Günnis Reviews

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Christian Blees – Der absolute HORROR: Die Geschichte der Gruselcomics in Deutschland

In der Edition-Alfons-Reihe „Texte zur graphischen Literatur“ erschien im Jahre 2024 dieses rund 240-seitige Taschenbuch des Comic-Experten Christian Blees, der Licht ins Dunkel deutscher Grusel- und Horror-Comicpublikationen zu bringen antritt – und damit auch als Ergänzung zu Alexander Brauns zwei Jahre zuvor erschienenen „Horror im Comic“-Kompendium verstanden werden kann, das sich dem internationalen Raum widmete (und ich noch nicht gelesen habe, daher keine weiteren Vergleiche). Das Buch ist in zehn Kapitel gegliedert, die von einem Vorwort sowie je einem Inhalts-, Literatur-, Stichwort- und Abbildungsverzeichnis flankiert werden.

Klar, die „Gespenster Geschichten“ aus dem Bastei-Verlag kennt jeder, aber was gab und gibt es sonst noch alles und womit fing’s eigentlich an? Blees steigt in sein Thema mit Vorläufern wie Leihbüchern und Verkaufsromanen ein, die allesamt noch erfolglos gewesen seien, mindestens einer sei gar direkt indiziert worden. Früheste deutsche Gruselcomics waren dann „Geisterschiff“-Adaptionen und einzelne Ausgaben der „Illustrierten Klassiker“. In der zweiten Hälfte der 1960er-Jahre erschien eine erste kurzlebige, „Boris Karloff“ betitelte Heftreihe in US-Lizenz beim Bildschriftenverlag. Von den verspätet in den deutschen Kinos angekommenen Horrorfilmen der „Hammer Productions“ über erste Heft-, auch „Groschen“-Romane genannte Belletristik mit Gruselinhalten und Horror-Taschenbuchreihen bis zu ersten in den Geschichtenheften stattfindenden Horrorcomics, von einer ersten, ebenfalls kurzlebigen „Light-Horror“-Comicheftreihe über in Italien lizenzierten Erotikhorror für Erwachsene im Freibeuter-Verlag bis zu den ebendort erschienenen „Tomba“- und „Horror Comic“-Büchern, die jeweils von 1972 bis 1974 publiziert wurden, spannt Bees den Bogen bis zu jenem Zeitpunkt, als der Horrorcomic endlich in Deutschland Fuß zu fassen schien und mit dem bisher meine deutsche Horrorcomic-Zeitrechnung begonnen hatte: dem Erscheinen der schlicht „Horror“ betitelten Heftreihe bei BSV Williams.

Dort wurden von 1972 bis 1984 in 148 Heften Grusel- und Fantasycomics aus dem US-amerikanischen DC-Verlag veröffentlicht, die bereits unter Einfluss des US-Zensurcodes standen, aber auch Marvels Frankenstein- und Dracula-Reihe – jeweils angereichert mit Kurzgeschichten Marvels – und eine Art „Best of EC“ als Sonderband. Blees stellt die interessante These auf, dass die erfolgreichen Riesenmonster aus dem Kino auf den Zensurcode hin für die Comics adaptiert und abgewandelt, in den frühen 1960ern aufgrund sich wandelnden Leserinteresses aber durch Superheldencomics abgelöst worden seien. Keine Ahnung, ob das stimmt, aber dies einmal zu analysieren wäre sicherlich interessant. Ab den 1980ern bekamen Horrorcomics starke Konkurrenz durch die Videofilmindustrie, hier belegt durch ein Zitat aus einem panischen „Spiegel“-Artikel.

Auf die bei Pabel erschienene „Vampirella“ geht Blees detailliert inklusive aller Zusammenhänge ein und zeichnet die Entstehung der US-Magazine „Creepy“ und „Eerie“ nach. Deutschland zensierte und verbot „Vampirella“ schließlich, aber Pabel kehrte kurzerhand ohne Vampirella mit der Heftreihe „Vampir-Comic“ zurück. Diese wurde 1975 bereits wieder eingestellt, weil Pabel generell keine Comics mehr verlegen, sondern sich auf seine Groschenromane konzentrieren wollte. 1981 erlebte „Vampirella“ eine Renaissance im seit jeher aufmüpfigen Volksverlag, Ende der 1990er einen Reboot bei Splitter und von 2000 bis 2004 eine Fortsetzung bei mg publishing.

Der Bastei-Verlag hingegen überflutete das Land ab 1973 mit einer Unmenge an Gruselgroschenromanen, und ein Jahr später folgten die legendären „Gespenster Geschichten“ und Konsorten. Zu letzteren gehörte „Axel F.“, eine anspruchsvollere, sich qualitativ absetzende Reihe, die aufgrund der Ignoranz des dafür zu alt gewordenen Herrn Lübbe persönlich ein trauriges Ende nahm.

Spannend auch die Gründung des Condor-Verlags, in dem 1981 neun Ausgaben des „Gänsehaut“- und von ‘81 bis ‘82 des „Grusel-Comics“-Hefts erschienen, die sich auch heute noch lohnen dürften, weil laut Blees viel älterer US-Stoff enthalten sei. Beide Heftreihen waren nur kurzlebig; im weiteren Verlauf der Dekade spielte Horror auch keine große Rolle mehr für Condor (zwei „Dracula & Co.“-Taschenbücher erschienen noch), bis man gegen Ende der ‘80er mit den großformatigen Heften „Horror“ und „Geisterhaus“ noch einmal angriff und auch ein paar wenige Taschenbücher dieser Titel veröffentlichte. Das verglichen mit der klassischen Comicheft-Größe übergroße Format lag damals im Trend, war von Condor aber bereits Anfang der ‘80er für „Grusel-Comics“ verwendet worden. Jedoch war auch „Horror“ und „Geisterhaus“ nur eine kurze Existenz vergönnt.

Darüber hinaus widmet sich Blees britischen Comics in Deutschland, beginnend mit dem Carlsen-Verlag und dem „Swamp Thing“, dessen Hintergründe ebenfalls genauestens aufgedröselt werden. In den 1980ern wehrte sich das „Swamp Thing“-Team erfolgreich gegen den Zensurcode – endlich! Ab Ende der 1990er mischte Carlsen mit einer Art TV-Comics, darunter „Buffy“, plötzlich auch auf dem Heftmarkt mit, woraufhin ein Abriss zur Geschichte der TV-Comics in den USA folgt. (Es geht in diesem Buch also mitnichten nur um Deutschland, der Titel ist tiefgestapelt.) Auf „Buffy“ folgte Anfang der 2000er-Jahre „Dylan Dog“ bei Carlsen, der dann bei Schwarzer Klecks fortgesetzt wurde und später bei Libellus farbige Neuauflagen erhielt. Auch hierzu führt Blees alles an, was man wissen muss. An Dylan Dog zeigt sich deutlich: Was im Ausland (hier: Italien) ein riesiger Erfolg ist, kann hierzulande auf Sparflamme köcheln oder gar floppen. Mir nicht bewusst gewesen ist es, dass sich mehrere Hefte umfassende Sammelbände erst in den 1980ern in den USA etablierten, in den ‘90ern daraufhin auch hier – und sich als regelrechte Verkaufsschlager entpuppten. Auf Seite 137 beschreibt Blees auch wissenswerte Veränderungen auf Verlags- und Rechteebene, die Zeichnerinnen und Zeichner nicht mehr als reine Angestellte an Verlage banden, die ihnen weitestgehend die Rechte an ihrer Kunst abknöpften. Zwei Seiten weiter erhält man sogar aufschlussreiche Einblicke in die Bezahlung.

