Günnis Reviews

Autor: Günni (page 10 of 107)

11.11.2023, El Dorado (Gaußplatz), Hamburg: INBREEDING CLAN + DISILLUSIONED MOTHERFUCKERS

Von INBREEDING CLAN hatte ich schon länger nichts mehr gehört, bis im Sommer die Anfrage kam, ob wir ‘nen kleinen Soli-Gig mit ihnen in der Gaußplatzkneipe zocken würden, um ein paar Penunsen für einen alten, von Lukaschenkos Regime drangsalierten Kumpel in Belarus zu sammeln. Klar hatten wir das. Als Termin wurde ein Samstagabend mit Schnapszahl eingetütet. Kurioserweise hatten wir zuletzt an einem 12.12. zusammengespielt, nämlich im Jahre 2015, um unseren damaligen Basser Stef (R.I.P.) gen Frankreich zu verabschieden.

Mit dem Bollerwagen karrten wir unsere Plünnen in die ofenbeheizte, muggelige Kneipe, Aufbau und Soundcheck mit Technikchef und Mischer Wurzel waren weitestgehend entspannt. Nach und nach trudelte der CLAN ein und die ersten Bierchen kreisten. Auch mit Gästen füllte sich das Etablissement langsam, aber sicher, was gar nicht so selbstverständlich war, da am selben Abend mindestens vier weitere Punkkonzerte in Hamburg stattfanden. Als INBREEDING CLAN gegen 20:30 Uhr ihr Scum-Rock-Fass aufmachten und zu derangierten Südstaaten-Hillbillys mutierten, waren jedenfalls genügend neugierige Augenpaare auf die Performance gerichtet, die Sänger Flo beim Grimassieren, Tanzen, Stampfen und ungesund klingenden Krächzen der aus dem Leben eines Inzucht-Clans gegriffenen Texte beobachteten, begleitet von einer bewusst zurückgenommenen Instrumentierung und gelegentlichen Backing Vocals. In seinen Ansagen schimpfte Flo auf JOHNNY CASH, um dann später doch „Ghostriders in the Sky“ zu covern, mal verrutschte er in der Setlist oder verballhornte den KKK, bevor „Riding with the Clan“ angestimmt wurde. Auch das GG-ALLIN-Cover „Fuck Off, I Murder“ wurde im CLAN-Sound kredenzt. Fanden sie seinerzeit in der Lobusch kein Ende, boten sie diesmal ein kompaktes Set von ca. 45 Minuten, während derer sie den Gaußplatz in die subtropischen Sümpfe Louisianas verwandelten. INBREEDING CLAN sind so was wie ein sich stets irgendwie neben der Spur bewegendes Gesamtkunstwerk. Ich find’s großartig. Sollen endlich mal ‘ne Platte aufnehmen!

Wir bildeten anschließend einen musikalischen Kontrast, profitierten aber wie der CLAN von einem anscheinend ziemlich geilen P.A.-Sound, der zudem so gut mit dem Bühnensound abgestimmt worden war, dass ich keinerlei Monitor brauchte, um mich selbst shouten zu hören. Für so etwas lohnt es sich dann eben doch, auch in einem vergleichsweise kleinen Raum alle Instrumente einzeln abzunehmen. Unser Set hatten wir ein wenig umgestellt, das von Basser Holler mitgebrachte PROJEKT-PULVERTOASTMANN-Cover „ACAB“ deutlich vorgezogen und das ebenfalls anwesende Geburtstagskind Snorre – Sänger des Originals – mit sanftem Druck dazu überredet, die Nummer mit mir zusammen zu schmettern. Bezeichnenderweise entfiel uns beiden im Eifer des Gefechts die dritte Strophe, sodass wir zusagten, sie später nachzureichen… Die Stimmung war prächtig, vor der Bühne einige Bewegung und unsere Live-Premiere „Wænde“ funzte überraschend fehlerarm. „Cop Killing Day“ widmeten wir wie immer Stef, der die Nummer von SCHÖNES GLATTES FELL nach deren Auflösung im Entwurfsstadium zu uns mitgebracht hatte. Nach 15 Songs gab’s dann noch mal „ACAB“ im Duett mit Snorre, diesmal inklusive abwechselnd gesungener dritter Strophe, und weil man uns weiter nötigte, einfach noch mal „Blutgrätsche“. Feierabend!

Nachdem zuvor bereits der Hut rumgegangen war, wurde nun noch eine restaurierte E-Gitarre, die INBREEDING CLAN zur Verfügung gestellt hatten, für den guten Zweck versteigert, sodass insgesamt anscheinend tatsächlich ein hübsches Sümmchen zusammenkam. Ich hielt mich noch ‘ne Weile am Veltins fest und ging, als ich Gesichter nur noch verschwommen wahrzunehmen begann. Ein gelungener Abend! Danke an alle, die sich eingebracht oder beteiligt haben, insbesondere die Kollegen von INBREEDING CLAN und das Gaußplatz-Team um Wurzel & Co.!

P.S.: Danke auch an Flo(rentine) für die Schnappschüsse unseres Gigs!

Das Riesen-Ferien-Buch

Als ich dieses rund 200-seitige Softcover-Album aus der Carlsen-Qualitätscomicschmiede in einer Wühlkiste auf der Comic- und Manga-Convention in der Hamburger Fabrik entdeckte, fühlte ich mich wohlig an meine Kindheit erinnert, als ich mich immer freute, ein extradickes Ferien-Comicsonderheft auf dem Flohmarkt zu finden und es genüsslich während des Sommers zu verschlingen. Also sackte ich den im Mai 1996 veröffentlichten, vollfarbigen, auf mattem Qualitätspapier gedruckten Wälzer ein und vergrub mich auf meinem Urlaubsflug nach Mallorca darin.

Die vielen eingestreuten, sich an eine kind- und jugendliche Leserschaft richtenden Rätsel interessierten mich dabei weit weniger als das äußerst gelungene, kurzweilige Sammelsurium frankobelgischer Funny-Comics von „Spirou und Fantasio“ über die Gesetzeshüter-Karikatur „Dein Freund und Helfer“ (dessen Protagonisten ich seinerzeit über Kauka und Moewig als „Bully Bouillon“ kennengelernt hatte), den Krankenhaus-Irrsinn „Die kranken Schwestern“, die Abenteuer des Kfz-Mechanikers Isidor oder des Grundschülers Cedric bis hin zur Touristen-Animateure-Parodie „Cactus Club“, wovon mir das meiste zuvor unbekannt war. Erstmals las ich so auch das „Spirou und Fantasio“-Prequel-Spin-Off „Der kleine Spirou“, das mit seinem Humor und seiner Niedlichkeit heraussticht. Makaberer geht’s beim Totengräber Pierre Tombal zu; durchaus schwarzhumorig auch beim „Höllenspaß“, der Gags an der Himmelspforte mit Rätseln kombiniert. Zumindest zum Teil tut dies auch der Satansbraten „Die kleine Lucie“. Fast alle Reihen sind mit mehreren Geschichten vertreten, deren Umfang von Einseitern bis zu mehrseitigen Erzählungen reicht.

„Das Riesen-Ferien-Buch“ bietet somit auch einem erwachsenen Publikum einen sehr unterhaltsamen, abwechslungsreichen Überblick über frankobelgische Funnys und drängt sich damit als lockerer Einstieg in die Urlaubslektüre geradezu auf.

