynamik aufrichtet und einen ebenso gefangenen nimmt wie den Protagonisten – und ein authentisch anmutendes Bild nicht nur vom Dorfleben, sondern auch von Onkel Adolf entsteht, den Schäfer angenehm differenziert als ambivalente Figur zeichnet und ihm seinem Alkoholismus zum Trotz die Ehre erweist.

Friedrich hat sich zudem auf sympathische Weise die kindliche Begeisterung für Bücher bewahrt und eine emotionale Bindung zu ihnen aufgebaut. Schäfer fasst diese in wunderschöne Worte und bildet damit einen Kontrast zur unwirtlichen Familienrealität, die die Kehrseite seiner Erinnerungen darstellt. Bücher als kindlicher Rückzugsort – wunderbar. Überhaupt ist man sofort wieder in Schäfers im Laufe der Jahre und Veröffentlichungen so angenehm gewordenem Schreibstil drin und fühlt sich schnell heimisch. Wenn nur nicht wieder dieses Recycling wäre: Die Führerschein- und Autounfall-Anekdote aus Schäfers „Was Männer niemals sagen würden“ findet sich hier ebenso wieder wie die bereits bekannte Geschichte um seine autofahrende Mutter. Eine Weile wirkt „Hühnergötter“ dann auch wie eine eher behelfsmäßig von einer Rahmenhandlung zusammengehaltene Anekdotensammlung, doch Schäfer bekommt bald wieder die Kurve.

So liest es sich durchaus spannend, mit Friedrich auf Sinnsuche zu gehen, an seinen ein bisschen nach Midlife Crisis klingenden Zweifeln an seiner Ehe teilzuhaben und sich mit ihm in ein gefährliches Abenteuer zu stürzen, das seine Integrität als Familienvater infragestellt. Hier und da werden einem Einblicke in die Arbeit als Schriftsteller gewährt, mittels einiger fallengelassener Band- und Songnamen kokettiert Schäfer etwas mit seinem Wissen um die härtere Gitarrenmusik und geht es um die Band seiner Jugend, erahnen Kenner, dass von Salem’s Law die Rede ist, auch wenn dieser Name nie fällt. Die Beschreibungen der Zusammenkunft im alten Proberaum und des Klassentreffens sind echte Gänsehautmomente, sie transportieren die zwiegespaltene emotionale Ebene nahezu perfekt. Nett auch die Erwähnung des Musikmagazins „Rock Hard“, für das Schäfer mittlerweile selbst als Rezensent, Kolumnist und Redakteur tätig ist. Da fand zusammen, was zusammengehört.

Einer der tragikomischen Höhepunkte ist das Kapitel 23, das ganz von Onkel Adolfs seinerzeit neuentdeckter Leidenschaft für die Rolling Stones handelt, jedoch losgelöst vom Rest der Handlung ebenfalls bereits in einer Schäfer’schen Textsammlung veröffentlicht worden war. Dennoch: Wer sich auch nur halbwegs von den genannten Themen angesprochen fühlt und eventuell ohnehin weniger zu nostalgisch verklärten als vielmehr widersprüchlichen, melancholischen, etwas weh- oder schwermütigen Rückblicken in die eigene Vergangenheit neigt, dürfte sich in „Hühnergötter“ wiederfinden – einem Buch, das ich übrigens stilecht im Sommerurlaub in Prerow auf eben jener eingangs erwähnten Halbinsel las, während ein Hühnergott von meiner Halskette baumelte.