Der 2001 gegründete Cross-Cult-Verlag übernahm „Hellboy“ und wurde ab 2006 mit „The Walking Dead“ noch erfolgreicher. Von hier aus unternimmt Blees einen Abstecher zum deutschen „Spawn“-Verleger Infinity. 2007 gründete sich Panini-Comics, wo unter anderem die „Marvel-Zombies“ erschienen. Es folgte die Gründung des neuen Splitter-Verlags mit diversen Hardcover-Horrorcomic-Ausgaben. „From Hell“ erschien bei Cross Cult, „Die Legende von Malemort“ bei Splitter, „Locke & Key“ bei Panini; mit „D“ und „American Vampire“ hielten Vampire bei Splitter und Panini Einzug und, und, und – Blees notiert genau, was bei den jeweiligen Verlagen so alles innerhalb des Genres erschien.

Kapitel 9 über Horror-Mangas beginnt mit einer Erläuterung der konzeptionellen Unterschiede zwischen Comic und Manga sowie der Geschichte der Mangas in Deutschland, der hierzulande mittlerweile erfolgreichsten Comicgattung. Im letzten Kapitel behandelt Blees das Revival der Comichefte sowie aktuelle Publikationen und ilovecomics-Nachdrucke. Um einmal zu veranschaulichen, wie Blees ins Detail geht: ilovecomics druckte 2019 und 2020 die einzigen beiden „Monster“-Hefte nach, die im Jahre 1953 in den USA erschienen waren. Bei dieser Information belässt Blees es nicht, sondern handelt die Geschichte des US-Verlags ab und zeichnet ausführlich die Lebensläufe der beteiligten Zeichner und Texter nach. So sehr er aber aufs Drumherum eingeht, so wenig erfahren wir über den Inhalt – ein kleiner Kritikpunkt. Blees schließt sein Buch mit sehr zuversichtlichen Worten, was den Horrorcomic in Deutschland betrifft.

Apropos Kritik: Der einzige mir aufgefallene Fehler ist ein Setzpatzer auf den Seiten 179 und 180. Dafür scheint mir das Literaturverzeichnis nicht ganz vollständig zu sein. Auf Seite 214 hätte ich gern etwas von Esteban Maroto gesehen, um den es dort geht, statt von Miguel Gómez Esteban – das ist etwas verwirrend. Grundsätzlich ist es aber sehr zu begrüßen, dass Blees mit vielen farbigen Bildern (Titel- und Comicseiten, Panels) arbeitet, sodass sein Buch weit von einer Bleiwüste entfernt ist. Zum Thema Zensur hätte ich mir ein separates Kapitel gewünscht, vielleicht gar inklusive Liste, und ein themenübergreifendes Interview mit einem Horrorcomic-Experten hätte ebenfalls einen Mehrwert darstellen können.

Andererseits ist Blees dieser Experte selbst. Er schuf ein Buch mit wissenschaftlicher Akkuratesse, das zahlreiche erschöpfende Hintergrundinformationen, ja, regelrechte Kurzporträts der Zeichner bietet, deren Originalzitate einflicht und mit Auszügen damaliger Kritiken arbeitet. Blees erwähnt auch gern, was zeitgenössisch jeweils parallel auf dem Horrorfilm- und Buchmarkt angesagt war, und liefert so Kontext und Zeitkolorit. Er sprach mit einigen Persönlichkeiten, unter anderem mit Condor-Gründer Biehler. Das ist hochinteressant und spannend, nicht zuletzt, weil man so nebenbei allgemein etwas über die Geschichte der Comics, nicht nur in Deutschland, erfährt. Blees‘ Querverweise, was wann wo in deutschen Veröffentlichungen publiziert wurde, ist ebenfalls bestes Comichistoriker- und Nerdfutter. „Der absolute HORROR: Die Geschichte der Gruselcomics in Deutschland“ liefert ein Geschichtsseminar der neunten Kunst, Hintergrundinformationen, belegte Zitate der Verantwortlichen und nicht zuletzt Kaufempfehlungen en masse. Ich habe mir einige Titel notiert und freue mich auf deren Lektüre.

Seltsam? Aber so steht es geschrieben …

Cinema-Sonderband Nr. 11: Erotik im Kino ’86

1983, 1984 und 1985 hieß es im Cinema-Verlag noch „Sex im Kino“, wobei 1985 erstmals der Hardcore-Bereich ausgespart worden war. Die nur noch 100-seitige Vorschau aufs Jahr 1986 im gewohnten Softcover, aber auf jetzt mattem Papier verspricht statt Sex nun Erotik im Kino, spart reine Pornos ebenfalls aus und geht ohne jedes Vorwort oder Editorial nach einem Inhaltsverzeichnis direkt zum ersten Film über. Bei den meisten Texten handelt es sich bis auf wenige Ausnahmen lediglich um Kurzvorstellungen, wobei gerne mal heftig gespoilert wird. Die Seiten werden aber ohnehin von den häufig großformatigen Filmfotos dominiert, die meist nackte Tatsachen zeigen und für viele den eigentlichen Kaufgrund dargestellt haben dürften – wenngleich sie mittlerweile in Teilen nur noch schwarzweiß abgedruckt wurden. Die meisten Filme müssen mit einer Seite auskommen; Michael Verhoevens „Killing Cars“ z.B. bekam hingegen gleich fünf Seiten spendiert, die vor allem das dänische Busenwunder Marina Larsen zeigen.

Der Vorschaucharakter wird vor allem dadurch deutlich, dass für viele Filme der deutsche Titel offenbar noch gar nicht feststand, weshalb sie unter ihren Originaltiteln enthalten sind: „Liebe und Gewalt“ mit Sophie Marceau, „Teufel im Leib“, „Der Käfig“, die französische Comicverfilmung „Entfesselte Lust“, „Beach Parties“ findet sich als „Where The Boys Are“. Der bereits 1983 veröffentlichte, jedoch erst 1987 in deutsche Kinos gekommene „Die Orgien der Cleopatra“ ist ebenso unter Originaltitel gelistet wie „Honeymoon“ (als „Lune de miel“). „Früchtchen mit Sahne“ aus dem Jahre 1977 ist wahrscheinlich der älteste der aufgeführten Filme, er findet sich unter dem Titel „Violette und François“.

Nie nach Deutschland geschafft haben es die dennoch im Buch enthaltenen französischen Comicverfilmungen „L’amour propre“ und „Gros dégueulasse“, das venezolanische Drama „La casa de agua“, der Film „La nuit porte jarretelles“ und der bereits 1982 erschienene „Plus beau que moi tu meurs“ (weshalb also überhaupt in diesem Buch aufgeführt?). Auch von „Salomé“ mit Tomas Milian ist mir kein deutscher Kino- oder Videostart bekannt.