14.10.2023, Monkeys Music Club, Hamburg: COCKNEY REJECTS + NINETEEN EIGHTY FOUR + ON THE RAMPAGE

Man mag es kaum glauben, aber ich hatte die COCKNEY REJECTS noch nie livegesehen – die (Mit-)Erfinder des Oi!-Punk, die West-Ham-Legende aus Londons East End, die mit „Stinky“ Turner & Co. personifizierte Street Credibility! Es ist ja nun nicht so, dass sie nicht seit mittlerweile doch einigen Jahren regelmäßig Station in Hamburg machen würden; einmal hätte ich sogar die Gelegenheit gehabt, mit meiner eigenen Kapelle zu eröffnen, aber es war jedes Mal etwas dazwischengekommen. Nicht so diesmal! Zumal es sich um die Abschiedsrunde der Band handeln soll, die fortan zwar weiterbestehen und vereinzelte Gigs spielen, aber nicht mehr auf Tournee gehen wolle. In meinen Plattenregalen tummeln sich ehrlich gesagt „nur“ die bescheiden „Greatest Hits Vol. I-III“ betitelten drei Alben aus den Jahren 1980 und ‘81, was danach kam, soll seinerzeit mit hardrockigeren Klängen (zeitweise gar unter dem gekürzten Namen „The Rejects“) die alten Fans vergrault haben – und habe ich mir deshalb nie angehört. Könnte ich in diesen Musikstreaming-Zeiten eigentlich locker mal nachholen. Und natürlich auch die jüngeren Alben, mit denen sie zum alten Stil zurückgefunden haben sollen.

Zumindest auf letzteres habe ich nach diesem Konzert richtig Bock, aber der Reihe nach: Im 350 Gäste fassenden, ausverkauften Monkeys hatten die Niederländer ON THE RAMPAGE bereits zu spielen begonnen, als meine bessere Hälfte und ich unsere Tickets gegen Stempel eintauschten, waren demnach ober- oder gar etwas überpünktlich auf die Bühne gegangen. Sie zockten gerade recht kompetent ein THE-CURE-Cover („A Forest“), als wir dazustießen, und peppten ansonsten ihren etwas roheren, mit heiserer Stimme vorgetragenen Streetpunk mit sehr coolen Bassläufen auf, die schon mal die Gitarre als Lead-Instrument ablösten und bei Top-P.A.-Sound viel Spaß machten. ON THE RAMPAGE haben bisher ein Album am Start, das 2020 auf Sunny Bastards und Comandante Records erschienen ist. Ihre Ansagen hielten sie auf Deutsch und über die nächste Band wussten sie zu sagen, dass sie „gar nicht so scheiße“ sei.

Gemeint waren die französischen NINETEEN EIGHTY FOUR, die bisher zwei Alben und eine Handvoll Siebenzöller anzubieten haben. Frauen in Bands sind nichts Außergewöhnliches, eine Drummerin ist aber nach wie vor die Ausnahme. Diese verpasste dem recht smoothen, melodischen Streetpunk, nun mit zwei Gitarren, mit schönen Chören angereichert und einer auf die späten Siebziger abzielenden Oldschool-Ausrichtung, einen ordentlichen Punch. Gesungen wurde – nicht selbstverständlich für französische Bands – auf Angelsächsisch und zwei Nummern, insbesondere die letztere der beiden, erinnerte mich stark an THE CLASHs „Guns of Brixton“ (und andere nicht auf fröhlich getrimmte Punk/Reggae/Ska-Crossover-Songs). Schöner Gig, der nun auch ein paar mehr Leute zum Tanzen animierte. Leider gab’s keine Zugabe.

COCKNEY REJECTS eröffneten mit „Fighting in the Streets“ und hauten anschließend einen Gassenhauer nach dem anderen ‘raus, von frühem Material wie „I’m Not a Fool“ und „Flares ’n‘ Slippers“ über quasi sämtliche Hits der ersten beiden Alben bis hin zu in kleiner Dosis eingestreuten Stücken späterer Platten. Vom ungeliebten „The Power and the Glory“ gab’s den tatsächlich hörenswerten Opener „Power & Glory“ sowie „On the Streets Again“, aufhorchen ließ mich auch der Hit „I love Being Me“, der sich, wie ich jetzt weiß, auf „East End Babylon“ befindet. War überhaupt etwas von der aktuellen Langrille „Power Grab“ dabei? So oder so: Ein Best-Of-Set, wie man es sich als Fan der Klassiker nur wünschen konnte. Über die Form der Band hatte ich die letzten Jahre nur Gutes vernommen, was sich bewahrheiten sollte: Da saß jedes Riff, und Frontmann Turner, ehemaliger Boxer und nebenbei als Boxlehrer tätig, hat sein schrilles, herrlich rotziges Punkorgan kaum eingebüßt, war zudem permanent in Bewegung: Wenn er gerade nicht sang, ging er seinem Erkennungszeichen, dem Schattenboxen, nach und trainierte seine Beinarbeit. Mein lieber Scholli, wenn ich mal in dem Alter bin, will auch noch derart fit sein. Seine Ansagen erfolgten stilecht im breiten Cockney-Slang und er interagierte mit dem Publikum, ging auf Tuchfühlung, hielt dem Pöbel des Mikro zum Mitgrölen der Refrains vor die Fratzen. Entsprechend gut was los war vor der Bühne – Pogo, gereckte Fäuste, inbrünstig skandierte Songtexte. Stimmungshöhepunkte waren „We Are The Firm“, „The Greatest Cockney Rip-Off” (das ich schon den ganzen Tag im Ohr hatte), „Police Car“ und natürlich die West-Ham-Hymne „I’m Forever Blowing Bubbles“ sowie „Oi! Oi! Oi!“, der, soweit ich mich erinnere, bis ganz zum Schluss aufgespart wurde. Die Band gab sich generell keinerlei Blöße, zockte die rüpeligen Songs, als hätten wir 1982, und ist an den entscheidenden Positionen Gesang und Gitarre originalbesetzt. Das Publikum habe ich als angenehm gefunden, gemeinsam wurde ‘ne astreine Party gefeiert. An diesem Auftritt hab‘ ich so gar nichts zu bekritteln; im Prinzip verlief er genauso, wie ich ihn mir gewünscht hatte. Danke an die COCKNEY REJECTS für die musikalische Rückbesinnung, das Fitbleiben der verbliebenen Originalmitglieder und den Spaß an subkulturellen Clubshows, und danke ans Monkeys, das einmal mehr den idealen Rahmen für eine Veranstaltung wie diese bot. Würde mich freuen, die Band irgendwann noch mal sehen zu können.

Das knallgelbe „Bad Man“-Shirt vom Merch-Stand hätte ich mir vielleicht im nüchternen Zustand nicht unbedingt zugelegt, aber warum nicht mal wieder etwas Mut zur Farbe? 😀

Frank Schäfer – Woodstock ’69: Die Legende

Der Braunschweiger Frank Schäfer, Autor zahlreicher Veröffentlichungen aus den Bereichen Literatur- und Musikkritik, Populär- und Subkultur sowie autobiographisch geprägter Romane, machte sich mit dem im Jahre 2009 im österreichischen Residenz-Verlag veröffentlichten „Woodstock ‘69“ daran, ein ganz dickes Brett zu bohren: eine sich über rund 200 Taschenbuchseiten erstreckende Rekonstruktion des legendären Hippiefestivals, die sich auf eine beachtliche Zahl an Quellen stützt. Natürlich war der 1966 geborene Schäfer seinerzeit nicht selbst vor Ort. Dank seiner akribischen Quellenauswertung liest sich das in fünf Hauptkapitel unterteilte Buch jedoch mitunter, als sei er es gewesen.

