Ex-„Stern“- und „Tempo“-Chefredakteur Michael Jürgs gelang 2009 mit dem in seiner Titelgebung auf Charlotte Roches „Feuchtgebiete“ referenzierenden „Seichtgebiete“ ein Bestseller, in dem er nach Gründen für rückläufige gesellschaftliche Bildung und zunehmende Verrohung sucht und diese in den Medien, vornehmlich im Angebot der Fernsehsender zu finden gehabt glaubt. Auf rund 250 Seiten (Taschenbuch-Ausgabe, Goldmann-Verlag) beschäftigt er sich mit dem Thema, doch bereits auf S. 17 stolpere ich über die arg verkürzte Mutmaßung, sog. „brutale Killerspiele“ könnten echte Killer „produzieren“, was mich auf unschöne Weise an moralinsaure und weltfremde Computer-/Videospiel-Debatten erinnert. Und während ich mich weiter durch sein Werk arbeite und dabei bisweilen mit seinem Schreibstil – häufig separiert er Neben- als Hauptsätze, um dann wieder arg verschachtelte oder bandwurmartige Absätze zu generieren – bisweilen auf Kriegsfuß stehe, neigt Jürgs zu langatmigen metapherreichen Schwurbeleien, statt auf den Punkt zu kommen. Das kann durchaus anstrengend werden, verklärt jedoch nicht den Blick auf den Inhalt, dem immer dann zugestimmt werden kann, wenn inhaltsarme, fragwürdige TV-Formate auf- und angegriffen werden und sich diese Kritik auch auf den Print-Bereich erstreckt.
Verlässt Jürgs diesen Rahmen, greift er einzelne Beispiele gesellschaftlicher Missstände auf, die er anhand konkreter Ereignisse exemplarisch nachzeichnet. Das ist nicht wirklich empirisch, jedoch zweckdienlich, vor allem aber immer noch besser – weil realitätsverwurzelt – als müde seitenlange Phantasien, die offenbar lustig sein sollen, sich jedoch nach Füllmaterial anfühlen.
Inhaltlich ist „Seichtgebiete“ zum Teil bereits überholt, die Medienlandschaft hat sich seit Erscheinen weiter geändert, bezogen auf Sender wie Sat.1 und RTL dahingehend, dass man sich mittlerweile fast schon den Trash-Talk zurücksehnt, der ab den 1990ern zunehmend das Programm von mittags bis nachmittags bestimmte und mittlerweile komplett durch vermutlich noch billigere Doku-Soaps mit Laiendarstellern ersetzt wurde. Auch bezieht sich Jürgs positiv auf Thilo Sarrazin, dessen ausländerfeindliche Tirade „Deutschland schafft sich ab“ erst kurze Zeit später erschien. Für Dieter Bohlen und Stefan Raab hat Jürgs sogar vorsichtiges Lob übrig; von Kernenergie- und Arbeitgeber-Altkanzler Helmut Schmidt zeichnet Jürgs ein verklärtes Bild, das mehr einer Wiedergabe dessen Images gleicht, als dass es auf Fakten beruhen würde. Auch bei aller vorgetragenen Kritik an „Germany’s next Topmodel“ hat er das Konzept dieses schlimmen Auswuchses dümmlicher Fernsehunterhaltung offenbar nicht in Gänze verstanden, dichtet er Heidi Klum doch positive Eigenschaften und Verhaltensweisen im Umgang mit ihren Mannequin-Anwärterinnen an. Dass sie die entscheidende Rolle dabei spielt, den Willen Heranwachsender und Jugendlicher zu brechen, um sie dazu zu bringen, sich vor der Öffentlichkeit komplett lächerlich zu machen und in einen unerbittlichen Konkurrenzkampf um Oberflächlichkeiten mit Gleichaltrigen zu drängen, erwähnt er mit keiner Silbe.
Charlotte Roches gewiss streitbarem, aber eben auch an gesellschaftlichen Tabus rüttelndem Roman „Feuchtgebiete“ spricht er undifferenziert und vor allem unbegründet jegliche Substanz ab und untermauert damit seine befremdlich elitäre Forderung nach Aufsplittung der Print-Bestsellerlisten in eine für die Hochkultur und eine für den Pöbel. Mit einem solchen Elitarismus hält Jürgs sich ansonsten aber glücklicherweise weitestgehend zurück, begeht auch nicht den Fehler, Privatfernsehen generell zu verteufeln und erkennt und benennt z.B. auch den erfrischenden parodistischen Humor eines Pro7-Formats wie „Switch Reloaded“. Und wenn er auf S. 187 Literatur-Leidenschaft gekonnt in Worte kleidet, kann ich ihm nur beipflichten und zu dieser Fähigkeit zur Emotionalität beglückwünschen.
Dem Autor zustimmen möchte man auch während seiner Abrechnung mit Günter Struve, der in seiner Funktion als Programmdirektor der ARD zur Verflachung des Ersten Deutschen Fernsehens beitrug – mittlerweile ist Struve nicht mehr im Amt und die ARD gefühlt ein Stück zurückgerudert, doch erinnere ich mich an jene Zeit, in der ich der ARD wesentlich kritischer als heutzutage gegenüberstand und ohne, dass ich die Senderpolitik seinerzeit wirklich verfolgt hätte, liefert mir Jürgs quasi im Nachhinein Hintergrundinformationen und Argumente.
Irgendwie war es das dann aber auch schon fast. Die hochtrabend angekündigten „Auswege aus dem dumpfen Sumpf“ bleiben vage; die wichtige Rolle, die z.B. Subkultur dabei einnehmen könnte, ist Jürgs offenbar völlig fremd und sein Kulturbegriff bleibt unpräzise und lediglich grob umrissen – was wenig verwundert, wenn auch die Ursachenforschung oberflächlich bleibt. So verrät uns Jürgs kaum wirkliche Gründe für die Volksverblödung. Der Verweis auf die in der Nazizeit ausgeblutete kulturelle Intelligenz ist ein wichtiger, auch die Gängelung freier Kunst unter dem SED-Vorsitz in der DDR ist nicht von der Hand zu weisen. Doch Jürgs nennt nicht aktuelle Nutznießer, zeichnet kaum eine Entwicklung konsequent nach. Wie war das eigentlich genau mit der Einführung des Privatfernsehens, damals, unter Helmut Kohl? Welche Argumente aus wessen Munde sprachen dafür, welche dagegen? Warum genau ist das öffentlich-rechtliche Fernsehen hinter Quoten her, ähnlich den Privaten? Wem nützt eine bildungsferne Masse ohne politisches oder gesellschaftliches Bewusstsein und ohne kulturhistorische Kenntnisse – und warum? Wie ist eigentlich die Medienbranche aufgeteilt, wer steht hinter Journaille und TV und welche Interessen verfolgen sie? Und wie bringen sie ihr Publikum dazu, ihr Angebot zu konsumieren und das anderer Anbieter auszuschlagen? Weshalb werden weder in den Öffentlich-Rechtlichen noch in den Privaten Systemfragen laut, welches politische Spektrum wird jeweils abgedeckt, was wird als Konsens verkauft und was nicht? All diese Antworten bleibt Jürgs schuldig, überwiegend stellt er nicht einmal diese Fragen. Möglicherweise ist er dann eben doch mit vielem einverstanden und möchte sich lieber mit Symptomen befassen denn mit Ursachen. Evtl. wäre damit auch einhergegangen, seine eigene Rolle z.B. als „Stern“-ChefRed kritisch zu reflektieren, was ebenfalls ausbleibt.
Damit ist mir „Seichtgebiete“ dann leider zu… seicht.
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