Augenscheinlich hatte man damals Probleme, die 100 Seiten überhaupt vollzukriegen. Bereits unter den genannten Titeln befinden sich Filme, die nicht unbedingt explizit dem Erotikbereich zuzurechnen sind. Die damals noch junge „Meuterei auf der Bounty“-Verfilmung „Die Bounty“ ist wohl ausschließlich wegen ihrer Oben-ohne-Szenen enthalten, über Lina Wertmüllers „Camorra“ lässt sich ebenso streiten wie über „Der Panther“ mit Alain Delon. „Das Attentat“ ist als „Urgence“ drin und doch wohl nun auch kein Erotikfilm, ebenso wenig „Die Spur der Zeit“, der sich hier als „La trace“ findet. „Desiderio“ ist fälschlicherweise als „Desidero“ enthalten und kam nie nach Deutschland, scheint zudem auch nichts mit Erotik zu tun zu haben. Ähnliches dürfte für FSK-12-Filme wie beispielsweise die Komödie „Summer Rental“ gelten.

Überwiegend handelt es sich um europäische Filme, vor allem französische. Japan ist mit „Irezumi“ vertreten, Australien mit „Der Mann, der die Blumen liebte“, Jugoslawien mit „Papa ist auf Dienstreise“. Recht populäre Titel sind, neben bereits genannten, „9 ½ Wochen“, „Schuld daran ist Rio“, „Zeit der Wölfe“, „Lifeforce“ oder auch „Der Zwilling“ – und kaum einer von ihnen ist vorrangig dem Erotikbereich zuzuordnen.

Daraus lassen sich – bei aller Kritik an diesem Buch – damalige Trends ablesen, die im Prinzip aber für den Großteil der 1980er galten und kein spezielles Phänomen des Kinojahrs 1986 waren. Und nichtdestotrotz stößt man auf den einen oder anderen interessanten Film, der sich unabhängig von seinem etwaigen Erotikgehalt evtl. anzuschauen lohnt. So habe ich mir u.a. „Dance With a Stranger“ notiert.

M. Choquet / Y. Coulon / J. Erbin / J. Bastide / P. Fenech – Idefix und die Unbeugsamen, Band 1: Römer müssen draußen bleiben

Kleiner Hund ganz groß

Das ursprünglich vom „Asterix“-Duo René Goscinny und Albert Uderzo ersonnene Hündchen, das man als treuen Begleiter Obelix‘ kennt, erhielt im Jahre 2021 eine eigene Animationsserie im TV, deren Episoden man im Jahr darauf für diese Spin-off-Reihe in Comicform zu adaptieren begann, anscheinend zunächst im Taschenbuchformat. Diese Neuauflage des ersten, drei Geschichten umfassenden Bands ist 2024 als 52-seitiges Softcover-Album im Egmont-Ehapa-Verlag erschienen.

Die Geschichten drehen sich nicht nur um Idefix, sondern um ein ganzes Ensemble, das zu Beginn wie in den „Asterix“-Comics vorgestellt wird. Neben Idefix zählen Turbine, die schnellste Hündin Lutetias, Dertutnix (genial!), der Muskelprotz von einer Bulldogge, Sardine, die streunende Katze, Weißnix, der Uhu, und Astmatix, der alte Täuberich und Kriegsveteran dazu. Die Geschichten spielen nicht im berühmten gallischen Dorf, sondern im Jahre 52 v. Chr. im von Römern besetzten Lutetia, also dem antiken Paris.

„Lawines Bällchen“ handelt von einem besonderen, antiken Ball, der dummerweise bei der Römerkatze Monalisa landet und durch seine Sprungeigenschaften manche Kettenreaktion auslöst. Auffallend ist, dass sowohl in Idefix‘ Clique als auch bei den römischen Hunden – und ihrem Herrchen natürlich – die eigentliche Chefin jeweils eine Katze ist. „Die Hicks-Epidemie“ enthält eine popkulturelle Anspielung auf Klaus Lages Evergreen „1000 und 1 Nacht (Zoom!)“, bei aller Feindschaft Hinweise auf die Fortschrittlichkeit der Römer und etwas albernen Slapstick-Humor, wenn auch mit lehrreicher Aussage. Gegen die Schluckauf-Epidemie suchen sow0hl die Römer als auch städtische Gallier den Druiden im Wald. Weitere bekannte Figuren aus dem gallischen Dorf finden am Rande statt. In „Ein Lied für Labienus“ haben es die Römer auf den aufmüpfigen, Protestlieder singenden Barden Grautvornix abgesehen, den die Unbeugsamen befreien müssen – mein Favorit dieses Bands.

In allen drei Geschichten kriegen die Römer ihr Fett weg, wobei der Humor kindlicher als der der „Asterix“-Mutterreihe ist und sich offenbar an eine jüngere Zielgruppe richtet. Insofern dürstet es mich jetzt auch nicht unbedingt nach der Fortsetzung, wenngleich die sich mühelos auf die Gegenwart oder jüngere Geschichte übertragen lassenden Versatzstücke der Geschichten durchaus Spaß machen. Bastide und Fenech beherrschen den grundsätzlich von Uderzo vorgegebenen französischen Funny-Stil perfekt und die drei- bis vierzeilige Panelstruktur bleibt stets übersichtlich und klar, aber variabel bei der Panelgröße. Die hübsch bunte Koloration und das sich an klassischen Comic-Handschriften orientierende, saubere Lettering entsprechen aktuellen Ansprüchen.

Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik – „Keine Gewalt!“ Stasi am Ende – die Demonstrationen im Herbst ‘89

Ein letztes Mal er hier: „Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“, kurz: BStU, von 2011 bis zum Schluss in Person: Roland Jahn, hat zahlreiche Publikationen zum Thema Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR herausgegeben – einige entgeltlich, andere gratis. Mit drei der Gratispublikationen habe ich mich hier bereits auseinandergesetzt. Die vierte und letzte, die auf mein Interesse stieß, war dieser 134-seitige, großformatige Softcover-Band, der ursprünglich im Jahre 2014 erschien. Mir liegt die zweite, veränderte Auflage vor, die ein Jahr später herausgegeben wurde. Wie die anderen Bände auch, besteht sie vornehmlich aus MfS-Aktenauszügen auf Hochglanzpapier.

Strukturiert werden die Akteneinsichten in die chronologisch aufeinander aufbauenden Bereiche „Volksfest ,40 Jahre DDR‘“, „,Oppositionelle Sammlungsbewegungen‘“, „Demonstrationen überall“ und „Der 4. November 1989“. Zwar heißt es gleich auf der ersten Inhaltsseite, dass man die gesammelten Auszüge weder deute noch interpretiere, was jedoch nicht bedeutet, dass man in einem allgemeinen sowie vier Kapitelspezifischen Vorworten keine historischen Einordnungen vornehmen würde. Diese wird natürlich aus Sicht des konkurrierenden, wenn man so will als Gewinner hervorgegangen Systems vorgenommen. Das kapitelübergreifende dreiseitige Vorwort ist noch recht fair geschrieben, in der Einführung zum ersten Abschnitt „Volksfest ,40 Jahre DDR‘“ wird Egon Krenz‘ deeskalierendes Einwirken auf die Sicherheitsorgane bezüglich der Demonstration am 9. Oktober jedoch mit keiner Silbe gewürdigt.