So lassen sich die Vorbereitungen von der Gründung der Veranstaltungsfirma mit ihren gegensätzlichen Charakteren über fragwürdige Finanzdeals inkl. deren Hintergründe bis zu den Schwierigkeiten, ein passendes Gelände zu finden, nachlesen. Dass das Festival letztlich gar nicht in Woodstock, sondern 50 Kilometer entfernt stattfand, dürfte bereits für viele nicht unbedingt zum Allgemeinwissen zählen. Man erfährt Details zur Zusammenstellung des Line-Ups, sogar die einzelnen Gagen werden genannt. Schäfer schreibt unterhaltsam und bei aller Faktentreue spannend. Kritische Worte in Richtung der Veranstalter und deren Organisationsschwächen lassen früh erahnen, dass Schäfer nicht daran gelegen ist, den Woodstock-Mythos weiter zu nähren. Stattdessen stellt er diesen infrage, setzt sich aber auch mit von anderen kolportierter Kritik auseinander und zitiert zahlreiche Zeitzeugen. Über Schein und Wirklichkeit der u. a. von Warner Brothers finanziell gepuderten Veranstaltung heißt es beispielsweise auf S. 39:

„[…] [D]as öffentliche Bild war – und ist bis heute – ein anderes: nämlich das eines finanziellen Fiaskos. Und die Verantwortlichen taten gut daran, dieses Bild aufrechtzuerhalten, denn es verschaffte allen ein Alibi. Man konnte sich hier amüsieren, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, den Ausverkauf der Hippie-Lehre zu unterstützen. ‚Erst das‘, konstatiert Thomas Groß zu Recht, ‚machte aus dem Ereignis eine Art Lourdes des gegenkulturellen Glaubens.‘“

Einen Großteil des Buchs machen detaillierte Beschreibungen der einzelnen Auftritte aus, die weit über das hinausgehen, was man in den bekannten Dokumentarfilmen zu sehen und hören bekommt. Schäfer liefert Hintergrundinformationen, Analysen und Stimmen. Er geht auf die gesellschaftlichen und politischen Umstände angesichts des Vietnamkriegs sowie die Gründe für die Reihenfolge, in der die verschiedenen Acts die Bühne betraten, ein und zitiert ganze Songtextpassagen, stets begleitet vom Stimmungsbild der öffentlichen Berichterstattung und Beschreibungen der immer schlechter werdenden infrastrukturellen Umstände vor Ort – und wie man ihnen begegnete. CANNED HEAT und MOUNTAIN als musikalisch etwas härtere Bands sind ebenso Teil Schäfers musikhistorischer Reflektion wie THE GRATEFUL DEAD, wenn er der Frage nachgeht, weshalb ausgerechnet diese Vorzeigehippies trotz ihres Auftritts so wenig mit Woodstock in Verbindung gebracht werden. Mit CCR und THE WHO betraten wirklich gute Bands die Woodstock-Bühne, von denen mindestens letztere gar nicht so recht aufs Festival passten – wie Schäfer treffend analysiert.

Unterbrochen wird der musikalische Teil von einem Exkurs zu LSD-Papst Timothy Leary – frei von Verklärung, vielmehr fundiert und angemessen kritische Stimmen zitierend – sowie etwas, das sich bereits immer mehr angedeutet hatte: einem vielleicht recht hart anmutenden, aber gerechten Abgesang auf den Woodstock-Mythos und die Hippies, wofür Schäfer das „Westcoast-Woodstock“ Altamont Free Concert und die bereits zuvor verübten Morde durch die „Manson-Family“ heranzieht. Er zitiert verschiedene Erklärungsversuche und -ansätze und fasst die Ausschreitungen auf etlichen Festivals nach Woodstock zusammen. Anschließend geht es zurück nach Woodstock und damit zu den Sonntagsauftritten, wie jenem von CROSBY, STILL, NASH & YOUNG kurz vor der Veröffentlichung des ersten Soloalbums Neil Youngs, dem der Rock’n’Roll-Covertruppe SHA NA NA und natürlich Headliner JIMI HENDRIX‘, der – wie seine Vorgänger – erst am Montagmorgen spielte, als der Großteil des Publikums bereits wieder abgereist war! Seine Berichte zu den nicht in den bekannten Dokumentar- und Konzertfilmen enthaltenen Auftritten fußt Schäfer auf etlichen anderen Quellen bis hin zu Bootleg-Aufnahmen, aus denen er sie gewissermaßen rekonstruiert. Meist macht er zudem Angaben zum jeweiligen Bild- und/oder Ton-Veröffentlichungsstatus der einzelnen Auftritte, auch hier bis hin zu Bootlegs und YouTube-Fragmenten, was Woodstock-Archäolog(inn)en und -Sammler(innen) erfreuen dürfte (heute, also 14 Jahre später, aber wahrscheinlich nicht mehr ganz aktuell ist).

Teil des Woodstock-Mythos ist jener um JIMI HENDRIX, und auch dieser hat bei Schäfer kaum Bestand. Hendrix habe den US-Krieg gegen Vietnam sogar befürwortet und die Nationalhymne schon lange im Programm gehabt. (Schäfers Bibliographie weist übrigens zwei gesonderte Veröffentlichungen zu Hendrix auf: „A Tribute To Jimi Hendrix“, 2002 und „Being Jimi Hendrix“, 2012.) Das letzte Kapitel widmet sich der Postfestival-Rezeption und beginnt mit einer Art Pressespiegel. Außerdem wird die sicherlich nicht ganz unbedeutende Rolle der Filmcrew einzuordnen versucht. Schäfers These, und sie wird wahr sein: Der überraschend friedliche Ablauf beruht vor allem darauf, dass die Polizei draußen bleiben musste und der Sicherheitsdient sich aus eigenen, quasi subkulturellen Reihen rekrutierte – in Kombination mit einem drogensedierten Publikum. Dass Veranstalter, Publikums, Einzelinterpreten und Bands aber ein verschworener, für Love & Peace an einem Strang ziehender Haufen gewesen seien, gehört aber ins Reich der Fabel. Schlussendlich zieht er ein sich aus zahlreichen Zitaten zusammensetzendes Fazit zur Entstehung des Woodstock-Mythos, den er mit seinem Buch beeindruckend auseinandergenommen hat.

Insgesamt setzt Schäfer 240 Quellenverweise; wiederholt geht er auch über die Zitatform hinaus auf andere Literatur zum Thema sowie Szenen der Woodstock-Filme ein. Er zitiert auch sich widersprechende Aussagen und versucht, durch Abwägungen der Wahrheit näherzukommen. Für diese Kleinarbeit gebührt ihm ebenso Respekt wie für sein Geschick, daraus eine spannende Lektüre zu formen, die sich flüssig liest. Außer in jenen Momenten, in denen Schäfer seiner Schwächen für die Verwendung möglichst obskurer Wörter nachgibt. Gestolpert bin ich u.a. über lysergsauer (S. 27, = unter LSD-Einfluss), bramarbasiert (S. 76, = prahlerisch), Inaugurationsakt (ebd., = Amtseinführungsakt), Locus amoenus (S. 140, = idealisierende Naturschilderung in der Literatur), bukolisch (S. 141, = idyllisch), ausbedungen (S. 165, = zur Bedingung gemacht), decrouvierenden (S. 170, = entlarvenden) und arrondierend (S. 181, = abrundend).

Ein paar Fotos wären indes schön gewesen, insbesondere dann, wenn Schäfer Bilder wie z. B. die Plakatgestaltungen beschreibt. Die Buchmitte offeriert zumindest ein wenig Vor-Ort-Bildmaterial in Schwarzweiß. Sei’s drum, „Woodstock ‘69“ brachte mir als grundsätzlich pop- und rockkulturell interessiertem Leser, der jedoch Hippies und ihre Musik verabscheut, nicht nur den Festivalverlauf, sondern generell US-Musik der 1960er näher, wobei Schäfers subjektiver Musikgeschmack natürlich in seine Bewertungen miteinfloss. Interessanterweise schreibt er im Zusammenhang mit SHA NA NA vom Musicalfilm „Grease“ als das Ende eines ersten ‘50er-Revivals, das bereits Ende der 1960er begonnen habe – gewissermaßen also auch durch den SHA-NA-NA-Gig auf der Woodstock-Bühne.

Als überraschend hart empfand ich lediglich Schäfers JOAN-BAEZ-Schelte. Frank, wir wissen doch beide: Ohne Baez kein „Diamonds and Rust“ von JUDAS PRIEST!