Die Aktenauszüge dokumentieren den Umgang des MfS mit den Demonstrationen und dem immer selbstbewusster von immer größeren Teilen der Bevölkerung geäußerten Unmut auf anschauliche wie in großen Teilen entlarvende Weise. Laut dem auf S. 23 abgedruckten Bericht sollen die Westmedien schuld gewesen sein, womit man jegliche Eigenverantwortung von sich wies. Eine Seite weiter ist besonders interessant, was so alles als „Hetzlosungen“ verstanden wurde: „Wir bleiben hier“, „Freiheit und Demokratie jetzt“…? Die Bewertungen der Ereignisse durch das MfS in Form interner Schreiben suggerieren, ein reformierter, humaner Sozialismus – und um nichts anderes ging es anfänglich – sei ein fürchterliches Sakrileg. Aus dem MfS zugespielten (und somit aktenkundig gewordenen) Erlebnisberichten und Gedächtnisprotokollen geht zudem hervor, was für – ich kann es nicht anders formulieren – Bullenschweine auch die DDR herangezüchtet hatte, die zu Brutalität und an Folter grenzende Maßnahmen griffen. Ab dem 9. Oktober hielt man sich zum Glück zurück.

Ebenfalls abgedruckt sind Resolutionen der Demonstrierenden im Originalwortlaut sowie Demoaufrufe. Als authentische Quelle lesenswert ist auch das Stasi-Protokoll über eine Diskussionsveranstaltung der Berliner Theaterschaffenden vom 15. Oktober, die sich ebenfalls klar zum Sozialismus bekannten. Gregor Gysi bot sich als Demoanmelder und als Strafverteidiger gegen die Polizei an und verurteilte deren Brutalität. Weitere Schriftstücke dokumentieren den Umgang mit der oppositionellen Sammelbewegung Neues Forum und die perfiden Versuche der „Durchdringung“ derselben. Anhand des Abschnitts „Demonstrationen überall“ lässt sich dann nachvollziehen, dass eine Massenbewegung daraus wurde, die Krenz und der SED misstraute. Altbekannte Stasitöne wechseln sich nun mit moderateren ab und die Partei kam mit den Bürgerinnen und Bürgern endlich wieder ins Gespräch. Die Großdemo-/Kundgebung vom 4. November ist hier ebenso ausführlich dokumentiert wie Krenz‘ erneuter Befehl zur Friedlichkeit der Sicherheitsorgane vom 1. November, sodass sich ein realistisches Bild ergibt.

Das sich auf lediglich eine Buchseite beschränkende Nachwort ist dann leider arg verknappt, erwähnt mit keinem Wort die unrühmliche Rolle der CDU im Wahlkampf mit ihren leeren Versprechungen oder wie aus der Revolution zumindest in Teilen eine reaktionäre Konterrevolution geworden war. Nichtsdestotrotz ist es interessant, die damaligen Ereignisse über authentische Dokumente aus MfS-Sicht nachzuvollziehen. Die handschriftlichen Berichte sind schwer zu lesen, gegenüber den mit Schreibmaschine verfassten aber deutlich in der Minderheit. Diverse Fotos der damaligen Ereignisse lockern die „Akteneinsicht“ etwas auf. Eine solche bietet auch interessante Einblicke, wie Geheimdienste allgemein so arbeiten – was nicht immer sonderlich vertrauenserweckend ist.

P.S.: Der unbedruckte Buchrücken nervt auch hier und erschwert das Wiederfinden im Regal.

René Goscinny / Albert Uderzo – Asterix, Band 32: Asterix plaudert aus der Schule

Dieser ursprünglich im Jahre 2003 erschienene Sonderband der französischen Comic-Reihe um die aufmüpfigen Gallier zu Zeiten des Römischen Reichs wurde erst nachträglich mit der Nummer 32 versehen und somit zwischen die regulären Bände eingereiht. Ich bekam die dritte und erweiterte Neuauflage geschenkt, die eine weitere Kurzgeschichte enthält. Denn darum geht es hier: Die neben den albenfüllenden Abenteuern entstandenen Kurzgeschichten zu kompilieren und kommentiert dem Asterix-Publikum näherzubringen. Statt der üblichen rund 50 Seiten umfasst dieses Softcover-Album über 60, wodurch die comicfreien Einleitungen nicht so stark ins Gewicht fallen.

In einem Onepager begrüßt Majestix die Leserschaft in einer Art Pressekonferenz; die erste reguläre Geschichte ist „Der gallische Schulanfang“ vom 6. Oktober 1966, in der Asterix und Obelix über zwei Seiten renitente gallische Kinder einfangen und in die Schule schleifen müssen – wo Obelix aufgrund seines mangelndes Allgemeinwissens am Ende ebenfalls landet. „Die Geburt von Asterix“ wurde im Oktober 1994 anlässlich des 35-jährigen Asterix-Jubiläums erstveröffentlicht und lüftet auf vier Seiten das Geheimnis um die Geburt der beiden berühmtesten Gallier. 1977 versuchte man, auf dem US-Markt Fuß zu fassen, wofür, um die Yankees mit den Gallien vertraut zu machen, ein Dreiseiter für den „National Geographic“ entwickelt wurde, der sogar in Frankreich lange unbekannt war. Im Schnelldurchlauf macht „Im Jahre 50 v. Chr.“ mit dem Dorf und seinen Bewohnern vertraut, ein Musterbeispiel für Kompaktheit.

Bisher gänzlich unveröffentlicht war die fünf Seiten umfassende Geschichte „Kokolorix, der gallische Hahn“, die ganz dem Hahn im Dorf gewidmet sind. Dieser muss sich und seine Hühner gegen das römische Wappentier, einen Adler, verteidigen, und bekommt dabei Hilfe von Idefix. Ein Kleinod, in dem Asterix und Obelix nur am Rande stattfinden und das die Kraft solidarischer Zusammenarbeit herausstellt. Die zwei Seiten „Neujahr unterm Mistelzweig“ vom 7. Dezember 1967 waren ein kleines Weihnachtsspezial, das Obelix‘ heimliche Liebe zu Falbala humorig aufgreift. „Mini, Midi, Maxi“ erschien am 2. August 1971 in der französischen Frauenzeitschrift „Elle“ und karikiert das Geschlechterverhältnis, indem die Geschichte auf nur zwei Seiten einen Streit zwischen zwei Frauen zu einer Massenkeilerei der männlichen Dorfbewohner eskalieren lässt.

Einer der Höhepunkte ist „Asterix, wie Sie ihn noch nie gesehen haben…“ vom 11. Dezember 1969, in der Goscinny und Uderzo drei Seiten lang verschiedenste Kritik an ihren Asterix-Comics persiflierend aufgreifen, u.a. indem Zeichner Uderzo den Stil unterschiedlichster Zeichnerkollegen imitiert. Köstlich! Auf den 25. Oktober 1986 datiert der vierseite Comic „Olympiade in Lutetia“, der Teil der (letztlich erfolglosen) Pariser Bewerbung um die Olympischen Spiele 1992 war und in der Lutetia sich gegen Rom durchsetzen muss. Die Geschichte verbindet augenzwinkernd die Antike mit dem modernen Paris.

Auf zwei Seiten bringt es „Der gallische Frühling“ vom 17. März 1966: Der personifizierte Frühling muss sich gegen den nicht kampflos abtreten wollenden Winter durchsetzen, was nach zwei Seiten auch gelungen sein wird. „Das Maskottchen“ aus dem Juni 1968 wurde ursprünglich für ein Informationsblatt einer Stadtverwaltung entwickelt und komprimiert, wenn ich das richtig verstanden habe, die Ereignisse aus „Asterix der Gallier“, um sie mit der Einführung des Hündchens Idefix auf nur vier Seiten zu verweben. „Latinomanie“ ist ein auf eine Seite passender spaßiger Kommentar zum Bohei um in die Sprache Einzug haltende Anglizismen, umgemünzt aufs antike Gallien, das immer mehr lateinische Ausdrücke verwendet – ohne dass dies den Bewohnern zwingend bewusst wäre. Etwas Besonderes ist auch „Obelisc’h“ aus dem Februar 1973, eine fünfseitige Geschichte, in die Goscinny und Uderzo sich selbst als Protagonisten hineinzeichneten und sich auf einen Nachkommen Obelix‘ in der Gegenwart treffen lassen. Beide treten auch in „Die Geburt einer Idee“ auf, eine einzelne, aber umso witzigere Seite, die in ihrer Verballhornung des inhaltlichen Gehalts von Comics (bzw. der Außensicht wenig comicaffiner Menschen darauf) exakt so auch aus „Mad“ stammen könnte und vielleicht mein humoristischer Höhepunkt des Albums ist.

„ABC-Schütze Obelix“ aus dem Mai 2004 schlägt gewissermaßen eine Brücke zur ersten Geschichte: Obelix will Lesen lernen, weil Falbala ihm geschrieben hat. Das sind ebenso amüsante wie pädagogische drei Seiten, die vermitteln, weshalb es von Bedeutung ist, lesen zu können.

Dieser Asterix-Band, ob nun als Sonderband oder als Nummer 32 betrachtet, bietet die übliche aufgeräumte Panelstruktur und tolle bunte Kolorierung des gewohnt großartigen frankobelgischen Funny-Stils, die schöne, an Handletterungen angelehnte Schriftart in den Comics und die Einleitungen im Schulheft-Design. Eine liebevoll editierte Erweiterung der Sammlung oder auch eine willkommene Abwechslung zu den sonst üblichen albumfüllenden Geschichten, die zudem viel Hintergrundwissen transportiert und einen Eindruck von der Bedeutung Asterix‘ innerhalb der französischen Populärkultur vermittelt.

Kevin Richard Russell – Circvs Maximvs

Da saßt du also, „Stimme aus der Gosse“, Sänger der vermutlich erfolgreichsten deutschsprachigen Rockband, Identifikationsfigur, Seelentröster und Vorbild für so viele, Beweis dafür, dass man’s auch nach oben schaffen kann, wenn man von ganz unten kommt, Mutmacher, dazu Zeichen- und Tattoo-Künstler. Da saßt du also, ehemaliger Schläger, polytoxikomaner Hardcore-Junkie und Alki, wegen dem sich jene Band einst auflöste, der du die Verantwortung für sein eigenes Lebens einst komplett aufgegeben und sogar beinahe zwei andere Menschen das Leben gekostet hattest, als du knüppelvoll mit Drogen als rasende Apotheke einen Unfall auf der Autobahn verursachtest, du, Ex-Knacki und Ex-Klapskalli. Da saßt du, Kevin Russell, seit etlichen Jahren clean, wie es wohl kaum noch jemand für möglich gehalten hatte, und wieder mit deiner Band aktiv, also, um deine Autobiographie niederzuschreiben. Eine Art Selbsttherapie: von der Seele schreiben, veröffentlichen, abgeben. In Form dieses Buchs aber auch anbieten: Hier, das bin ich, take it or leave it.

Und so saß ich, in der ersten Hälfte der Neunzigerjahre vom Metal kommend in der Pubertät bei den Onkelz und Nirvana gelandet und von dort aus zum Punk weitergetorkelt, da also mit diesem im Oktober 2023 erschienenen Klopper von Buch, 33,5 x 25 x 5 cm groß, fast vier Kilo schwer, rund 500 Seiten stark mit eingewobenem Lesezeichen, Goldkante und Pappschuber im Eigenverlag veröffentlicht. Drunter machst du’s nicht. Zum Nebenherlesen in Bus und Bahn gänzlich ungeeignet, die Klolektüre verbietet sich ohnehin. Für diesen Wälzer muss man sich bewusst Zeit nehmen, zu Hause, im Lesezimmer. Und die nahm ich mir. Praktischerweise ist das Buch in viele einzelne Kapitel unterteilt, die ihm Struktur verleihen und der abschnittsweisen Lesbarkeit entgegenkommen. Der Lesbarkeit zuträglich ist ferner die große Schrift, die die Ausmaße dieses Schinkens etwas relativiert. Zahlreiche zuvor unveröffentlichte Fotos aus deinem Privatarchiv wurden großzügig eingearbeitet, darunter sehr intime. Vielleicht würde ich durch diese Lektüre ja erfahren, wer du, Sohn eines Briten und einer Hamburgerin, den ich nur als Sänger der Böhsen Onkelz (ok, und von Veritas Maximvs) kenne und um den sich die wildesten Gerüchte und Geschichten ranken, wirklich bist. An meinen gewonnenen Eindrücken lasse ich die Leserschaft meines kleinen Blogs gern teilhaben:

Einleitend beschreibt Kevin seine Faszination fürs Römische Reich und vermittelt einen Eindruck seiner Belesenheit zu diesem Thema, das fortan vor allem in Form von Metaphern immer wieder aufblitzen wird. Von diesem seinem Interesse und seinem Faible für antike Bücher wusste ich tatsächlich schon aus irgendeinem alten Interview, woraufhin sich damals in meinem Kopf ein Bild geformt hatte, wie er in seinem Haus in Irland im Sessel vorm Kamin mit so’ner alten Schwarte auf dem Schoß sitzt. Dass sein Leben seit besagtem Interview dann doch etwas anders verlaufen sollte, auch davon wird dieses Buch künden. Später. Zunächst einmal gibt es einen Abriss zu seinen Ahnen; ins Thema Onkelz steigt er direkt mit dem Gig im Vorprogramm der Rolling Stones ein, nach dem beschlossen worden war, die Band aufzulösen. Auch dazu später mehr, denn von nun an geht er, ausgehend von seiner Kindheit, grob chronologisch vor: das erste Telefon in der Familie, wie der kleine Kevin fasziniert die Mondlandung in der neuen Schwarzweiß-Glotze verfolgt, wie er auf dem Bolzplatz fußibufft. Diese Zeilen muten wie ein Zeitporträt an und sind anheimelnd geschrieben – zunächst. Schon bald geht’s ans Eingemachte und man muss kein Psychologe sein, um zu erahnen, wie sehr dies ihn geprägt hat: Von seinen auf die Leserinnen und Leser sadistisch anmuten müssenden Eltern wird er regelmäßig misshandelt, in der Schule ebenso, mit sechs Jahren wäre er wegen einer falsch behandelten Salmonellenvergiftung fast abgenippelt. Dies hat ihn doppelt traumatisiert, psychisch wie physisch. Von da an war er kränklich und hatte entsprechend viele Schulfehlzeiten, in denen er aber seine Lesesucht entwickelte. Ja, die erste Sucht war eine positive. Mit zehn, elf Jahren aber fängt er im Partykeller seiner Eltern zu saufen an. Seine Mutter entwickelt ein Alkoholproblem und beginnt, die Kinder zu vernachlässigen. Bald müssen sich die Kinder um sie kümmern statt umgekehrt.