26.08.2023, Wohlwill-/Paulinen-/Brigittenstraßenfest, Hamburg

Das Wohlwillstraßenfest heißt jetzt (oder schon länger?) Wohlwill-/Paulinen-/Brigittenstraßenfest und deckt damit auch im Namen all jene sympathischen Kiezseitenstraßen ab, in denen es seit jeher stattfindet. Lange war ich nicht mehr dagewesen, aus bekannten Gründen hatte es einige Jahre auch gar nicht stattgefunden. Diesmal war ich pünktlich am Start, um noch den recht großen und um Verzehr- und einige antifaschistische Infostände angereicherten Flohmarkt mitzunehmen, der wie üblich direkt zur Anhängerbühne auf dem Paulinenplatz führt, wo sich diverse Underground-Bands aus Hamburg und dem Umland umsonst und draußen ein Stelldichein geben. Als am Nachmittag THE GENTS den Reigen eröffneten, lieferten sie damit zunächst den Soundtrack zu den letzten Metern meines Flohmarktbummels, bis ich mich gegen Ende des Sets an der Bühne einfand. Garage- bzw., in Anlehnung an einen ihrer Songs, Carport-Punk war angesagt, was nicht unbedingt zu meinen favorisierten Subgenres zählt und mich auch nicht so ganz erreichte. ANNIE ANYWAY zockten anschließend melodischen Punkrock in Triogröße, wobei Gitarristin, Bassistin und Drummerin alle mal singen durften. Mit den flotteren, ruppigeren Stücken konnte ich mehr anfangen als mit dem langsameren, für meine tauben Ohren eher gen Emo tendierenden Songs. Zwischendurch riss eine Saite, doch dank HARBOUR-REBELS-Dennis‘ Hilfe konnte es alsbald weitergehen. Obwohl mittlerweile doch so einiges an interessiertem Publikum zusammengekommen war, war der Abstand zwischen eben jenem und der Bühne noch immer immens, was bei diesem Straßenfest nicht unüblich ist, aber irgendwie doof aussieht und ein Indiz dafür sein könnte, dass für die meisten die Musik eher Hintergrundbeschallung zum Freundetreffen, Sabbeln und Trinken ist, so ehrlich gesagt auch bei mir. Ach ja, leckeres preiswertes Essen vom Grill gab’s auch noch, das Sojaschnitzel im Brötchen war haute cuisine!

Das Duo SPARCLUB war als nächstes an der Reihe und hatte letztes Jahr auf dem Schanzenfest irgendwie mehr gebockt als hier und heute, wo es ein wenig verloren wirkte und nur zu zweit soundtechnisch nicht sonderlich viel Druck erzeugen konnte. Nach ein paar Songs war ich aufgrund eines Zwischenfalls eine Weile unabkömmlich (direkt am Spielplatz herumliegende Sprühdosen sind nur bedingt ‘ne gute Idee…) und bekam somit nicht mehr allzu viel von diesem Gig mit. Auf THE MUTTNICKS verzichtete ich dann zugunsten eines Tipps, der per Mundpropaganda die Runde machte: Man solle unbedingt in die unweit gelegene Jägerpassage kommen, dort spiele eine Hammerband. Wovon redeten wir? Eine geheime EIGHT-BALLS-Reunion? SLIME in Originalbesetzung? Nicht ganz, ging dann doch „nur“ um FAT FLAG, die sich nicht etwa als BLACK-FLAG-Coverband entpuppten, sondern als schön rotzig nach vorne gehender Punkrock mit deutschen Texten von ein paar Herrn im besten Alter und in Feinripp-Unterhemden. In der wohligen Hinterhof-Charme ausatmenden Passage zwischen zwei Wohnhäusern war eine Bühne aufgebaut worden, über die offenbar auch hier ein buntes Programm ging. Ein Getränkestand versorgte einen mit Cocktails und Bier, eine Gemeinschaftstoilette im Haus stand allen zur Verfügung. Geiler Scheiß, der sogar besser angenommen wurde als die Paulinenplatzbühne, wobei es durch die schlauchförmige Enge hier zudem wesentlich drängeliger und gemütlicher wurde und der Mob bis ganz vorn zur Bühne reichte. Der Bassist fiel nach ein oder zwei Songs von derselben und im Publikum wurde gegen Ende eine Pyramide à la SCORPIONS gebildet. Rockte like a Hurricane!

Dabei stand der eigentliche Höhepunkt noch bevor: ATOM ATOM! Das Hamburger Trio spielte als letzte Band Paulinenplatz und machte wieder richtig Laune. Im Prinzip ähnlich wie auf dem Affengeburtstag, mit dem Unterschied, dass ich diesmal das Tanzbein schwang. Da ich damit nicht ganz allein war, kam nun auch mehr Stimmung vor der Bühne auf. Durch die Dunkelheit kamen Bühnenlicht und -nebel gut zur Geltung und sorgten für ein Plus an Atmosphäre. Im Prinzip war das der krönende Abschluss eines ausnahmsweise mal wirklich schönwettrigen Hamburger Sommertags, auf den sogleich ein Regenschauer folgte, vor dem man im Jolly Schutz fand. Warum ich mich dort nun noch derart abfüllen musste, dass es beinahe auf allen Vieren nach Hause ging (inklusive mit irgendwo verlustig gegangenem schwarzem Zipper – jemand gefunden? Finderlohn: Bier!), weiß ich hingegen wirklich nicht, besiegelte aber endgültig meine Urlaubsreife, weshalb mein kleiner Tagebucheintrag erst jetzt, nach zwei erholsamen Wochen auf der Insel, nachgereicht wird…

Cinema-Sonderband Nr. 1: Das Beste aus den Start-Ausgaben

Cinema, die größte deutsche Kino-Zeitschrift, existiert seit 1976 und war einst ein wichtiges Informationsmedium, das es sich jedoch oftmals mit simplen Handlungsnacherzählungen zu Filmen inklusive Spoilern etwas zu einfach machte. In der zweiten Hälfte der 1980er jedoch war aus dem einst eher den Eindruck eines Werbeblatts der Filmindustrie hinterlassenden Heft ein inhaltlich durchaus ernstzunehmendes Periodikum geworden. Im Jahre 1980 brachte man in Form dieser 68-seitigen Sonderausgabe einen Sammelband nach Dafürhalten der Redaktion besonders lesenswerter Artikel aus den vergriffenen Startausgaben heraus, um der Nachfrage nach längst vergriffenen alten Heften gerecht zu werden. Schade indes, dass sich nirgends entnehmen lässt, in welcher Ausgabe die jeweiligen Inhalte erstabgedruckt worden waren.

Auf das mit dem Inhaltsverzeichnis verwobene Vorwort folgt ein achtseitiger Bericht über Stanley Kubricks „Barry Lyndon“, in dem Wolf Donner sich redlich Mühe gibt, den Film wohlwollend zu umschreiben, ohne allzu sehr durchblicken zu lassen, dass er ihn als eigentlich eher langweilig empfand. Die sich durchs Heft ziehenden zahlreichen großformatigen Fotos sehen aus heutiger Perspektive nach Platzschinderei aus, erfüllten in Zeiten nicht überall auf Mausklick verfügbarer Trailer oder Fotostrecken aber den nachvollziehbaren Zweck, optische Eindrücke eines visuellen Mediums zu vermitteln – und entfalten dann und wann beim Blättern in diesen alten Zeitschriften ihren ganz eigenen Reiz.