Als horizonterweiternd erweist sich ein Urlaub in Kenia. Auf weitere traumatische Erlebnisse (es kam aber auch immer dicke…) folgt der Umzug nach Hösbach, wo er Stephan und Pe kennenlernt, mit denen er kurz darauf die Band gründet. Er beschreibt, wie er sich gewalttätig gegenüber seinem größeren Bruder behauptete, ohne jedoch zuvor erwähnt zu haben, dass dieser ihn tyrannisiert hatte – hätte den Kohl wohl auch nicht mehr fettgemacht. Traurigerweise sei Kevins erste wirkliche Liebe auch seine letzte gewesen. Das in einem Song seiner Band besungene Terpentin habe er tatsächlich gesoffen.

„Wenn ich mich heute erinnere, grenzt es schier an ein Wunder nicht schon in dieser frühen Phase meines Lebens ins Irrenhaus eingeliefert worden zu sein, oder ein Bad im Jordan genommen zu haben.“

Auch die Ausbildung zum Schiffsmechaniker war, ähnlich wie während Onkelz-Gitarrist Gonzos Seefahrerzeit (vgl. dessen Biographie), von heftiger körperlicher Gewalt auf See geprägt. Ins Schwärmen gerät Kevin, wenn er an die Natur und die Wunder, die er als Matrose erlebte, zurückdenkt. Sehr anschaulich schildert er die Episode, wie er auf einer Überfahrt in Lebensgefahr geriet und wohl mehr als nur Glück hatte. Interessanterweise schien er in seiner provisorischen, temporären Rolle als Smutje voll aufzugehen. Er wurde dann aber doch lieber Tätowierer, nachdem er sein zeichnerisches Talent wiederentdeckt hatte. Er zieht in die berüchtigte Weberstraße 28 in Frankfurt, wo er sich kräftig Alk und verschiedene Drogen reinpfeift, und schlägt im wahrsten Wortsinn eine Karriere als Straßenschläger ein. Eigene Gewaltexzesse schildert er in aller Drastik, woraufhin er sich bei seinen Opfern entschuldigt. Angesichts seiner Schilderungen völlig entfesselter, ekelhafter Gewaltorgien musste ich schlucken und das Buch erst einmal beiseitelegen.

Einerseits ist es das miese alte Spiel, wie man es von Menschen, die auf die schiefe Bahn gerieten, in Variationen und mal mehr, mal weniger stark ausgeprägt immer wieder zu hören bekommt: Eine elterliche Bezugsperson geht quasi flöten und kehrt das Verhältnis um: Noch als Kind muss er beginnen, sich um seine Mutter zu kümmern. Zu allem Überfluss war der Vater damals ein gewalttätiger Tyrann, was Kevin dann gewissermaßen reproduziert. Andererseits fällt es schwer, nachzuvollziehen, dass er aus den Erfolgen, die er feiert – Durchsetzen auf Frankfurts harten Straßen, bemerkenswerte Band am Start, ausgeprägtes Gesangstalent für diese Musik, talentierter Zeichner, als Matrose die Welt kennengelernt, krasse Sachen er- und überlebt, sein Kochtalent entdeckt, nun gutes Geld mit Tattoos verdienend, mit der Liebsten ’ne tolle Wohnung mit zudem offenbar sehr leidensfähigen Nachbarn bezogen usw. – nicht genug Selbstvertrauen und Selbstachtung zieht, um zum einen etwas demütiger mit den Drogen umzugehen und zum anderen über prolligen Gewaltexzessen irgendwann drüberzustehen, sich nicht mehr ständig beweisen zu müssen, den Adrenalinkick anderweitig zu erhalten. Sicherlich hat es oftmals die Richtigen getroffen, aber eben längst nicht immer. Und er kann von Glück sagen, dass er niemanden unbeabsichtigt, aber gröbst fahrlässig Schlimmstes inkaufnehmend tot- oder zum Pflegefall geschlagen hat. Das war völlig drüber und daran hatte ich als Leser wirklich zu knabbern.

Erfreulicher ist, dass er die richtigen Namen fallenlässt: The Clash, Cockney Rejects, Angelic Upstarts, Cock Sparrer, Dead Kennedys – all diese feinen Bands waren damals regelmäßig auf seinem Plattenteller zu Gast. Er geht auch noch einmal aus persönlicher Sicht auf den Auftritt in der Fernsehsendung „Live im Alabama“ zu ausländerfeindlichen Skinhead-Zeiten ein. Schwer unterhaltsam ist dann auch eine Episode aus seinem Hool-Leben, an deren Ende er auf der Flucht in eine Schwulenbar gerät. Diese Gelegenheit nutzt er zu einer Reflektion zum Durchbrechen der Gewaltspirale: „Alles, was ich zuhause an Schlägen und Züchtigung bekommen hatte, gab ich in der Außenwelt doppelt und dreifach zurück. Erst in meiner eigenen Familie sollte es mir gelingen, diesen circulus vitiosus zu brechen.“ Und wiederum ganz anders lesen sich der Abschnitt über seine Angelleidenschaft und Episoden aus Kenia Ende der 1980er-Jahre, die mit vielen positiven Erinnerungen verknüpft sind. Zurück in der Mitte des Jahrzehnts: Mit Anfang 20 ist Kevin heroinabhängig. Er beschreibt zwei immer wiederkehrende, erschreckende Alpträume, die selbst ihn so richtig fertigmachten. Interessanterweise schienen diese seine Heroinsucht zu manifestieren, nicht erst der tragische, völlig sinnlose Tod seines bestens Freundes Trimmi während der Fußball-WM 1990, wenngleich dieser alles noch viel schlimmer machte. Offen bleibt, weshalb er nie auf die Idee gekommen war, es mit einer Therapie zu versuchen.

„H ist ein Fulltime-Job.“

Durch sein Leben scheinen sich gruseligerweise generell unvermittelte Erfahrungen mit dem Tod zu ziehen, sodass man fast auf die Idee kommen könnte, es handle sich um Omen oder Warnungen. Wie schnell ein Menschenleben vorbei sein kann, wurde ihm jedenfalls anscheinend immer wieder vor Augen geführt. Trimmi ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Größe beweist Kevin, indem er seiner damaligen Partnerin Moni, der er in einer enorm belastenden Phase nicht zur Seite stehen konnte, den Platz einräumt, sich selbst zu äußern, also ihre Perspektive ungefiltert abzubilden. Zur Heroinabhängigkeit gesellt sich nun Jägermeister-Sucht. Aus einem handgeschriebenen Brief an Auge, den Inhaber seines Tätowierstudios, spricht seine ganze Verzweiflung. Diese Phase illustrieren eigene Bleistiftzeichnungen. Was er auf Seite 261 beschreibt, liest sich, als habe er eine Borderline-Störung entwickelt. Gescheiterte Entzugsversuche münden im kalten Entzug 1993 in Stephans Keller. Anschließend ist er zumindest noch substituiert. 1994 erhält er seine Hepatitis-C-Diagnose. Auf eine erfolgreiche Therapie folgt ein H- und Jägi-Rückfall. Er nennt sie „die siamesischen Bräunlinge“. Ein recht rascher weiterer Entzug ist dann aber erfolgreich und hält in Bezug auf die Zwillies auch lange an. Kritisch sehe ich die durchklingende Kokain-Verharmlosung, offenbar war die ganze Band am Ziehen. 1997 kam für Kevin sogar Crack ins Spiel, worauf er dank seiner Substitution zum Glück nicht hängenblieb – und dieses Zeug wird nun auch kein bisschen verherrlicht.

„…meine Existenz diente einzig und allein nur noch der Suchtbefriedigung, bei stetig steigendem Konsum.“

Irgendwann tritt eine neue Frau in sein Leben: Andrea, bulimisch und ebenfalls süchtig. Die Gründe hierfür sind unappetitlich, machen wütend und werden von Kevin nicht verschwiegen. Ende der 1990er zieht er nach Irland um, ist aber wieder auf H. Er berichtet vom „Dunkler Ort“-Videodreh und dem Besuch bei H.R. Giger im Jahre 2000, in dem er auch seinen ersten schweren Verkehrsunfall erleidet. Interessant hierbei auch: Wenngleich als Grund für seinen erneuten Totalabsturz gemeinhin dieser Unfall und die Schmerzmittelabhängigkeit, die er daraufhin entwickelt habe, angenommen wurde, führt er diese gar nicht als alleinige eindeutige Ursache an. Er äußert Kritik an MTV und dem „MTV Masters“-Beitrag über seine Band, die erstaunlich differenziert, gegenüber der Autorin der Sendung gar versöhnlich ausfällt. Nettes Detail: Die von mir geschätzte ehemalige MTV-Moderatorin Nora Tschirner lobt er für ihre Haltung zu ihrem ehemaligen Brötchengeber – die kenne ich gar nicht, weshalb ich gern noch erfahren hätte, was genau gemeint ist.

Als er innerhalb Irlands umzieht, ist er zunächst fit wie ein Turnschuh, doch dann folgt eben der erneute Absturz. Auf S. 318 schließt sich der Kreis zum Beginn: der Stones-Gig. Ich muss ja zugeben, dass ich, hätte ich nur ein Zehntel dessen intus gehabt, was dort durch Kevins Körper schoss, es gar nicht erst auf die Bühne geschafft hätte – er aber zieht den Auftritt immerhin voll durch. Im Folgenden lässt er die Endphase der Band bis zu ihrer damals als unumkehrbar erachteten Auflösung Revue passieren. Nach dem zweitägigen Abschiedsfestival 2005 auf dem Lausitzring dann der totale Absturz, der auf alle bisherigen noch mal einen draufsetzt – minutiös von Kevin beschrieben. Onkelz-Basser Stephan und anschließend Sanitäter und Ärzte retten ihm gerade noch so das Leben. Nach einem Herzstillstand hat er eine Nahtoderfahrung und ist er dem Tod gerade noch so von der Schippe gesprungen. Nach der Reha zieht er ins nächste Fünf-Sterne-Hotel und lebt zeitweise in einem Luxuscamper.

Schließlich die Katastrophe (das Kapitel heißt genauso), der verheerende Autounfall mit anschließender Farce vor Gericht, völliger Zerstörung seines Rufs, Knast- und Therapieaufenthalt. Er beschönigt nichts, sondern rekapituliert sehr offen, schuldbewusst und reumütig. Mich wundert, dass er hinter Gittern keine Substitution erhielt und kalt entziehen musste – das ist krass. Ist das so üblich? Die Therapie scheint er als letzte Chance zu begreifen und steht sie erfolgreich durch. Er zieht im Taubertal in ein neues Zuhause mit seiner neuen Freundin Simone, deren Tochter Emily und seinem Sohn Julian. Er gewinnt den Kampf gegen die Drogen, was wohl kaum noch jemand für möglich gehalten hätte. Mehrmals wiederholt er seine Dankbarkeit gegenüber der Therapie, sogar gegenüber den Knästen. Es zieht ihn wieder auf die Bühne und so gründet er sein Soloprojekt Veritas Maximvs, mit dem er ein Album aufnimmt sowie erfolgreich und offenbar ohne Zwischenfälle auf Tour geht – alles ein paar Nummern kleiner als mit den Onkelz, mit denen es schließlich im Jahre 2014 tatsächlich zur Reunion kommt. 2014 und 2015 gibt er mit ihnen in Sachen Aufwand und Publikumszuspruch Rekordkonzerte. Weitere Stationen des gesundeten Kevin sind das Orchesterprojekt mit den Onkelz und seine Heirat Simones.

„In meinem Drogenkreislauf machten sich endlich wieder Spuren von Blut bemerkbar, ich war kein Chemielabor mehr, sondern Mensch!“

Mit den Onkelz verschlägt es ihn gar für Auftritte nach Südamerika und er nimmt zwei neue Studioalben mit ihnen auf. Er nennt die wichtigsten Konzerte und Festivals nach der Reunion und lässt durchblicken, wie es ihm während der Covid-19-Pandemie erging – so nutzte er die Zeit u.a., um dieses Buchprojekt zu beginnen. „Damit hatte der selbsterkorene ,ALPHA HOMO NOVUS‘ in seinem selbstkreierten Anthropozän-Zeitalter nicht gerechnet. Leider kam dieser Arschtritt, den die Menschen länger verdient hatten, viel zu spät und mit immer noch viel zu wenig Wucht, um ein wirkliches Umdenken in allen Bereichen zu erwirken, die ein Leben auf dieser Erde gerechter und gesünder gestalten könnten.“ (Kevin über Covid-19) Sehr unterhaltsam und lässig liest sich der Bericht vom „Ñero“-Filmdreh mit u.a. Ben Becker. An der Musikindustrie übt er berechtigte Kritik („Als wir seinerzeit dann doch unseren Echo erhielten, hab ich meinen (…) vollgepisst.“), ebenso an Religionen – aus seiner antireligiösen Einstellung macht er keinen Hehl. Er bezeichnet sich als Kosmopolit (womit er quasi im Vorbeigehen auch jeglichem Nationalismus eine Absage erteilt), als umgekehrtes Stehaufmännchen („Fallummännchen“) und, aufgrund einer nötig gewordenen OP, bei dem ihm Teile seines Gehirns entfernt werden mussten, als einzigen hirnamputierten Punkrock-Sänger, äußert sich gegen die Strafbarkeit des Containerns, lobt Oliver Kalkofe für dessen Mediensatire und wirkt generell nicht dumm, sondern reflektiert, interessiert und nicht unsympathisch – trotz allem. Schonungsloser offen als in diesem in sehr blumiger, metapher- und vor allem in den Kapitelüberschriften wortspielreicher Sprache verfassten Buch dürfte es auch kaum gehen, eine Biographie voller Widersprüche: Ein so starker und doch so schwacher Mann, der, seit er endlich mit seinen Schwächen umzugehen gelernt hat, einen zweiten Frühling zu erleben scheint. Wie sehr sich die Zahl 28 durch sein Leben zieht, ist dabei nur eines von vielen kuriosen Details.