Weiter geht’s mit dem Disney-Zeichentrickfilm „Bernard und Bianca“ und einem schönen Interview mit Bud Spencer, worauf ein reich bebildertes, fünfseitiges Porträt B.O. Wulffs der Erotikdarstellerin Sylvia Kristel folgt. Anstelle des im Inhaltsverzeichnis und auf dem Titelblatt angekündigten Berichts zu „Ein ausgekochtes Schlitzohr“ wird das Katastrophenfilm-Genre mit „Achterbahn“ bedient. Laut James Goldstone seien „suspence-Klassiker wie Alfred Hitchcock und Carol Reed“ Vorbilder gewesen. Wenn das keine Stilblüte ist… Kommen wir zu James Bond mit „Der Spion, der mich liebte“, der auf den satten acht Seiten nach allen Regeln der Kunst gespoilert wird. Immerhin finden sich hier neben einigen Kästen mit Zusatzinformationen aber auch kritische Worte zu den vorausgegangenen Bond-Filmen. Zwei Seiten widmet man „Schwarzer Sonntag“, bevor man zu einem wirklich interessanten Hintergrundbericht zum die Watergate-Affäre verarbeitenden „Alle Männer des Präsidenten“ übergeht. Eine Witzseite sorgt für Zerstreuung und der anschließende Artikel zu „Bilitis“ ist so weit ok, wenn auch sehr unkritisch – vermutlich dem damaligen Zeitgeist geschuldet.

Nach noch mehr Witzen bekommt der Polit-Thriller „Julia“ zwei Seiten spendiert, der Hintergrundbericht „Kino zwischen Profit und Pleite“ beschreibt knapp das unternehmerische Risiko von Filmproduktionen und die sieben Seiten zu „Die Tiefe“ lesen sich leider fast wie ein reiner Promo-Text. Einige Bildunterschriften sind verschwommen und daher nur schwer lesbar. Spielbergs „Unheimliche Begegnung der dritten Art“ wird abschließend mit sage und schreibe zehn Seiten bedacht, inklusive vieler großer Bilder, die hier aber insbesondere deshalb ihre Berechtigung haben, weil sie das besondere Farbenspiel des Films erahnen lassen. Der mit oberflächlichen Infokästen über Regisseur Spielberg und Spezialeffektkünstler Trumball versehene Artikel spoilert die Handlung jedoch wieder komplett und steckt mehr noch als die anderen Heftinhalte voller Zeichensetzungs- und Grammatikfehler.

Eigenartige Phänomene wie Bindestriche flankierende Leerzeichen und Rechtschreibschwächen wie „Jagten“ als Plural von „Jagd“ finden sich immer mal wieder und das Vorwort wurde offenbar auf den allerletzten Drücker eingereicht, sodass es kein Korrektorat mehr durchlaufen konnte. Um einen Eindruck der Stärken und Schwächen alter Cinema-Ausgaben zu erhalten, eignet sich dieser Sonderband also gut. Dass diese durchwachsene Sammlung tatsächlich „Das Beste“ aus den Startausgaben sein soll, stimmt hingegen nachdenklich…

Später folgte übrigens eine auf knapp 200 Seiten erweiterte Neuauflage mit neuem Cover. Vielleicht findet sich darin ja etwas über den bereits auf diesem Titel angekündigten Schauspieler Marty Feldman, der mir auch beim nochmaligen Durchblättern verborgen blieb. Marty, wo hast du dich versteckt?

Wie haltbar ist Videokunst? / How durable is Video Art? Beiträge zur Konservierung und Restaurierung audiovisueller Kunstwerke

Dieses 116-seitige broschierte Buch auf hochwertigem, festem Papier habe ich vor einiger Zeit aus einer „Zu verschenken“-Kiste am Straßenrand gefischt. Da ich selbst VHS-Bänder aufbewahre, hatte es mein Interesse geweckt. Herausgegeben wurde der sämtliche Inhalte in einer deutschen und einer englischen Fassung enthaltende, dadurch zweispaltig gestaltete Sammelband vom Kunstmuseum Wolfsburg im Jahre 1997. Anlass war das dessen Videosymposium am 25. November 1995. Aufgeteilt in neun Kapitel plus zwei Vorworte und ein paar Begleitinformationen wird der Begriff „audiovisuelle Kunstwerke“ dahingehend verengt, dass es vornehmlich um Videoinstallationen in Ausstellungen geht, weniger um z.B. fiktionale Spielfilme und Serien auf Videobändern. Anlass des Symposiums war die Ausstellung „High-Tech-Allergy“ des Künstlers Paik; abgedruckt sind die Vorträge verschiedener Referentinnen und Referenten jener Tagung sowie ein Interview mit Paik.

Das Vorwort verdeutlicht, worum es vorrangig geht:

„Die Zersetzung von Magnetbändern in Archiven, der Ausfall von Abspielgeräten, Mangel an Ersatzteilen, eine aufwendige Wartung sowie die rasante Weiterentwicklung der Bildverarbeitung verlangen vom Restaurator eine intensive Beschäftigung mit dieser erst dreißig Jahre alten Kunstform und ihrer Technik.“ (S. 7)

Nach einem Abschnitt über die grundlegenden technischen Unterschiede zwischen analogen und digitalen Speichermedien (damals vor allem die CD) sensibilisiert das zweite Kapitel für die Vielfalt an Videoformaten und deren Flüchtigkeit bei unsachgemäßer Handhabung, also die Empfindlichkeit der Magnetbandtechnologie. Fortan geht es, unterbrochen von einem recht aufschlussreichen Kapitel zum Thema Restaurierung, verstärkt um Videoinstallationen, die i.d.R. aus auf Video gespeichertem Filmmaterial und dazugehöriger Hardware bestehen. Daraus ergeben sich Fragen, inwieweit Einzelteile austauschbar sind, wenn z.B. zur Installation gehörende Röhrenmonitore ausfallen und ein absolut gleiches Ersatzmodell nicht mehr verfügbar ist. Das Fazit lautet sinngemäß: Das müsse mit der jeweiligen Künstlerin bzw. dem jeweiligen Künstler besprochen werde. Diese sind meist entspannt und reagieren mit „Nimm halt etwas Ähnliches, passt schon.“ Zugleich wird dadurch aber auch ein Plädoyer dafür ausgesprochen, vermeintlich veraltete Technik nicht zu verschrotten, sondern aufzubewahren und zu pflegen.

Besonders schön ist Axel Wirths‘ Kommentar zu Restaurierung, den sich das eine oder andere Heimkino-Label zu Herzen nehmen sollte:

„Diese Grundrestaurierung muß selbstverständlich die durch die damalige Technik bedingten Eigenschaften wie Grundrauschen, Dropouts etc. bewahren. Ein Band von 1972 darf nach der Restaurierung nicht aussehen wie eine Fernsehproduktion der 90er Jahre.“ (S. 64)

Wirths ist auch, der bereits damals eine Mischung aus Streaming-Angeboten, Pay- und Free-TV prognostizierte, wie wir sie heute als selbstverständlich empfinden.

Eher rechtlich und damit etwas trocken wird es bei Julia Meusers Kapitel zu Urheberrecht und Werkintegrität. Stilistisch ganz furchtbar ist Hans Ulrichs Recks Kapitel „Authentizität in der Bildenden Kunst“, aus dem ich exemplarisch folgenden Absatz zitiere:

„Die authentische Auslegung ist eine vom Verfasser/Urheber selbst getroffene Erklärung. Gerade die Erzählung der Kunstgeschichte ist dem Individuum als Instanz der Absicht, des Apriori jeder Intentionalität verpflichtet. Sie läßt ihrem Gegenstand – die Genesis der neuzeitlichen Kultur – aus dem Individuum hervorgehen. Daran wird eine Doppelung sichtbar: Diskurs der Geschichte als Setzung des Ich. Meta-Diskurs der Kunsthistorie als Genesis der Genesis dieses Ichs, das, mit der Kraft der Abstraktionen ausgestattet, in die Sphäre einer ästhetischen Geschichte verlegt wird.“ (S. 85)

Hiernach habe ich dieses Kapitel abgebrochen, denn es sollten noch 16 (!) weitere Seiten geschwurbelter Bleiwüste folgen.

Ein Interview mit Videokünstler Nam June Paik rundet den Band ab, der – von Reck einmal abgesehen – interessante Einblicke in das museale Interesse damals moderner Kunst bietet, für die Bedeutung älterer Technik sensibilisiert und Tipps zu Lagerung und Konservierung gibt. Eingeschlichen haben sich jedoch recht viele Zeichensetzungsfehler. Sonstige Rechtschreibfehler unterscheiden sich je nach Kapitel (und somit nach Referent(in)). Bildmaterial in Form sehr kleiner Fotos von Installationen und mitunter gar grauschraffierten Skizzen und Diagrammen ist meist nur schwer zu erkennen, hier wäre mehr Mut zu größeren Abbildungen und an die Publikationsform angepassten Grafiken wünschenswert gewesen. Insgesamt macht das Buch einen semiprofessionellen Eindruck.

Dem aktuellen Stand der Technik entsprechen die Inhalte natürlich nicht mehr, denn zumindest das relativ einfach mögliche Digitalisieren von VHS-Aufzeichnungen dank beschreibbarer DVDs und die Archivierungsmöglichkeiten dank erschwinglicher großer Festplatten und SSDs wurden damals noch nicht vorausgesehen. Und so manche Videokassette auf Qualitätsband, das nicht in zig verschiedenen Billigrekordern zu Tode genudelt wurde, hat sich bis in die Gegenwart dann glücklicherweise doch auch als robuster erwiesen als einst befürchtet.

17.08.2023, Monkeys Music Club, Hamburg: ANTAGONIZERS ATL + RED BRICKS

…und ANTI-HEROS. Die waren mein primärer Grund für den Konzertbesuch, sollte die US-Oi!-Band, die bereits seit den 1980ern besteht, doch erstmals seit über 20 Jahren drei Gigs in Deutschland absolvieren: in Essen, tags darauf in Hamburg, anschließend in Berlin. Dazu später mehr. Wäre nicht viel potenzielles Publikum bereits zum „Spirit of the Streets“-Festival aufgebrochen gewesen, wäre das Monkeys an diesem Donnerstag sicherlich noch um einiges besser besucht gewesen. Trotzdem bot sich eine ordentliche Kulisse, als ich mir endlich meinen zweiten RED-BRICKS-Gig anschauen konnte. Die machen sich ja eigentlich nicht gerade rar, aber seit sie ihren neuen Sänger haben, hat es irgendwie nie bei mir gepasst. Im Vorprogramm von THE OPPRESSED hatte ich sie zuletzt sogar nur knapp verpasst. Nun ging aber alles klar: Die Hamburger spielten sechs Song ihres im vergangenen Jahr erschienenen Debütalbums, dazu ein paar jüngere Songs, u.a. das brandneue, am Tag nach dem Gig online veröffentlichte Stück „They Shall Not Pass“. SHARP-Attitüde traf auf die hohe Musikalität erfahrener Bandmitglieder; zwei Gitarren zauberten unkitschige Streetpunk-Melodien, auf die der Sänger mit kräftigem Organ durchdachte Texte mit unwiderstehlichen, oft zum Fäusterecken einladenden Refrains legte. Abgerundet wurde der tolle Auftritt bei ziemlich gutem, differenziertem Sound vom „Ultra Violence“-Cover mit gesanglicher Unterstützung des Publikums. RED BRICKS, die kürzlich auch auf dem englischen Rebellion-Festival aufgetreten sind, sind definitiv eine der Bands der Stunde. Schade nur, dass Bassist Keith an diesem Abend unabkömmlich war. Ersetzt wurde er vom ANTAGONIZERS-Bassisten, der angesichts der kurzen Vorbereitungszeit seine Sache erstaunlich gut machte.

Die ANTAGONIZERS als Atlanta begleiten ihre Nachbarn ANTI-HEROS auf deren Europatour und traten ebenfalls als Quintett mit zwei Gitarren auf. Der Sänger der anscheinend seit den 2010ern existenten Band sorgte von der ersten Sekunde an für Stimmung; völlig entfesselt peitschte er vom Bühnenrand das Publikum an und haute mit kräftiger Background-Unterstützung einen feinen Singalong nach dem anderen heraus, dass es die reinste Freude war. Anfänglich wurde der Gesang noch stark von einer der Gitarren überlagert, aber der Tonmann besserte im Laufe der ersten Songs nach. Der Funke jedenfalls sprang über, einige Gäste (inkl. euer werter Chronist) schwangen fröhlich das Tanzbein und durften sich über das BLITZ-Cover „Warriors“ freuen, für dessen Refrain der Sänger sich ins Publikum begab und die Meute mitsingen ließ. Auf Ansagen verzichtete man größtenteils, als habe man keine Zeit zu verlieren und wolle dem europäischen Publikum so viele Songs wie möglich präsentieren. Einer davon war zudem brandneu. Ein begeisternder Gig, doch die gute Stimmung konnte leider nicht bis zum Ende des Abends gehalten werden…

…denn nachdem die ANTI-HEROS Backing-Band (zu der auch einer der beiden ANTAGONIZERS-Klampfer zählt) als Intro eine ziemlich geil aufgepimpte Version des 4-SKINS-Instrumentals „The Spy from Alaska“ gezockt hatten, betrat Sänger und Bandkopf Mark die Bühne mit einem T-Shirt, das seine Sympathien fürs Trump-Lager mehr als nur erahnen ließ. Das machte dann auch rasch im Publikum die Runde, woraufhin sich ein nicht unbeträchtlicher Teil der Anwesenden in den Pub-Bereich zurückzog und lieber miteinander trank, als die Band vor der Bühne zu unterstützen. Da auch ich dazuzählte, kann ich hier zum Gig nichts weiter schreiben. US-Oi!-Legende hin oder her, auf so etwas habe ich keinen Bock. Nach dem Gig habe Mark dann noch etwas von „Joe Biden ist schlimmer als Hitler und Stalin zusammen, man erzählt euch in Deutschland nicht die Wahrheit!“ gefaselt und auf Facebook hat er Videos von Alt-Right-MAGA-Deppen gepostet. Der dürfte sich aber mal ganz kräftig im Geflecht aus Verschwörungsideologien, Rechtspopulismus und Fehlinformationen verheddert haben. Das Monkeys-Team war davon genauso überrascht wie wir. Schade, denn diese Band bedeutete mir mal etwas und ich hatte mich wochenlang auf den Gig gefreut. Zeichen der Zeit…

Batman Classics Sonderband 1: Das Beste aus den 60er Jahren

Eine der faszinierendsten (Super-)Helden-Comic-Reihen ist seit jeher Batman, gerade weil er über gar keine Superkräfte verfügt. Von DC im Jahre 1939 erstmals ins Rennen geschickt, durchlebte der dunkle Ritter zahlreiche Metamorphosen, Spin-Offs und Reboots. Im Jahre 1999, also zum sechzigjährigen Jubiläum, stellte der deutsche Dino-Verlag für diesen Sonderband besonders relevante oder herausragende Batman-Comics aus den 1960ern zusammen, um sie auf rund 150 Seiten angereichert mit zahlreichen Hintergrundinformationen und einem eingehefteten Bastelbogen (für je einen Batman- und Robin-Aufsteller) neu zu präsentieren und so nachgewachsenen Leserinnen- und Lesergenerationen nahezubringen. Es handelt sich um einen vollfarbigen, handgeletterten Softcover-Band im bewährten Heftchenformat, der dem 1998 verstorbenen Batman-Erfinder Bob Kane gewidmet ist.

Im Vorwort geht Adam West, der Schauspieler also, der Batman in der komödiantischen Fernsehserie von 1966 bis 1968 und im Spielfilm aus dem Jahre 1966 verkörperte, auf eben jene Serie ein und schreibt, dass die Batman-Comics jenes Jahrzehnts die Hauptinspirationsquelle für die Serie gewesen seien. In dieser war Batman alles andere als düster. Dies ist ein Hinweis darauf, dass es die damaligen Comics ebenfalls noch nicht waren bzw. dass sie zumindest eine humoristische Lesart erlaubten. Näher ins Detail geht die Infoseite „Batmans ,New Look‘“, die von der Neuausrichtung unter Redakteur Julius Schwartz im Jahre 1964 berichtet, der Batman wieder zu einem bodenständigen detektivischen Helden gemacht und den Science-Fiction-Anteil ebenso wie die Superschurken stark zurückfahren hatte. Als zwei Jahre später die TV-Serie ausgestrahlt und ein Riesenerfolg wurde, habe man sich jedoch stark an ihr orientiert. Die Serienmacher orientierten sich also an den Comics, die sich daraufhin an der TV-Serie orientierten: Ein schönes Beispiel für die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Medienformen.

Die erste Geschichte lautet „Kriminelle Komödien des Jokers!“ und stammt aus dem Juli 1964. Adam Wests genannte Inspiration wird hier verständlich, handelt es sich doch um eine komödiantische Story mit dem Joker als Antagonist, die man sich gut auch als Serienepisode hätte vorstellen können, die aber zugleich eine schöne Hommage an die Humoristen der Stummfilm-Ära darstellt. Der obszöne Reichtum des Opfers indes wird nicht problematisiert.

Auf eine Seite mit Batman- und Robin-Zeichenskizzen folgen „Die rätsellosen Raubzüge des Riddlers“ aus dem März 1966, eine großartige Geschichte um den mit seinem innere Zwang , Batman und Robin ständig Rätsel im Zusammenhang mit seinen Verbrechen stellen und damit Hinweise geben zu müssen, ringenden Schurken. Er versucht hier, sich selbst davon zu heilen. Das ist spannend und verfügt tatsächlich bereits über so etwas wie psychologischen Tiefgang – wenn auch noch arg abstrahiert, dafür nicht so albern, und wirft die Frage auf: Sind die Bekloppten, die einem im Alltag immer mal wieder über den Weg laufen, am Ende nicht vielleicht Hinweisgeber auf jemanden vom Schlage eines Riddlers?

Die Infoseite „Die Schurken der 60er, Teil 1“ proträtiert in Kurzform den Joker, den Riddler und Blockbuster, der im November 1965 eingeführt wurde und nun in „Blockbuster schlägt wieder zu!“ aus dem März 1966 zum Zuge kommt. Diese Geschichte wartet mit einer Rückblende in die Origin-Story des Blockbusters und als einen spektakulären Höhepunkt die Demaskierung Batmans vor dem Gegner auf. Es stellt sich heraus, dass der geheimnisvolle Outsider involviert ist, den man nicht bzw. nur in Form seines Schattens zu Gesicht bekommt und der der Geschichte einen düsteren Touch verleiht. Ein Infokasten nach dem letzten Panel enthält Hintergrundinformationen zu dieser 1964 eingeführten Figur, wurde aber leider nicht ins Deutsche übersetzt – weshalb auch immer.

Nachdem man sich auf einer weiteren Infoseite über die Batmobile der sechziger Jahre schlaumachen konnte, geht es mit Poison Ivys Origin-Story „Die Küsse von Poison Ivy!“ aus dem Juni 1966 weiter, die ein Stück weit auch eine Hommage an die Femmes fatales des Film noir bzw. entsprechender Kriminalbelletristik ist. Die Texte und Ideen sind grandios: Man verguckt sich ineinander, Ivy gleich sowohl in Bruce Wayne als auch in Batman, erstmals zieht sich Wayne öffentlich in Batman um und sogar drei ältere Schurkinnen werden involviert, als Ivy sich derer Eitelkeit zunutze macht, um sie gegeneinander auszuspielen. Da macht sich Robin zurecht Sorgen, dass Batman ihr verfallen könnte. Sexy und ein toller Einstand!

Wir bleiben bei Frauen-Power: „Batgirl teilt das dynamische Duo!“ aus dem November 1967 hat diverse blumige Umschreibungen für Barbara Gordon alias Batgirl parat, von der „maskierten Maid“ über die „schwingentragende Schönheit“ bin zur „schönen Schurkenjägerin“ und zeigt einen geschwächten Batman, der sich mit Sumpffieber infiziert hat. Batgirl wird daher zu seiner Beschützerin, ohne dass er davon weiß, wodurch es aber zu einem für alle Beteiligten belastenden Gezerre um Robin kommt. Eine etwas arg konstruierte Geschichte, die sich aber inhaltsschwanger um Themen wie Loyalität, Eifersucht und Loslassen dreht – und um Batgirls Moped-Widget, den spektakulären Spektrographlichtpfeilstrahl! Die Story endet mit einem vielversprechenden Cliffhanger in Bezug auf Catwoman…

„Die Schurken der 60er, Teil 2“ porträtiert Poison Ivy, Scarecrow und den Pinguin, woraufhin der Zweitgenannte in „In der Hand des Schreckens!“ aus dem März 1968 seinen großen Auftritt bekommt. Die Geschichte um Scarecrows Furchterzeugungspille tendiert gen Horror, nebenbei werden Batmans und Robins Origin-Storys eingeflochten. Robin wird als „titanischer Teenager“ alliteriert und neben Scarecrow geben sich zahlreiche weitere Schurken ein Stelldichein. Das Finale fällt deftig aus, von Klamauk keine Spur. Offen bleibt nur, wie zur Hölle diese Pille funktioniert. Eventuell wurde diese Geschichte nicht ganz zu Ende gedacht…? „Überraschung! Du bist tot!“ heißt es anschließend für Batgirl („die schattenhafte Schönheit“) in dieser Geschichte aus dem Juni 1969. Es geht um Mummenschanz und Verwechslungen, um Menschen in Superheldenkostümen, die meisten davon Verbrecher…

„Eine Kugel zuviel!“ aus dem Dezember 1969 bedeutet eine Zäsur: Robin verlässt Wayne Manor, um aufs College zu gehen, woraufhin Bruce mit Diener Alfred ins Zentrum Gothams umzieht. Diese Geschichte markiert die Wiedergeburt des realistischeren Stils und die Einzug haltende Sozialkritik in die Batman-Welt. Die Wayne-Stiftung wird ins Leben gerufen und fungiert als Opferschutz- und -hilfsorganisation. „Eine Kugel zuviel!“ mit ihrem seltsam offenen Ende steht stellvertretend für das nach dem Ende der TV-Serie reaktivierte, bereits zuvor von Schwartz intendierte Konzept, Geschichten ohne Superschurken, dafür einfacheren Gangstern zu entwickeln (worüber die vorangestellte Infoseite „Die Rückkehr zum dunklen Ritter“ in Kenntnis setzt). Diese Art von Batman-Geschichten dominierte dann offenbar eine Weile die Comicreihe, bis man irgendwann in den 1970ern zur von mir favorisierten Kombination aus Realismus, sozialem Gewissen und psychopathischen Überschurken überging, bis es wiederum Mitte der 1980er zur „Crisis on Infinite Earths“ kam und das gesamte DC-Universum quasi neu geschrieben werden musste.

Auch die Erläuterungen am Ende dieser letzten Geschichte des Bands wurden leider nicht übersetzt. Bei den sporadisch auftretenden Werbeanzeigen bin ich hingegen froh darüber, dass sie jeweils im Original belassen und nicht durch Dino-verlagseigene Anzeigen ersetzt wurden. Eigenartig ist jedoch, dass man orthographisch eigentlich voll auf der Höhe ist, die letzte Seite mit den Zeichner-Kurzporträts aber offenbar am Lektorat vorbei ins Buch fand. Das ist etwas schade für einen ansonsten überaus gelungenen Sonderband, der neben viel Comic-Geschichtsunterricht auch überaus lesenswerte Geschichten aus einer längst vergangenen Dekade kompiliert, von denen es viele zuvor nie nach Deutschland geschafft haben dürften. Bemerkenswert sind auch ihre jeweiligen Establishing Shots, die i.d.R. herrlich reißerisch suggerieren, dass eigentlich alles aus sei.

Dieser Band wird sich gut in meinem Regal zwischen den Zusammenstellungen noch älterer Batman-Comics und meiner geliebten Sammlung jener genannten ‘70er- und ‘80er-Ausgaben machen.

Markus Caspers – Die 80er – Alles so schön bunt hier!

Noch vor der großen ‘80er-Jahre-Retrowelle, genauer: im Jahre 2007 veröffentlichte der Kölner Verlag Naumann & Göbel (NGV) Markus Caspers gebundenen großformatigen und kommentierten Bildband mit abwischbarer Oberfläche und auf festem, hochwertigem Papier: Rund 260 Seiten stark, mit über 400 Bildern. Böse Zungen behaupten, die ‘80er hätten auch eine abwischbare Oberfläche gehabt, verkennen dabei aber, dass unterkühlte Neo-noir-Ästhetik und synthetische Musik Ausdruck eines Zeitgeists und eines Lebensgefühls waren (und sind), das sich aus verschiedenen Faktoren zusammensetzte und entwickelte – und gern an konformistischen, konsumorientierteren Oberflächlichkeiten kratzte.

Die ‘80er reichen auch hier von 1980 bis 1989 statt von 1981 bis 1990, die ‘80er also nicht als Dekade, sondern als Zeitraum von Jahren mit einer 8 an der Zehnerstelle und somit der verbreiteten umgangssprachlichen Definition folgend. Anspruch Caspers war es – so sein Vorwort –, die Leserinnen und Leser in jene Zeit zurückzuversetzen. Unterteilt hat er seine Zeitreise in die Kapitel Politik, Konsum, Momente, Style, Jugend, Pop, Kunst, Fernsehen, Design, Mode, Sport und Film, von denen einige eine eigene Einleitung erhalten (fünf Euro ins Alliterationsschwein…). Mit der Politik zu beginnen, ist eher ungewöhnlich und zeugt von einer anderen Herangehensweise als sie beispielsweise fünf Jahre zuvor das Bravo-Sonderheft an den Tag legte. Der Blick auf die Politik ist indes sehr BRD-zentriert. Neben der Bundespolitik geht es um Nachrüstung, Atomkraftwerke und Proteste, bevor es mit Glasnost internationaler wird. Das Kapitel endet mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze am 9. November 1989.

Weniger Seiten stehen fürs Kapitel Konsum zur Verfügung, auf denen es neben durchaus auch kritischen Worten zu Produktion & Umwelt, Essen & Trinken und dem Geschäft damit viel um den Einzug der Computer und des Digitalen in die Haushalte geht. Der bundesdeutsche Blick fällt im Kapitel „Momente“ erneut auf, wenn es um den ersten Westdeutschen im All, die Rote-Armee-Fraktion, Matze Rust, Hitlers vermeintliche Tagebücher, Rösner & Degowski und Ramstein geht. Aber auch Prinz Charles und Lady Di, Grace Kellys Tod und die Explosion der Challenger werden aufgegriffen. Im Style-Kapitel schreibt Caspers statt von der Postmoderne von Ekklektizismus [sic] sowie vom Ende des Funktionalismus zugunsten eines bunter werdenden Alltags und einer ästhetischen Radikalisierung. Damit fasst er gut zusammen, was die ‘80er-Ästhetik ausmachte – wenngleich das Jahrzehnt dazu noch genuin Eigenes recht dominant addierte (stärker als spätere Dekaden).

Über Stilmix, Styling und Design geht es schließlich zum Kapitel Jugend, in dem – einem späteren separaten Kapitel zum Trotz – der Mode-Aspekt dominiert und Jugendsubkultur leider lediglich (aber immerhin!) in Form von Punk stattfindet. Dafür schaffte es auch die DDR-Jugend auf zwei Seiten. Der Übergang zum Kapitel Pop ist folgerichtig und bemüht sich, bis hin zur Klassik möglichst viele Richtungen abzudecken, wobei die Neue Deutsche Welle den Löwenanteil abbekommt. Das (kurze) Kunstkapitel, das sich der bildenden Kunst widmet, gibt es woanders nach meinem derzeitigen Kenntnisstand nicht einmal so ähnlich. Schade nur, dass statt der Kunstwerke (aus urheberrechtlichen Gründen?) Fotos der Künstler abgedruckt sind…

Das Fernsehkapitel deckt erwartungsgemäß TV-Serien und -Shows ab, endet aber leider mit MTV und „Die Privaten kommen“ – wenngleich letztere seit 1984 sendeten und zumindest das Fernsehen der zweiten Hälfte des Jahrzehnts maßgeblich mitprägten. Obwohl das Kapitel mit einem doppelseitigen Foto aus „Alles nichts, oder?!“ eröffnet, erfährt man darüber leider nichts. Das Kapitel „Design“ knüpft auf sehr interessante Weise quasi direkt ans Style-Kapitel an, sodass mir nicht klar ist, weshalb man diese nicht zusammenfasste (zumal unter „Style“ ein Abschnitt mit „Design“ überschrieben ist). Verschiedene Stilrichtungen vom Haushaltsgegenstand bis zur Architektur werden beim Namen genannt, was über übliche ‘80er-Retrospektiven angenehm hinausgeht. Das Modekapitel hingegen liefert den einen oder anderen guten Ansatz, bietet aber leider hauptsächlich wenig repräsentative, gestellte Fotos aus extravaganten Katalogen oder von weltfremden Designern.

Im Sportartikel versucht Caspers, möglichst viele relevante Sportarten abzudecken, nimmt dabei aber wieder eine fast ausschließlich deutsche Perspektive ein und verzichtet zu meinem persönlichen Bedauern auf die Herren-Fußball-EM 1988, obwohl diese in Deutschland stattfand. Berücksichtigt werden dafür die Weltmeisterschaften 1982 (Spanien) und 1986 (Mexico) sowie viel Olympia und Tennis. Abschließend stellt das Filmkapitel nach einigen bedeutsamen deutschen Werken das Jahrzehnt prägende internationale Produktionen vor, spart aber auch extrem viel aus, allem voran die Horrorsparte. Und nicht einmal Schwarzenegger wird mit einer Silbe erwähnt.

Diese Oberflächlich- und Unvollständigkeit ist symptomatisch für das ganze Buch, das es dennoch versteht, gezielt einzelne Schlaglichter zu setzen und Ereignisse, Phänomene, Produkte oder Menschen exemplarisch herauszustellen. Caspers führt nicht aus, er skizziert. Größtes Pfund des Buchs sind seine tollen Fotos, die man noch nicht unbedingt von woanders her kennt. Zudem verfügt Caspers über einen recht elaborierten Sprachstil, jedoch auch über eine mitunter etwas eigenwillige Zeichensetzung (beispielsweise fehlt öfter das Komma hinter Einschüben). Seine im Buch hervortretende Affinität zu Style und Design erklärt sich aus seinen Tätigkeiten über die Schriftstellerei hinaus: Er ist Professor für Gestaltung und Medien und Dozent für Designtheorie.

Als Grundlage ist „Die 80er – Alles so schön bunt hier!“ gut geeignet, um von hier aus tiefer in die jeweilige Thematik (oder auch ganz allgemein ins faszinierende Jahrzehnt) einzusteigen. Oder man begnügt sich damit, die Fotos zu betrachten, denn die Bilderwahl ist, wie erwähnt, überwiegend sehr gelungen. Im Hinterkopf sollte man dabei jedoch stets die bundesdeutsch geprägte Perspektive und den großen Mut zur Lücke dieses Werks behalten.

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