Gegen Ende erfährt man einige Hintergründe zum Entstehungsprozess des Buchs: Der Entschluss, seine Biographie zu schreiben, hing eng mit zwei anderen Personen, Thilo und Mumpi, zusammen und wird sehr detailliert und nachempfindbar beschrieben, sodass es sich anfühlt, als sei man selbst dabei gewesen. Es stand zunächst im Raum, sie von Thilo schreiben zu lassen. Dieser entwarf dann auch den Prolog, den Kevin leicht verändert verwendete, sich dann aber dazu entschloss, doch selbst zur Feder zu greifen. Zum Geschriebenen habe Thilo schließlich seinen „Feinstaub“ dazugegeben. Kevin resümiert und bedankt sich gegen Ende ganz Gentleman-like bei seinen Leserinnen und Lesern. Das Buch schließt mit einer sehr sehenswerten Bildstrecke von den nachgeholten Jubiläumskonzerten, offenbar auf der Bühne geschossen.

Genug des Lobs, Raum für Kritik: Dass die Chaostage 1984 wie auf S. 126 beschrieben wirklich von „Althippies“ anberaumt wurden, wage ich zu bezweifeln, ebenso dass die EU Schuld an der Inflation sein soll (S. 138). Oder war das ein missverstandener bzw. missglückter Witz? Die grundsätzlich gute, lebendige Schreibe, der auch Humor und Selbstironie alles andere als fremd sind, weist leider viele Zeichensetzungsfehler auf, falsch geschriebene Wörter aber nur wenige (auf S. 157 ausgerechnet „Stefan“ statt Stephan). Einiges weist auf eine britische Schreibe hin (auseinander- statt zusammengeschriebene Wörter, die Kommasetzung) – evtl. wegen Kevins britischem Hintergrund? Das Presseticket auf S. 246 ist falschherum, der verbreitete Millenniumfehler (das war 2001, nicht 2000!) findet sich auch hier und ab und zu entgleiten ihm seine Fabulierungen (z.B. auf S. 281: „Auflösung der Bindung“ war gemeint, oder?). Vielleicht erweisen sich diese Anmerkungen ja für eine etwaige überarbeitete Neuauflage als hilfreich. Wenn es ein Korrektorat gab: Das waren Amateure, verlang dein Geld zurück. Wenn es keines gab: Am falschen Ende gespart.

Das ändert aber wohlgemerkt nichts an den inhaltlichen Qualitäten, die sicherlich nicht nur mich positiv überrascht haben. Eines der Versatzstücke, die das Faszinosum Böhse Onkelz ausmachen, ist der Umstand, dass Stephan Weidner zahlreiche Texte über Kevins Suchterkrankungen und daraus resultierende Probleme verfasst hat und es an Kevin war, diese zu singen. Unter anderem darin liegt die von Fans vielbeschworene Authentizität, die die Band von so vielen Kopisten unterscheidet. Als guter Zuhörer konnte man Kevin zumindest ein Stück weit kennenlernen. Mit diesem frei von jeglichem Selbstmitleid geschriebenen Buch ist dies nun ohne diese künstlerische Abstraktion möglich. Kevin nimmt seine Leserinnen und Leser mit auf eine Reise in die Hölle und zurück. Möge es sich vor allem für diejenigen als inspirierend, ermutigend und hilfreich erweisen, die schon in den Onkelz-Songtexten Trost, Verständnis, aber auch Arschtritte fanden. Es ist nie zu spät – hier ist der Beweis.

Ralf Heimann / Jörg Homering-Elsner – Zentralfriedhof wie ausgestorben

„Perlen des Lokaljournalismus“ zum Dritten: Die ersten beiden Bände bescherten mir Lachanfälle, also musste auch der dritte her. Dieser wurde im Januar 2019 wie gehabt im Münchner Wilhelm-Heyne-Verlag als querformatiges, rund 200-seitiges Taschenbuch veröffentlicht und umfasst um die 200 neu eingesendeten und von Heimann sowie Homering-Elsner amüsant kommentierten Nachrichten-Schnipsel aus der deutschsprachigen lokalen Online- und Print-Journaille.

Einmal mehr geben sich missverständliche Formulierungen, sinnentstellende Schreibfehler und radebrechende Formulierungen die Klinke mit Text-Bild-Scheren oder fragwürdigen Layout-Entscheidungen in die Hand. Da fordert schon mal eine Politikerin die „Todesstrafe für Selbstmord-Attentäter“, werden „Pollenböller“ gefunden oder bittet die Stadtverwaltung „um mögliche Belästigungen“. Gefühlt diesmal etwas mehr enthalten sind tatsächliche Skurrilitäten, die die Presse schlicht aufgegriffen hat, z.B. der sich vor Blinden zeigende Exhibitionist. Leider abgenommen haben hingegen übersehene Platzhalter. Von besonderer Qualität sind erneut die Kommentare, die die Leserinnen und Leser auf den Humorgehalt der Fundstücke nicht nur stoßen, sondern ihn zuweilen potenzieren.

Auch in der dritten Runde immer noch lustig bis aberwitzig und damit eine perfekte leichte Lektüre für verschiedenste Gelegenheiten – von Bahnkurzstrecke über Strandkorb bis Klo.

HM Photo Book: Heavy Metal in Japan

Es gibt offenbar diverse Fotobücher, die ausschließlich aus Hardrock- und Heavy-Metal-Musiker(innen) und -Bands abbildenden Fotografien bestehen, wofür es vor World Wide Web und dessen asozialen Medien anscheinend einen größeren Markt gab. Als ich neulich an einem freien Tag nach langen Jahren erstmals wieder jenem verwunschenen Ort, in dem ich aufwuchs, einen Besuch abstattete, steuerte ich zielstrebig einen recht großen Gebrauchtwarenhandel an, wie ich es als Perlentaucher und Schnäppchenjäger üblicherweise so mache. Dort fand ich null komma nix, das Büchertauschregal des Supermarkts aber hielt dieses Schätzchen hier für mich bereit, als habe es nur meiner Abholung geharrt.

Auf den (laut Amazon, es hat keine Seitenzahlen und ich habe nicht nachgezählt) 128 Seiten dieses 1983 im Londoner Verlag Omnibus Press erschienenen broschierten Buchs halten sich groß- und mittelformatige Fotos verschiedener Fotografen von Bands wie Black Sabbath, Thin Lizzy, AC/DC, Motörhead, Deep Purple usw. in Farbe und Schwarzweiß in etwa die Waage. Das sind mal Fotos von Liveaufnahmen, mal Backstage-Impressionen oder privat anmutende Schnappschüsse, aber auch gestellte Posen und Porträts. Allen gemein ist die hohe Qualität und dass sie in Japan entstanden sein sollen. Da es sich mitnichten um allseits bekanntes Material, das ständig irgendwo abgedruckt würde, handelt, freue ich mich über diesen Zufallsfund, in dem einem die Michael Schenker Group übrigens beim Baden im Meer die blanken Hintern zeigt.

David E. Gehlke – Systemstörung: Die Geschichte von Noise Records

Das vom US-amerikanischen Metal-Nerd und -Journalisten David E. Gehlke geschriebene Buch „Damn The Machine“ aus dem Jahre 2017 über das legendäre Berliner Metal-Label Noise Records wurde vom Berliner Iron-Pages-Verlag lizenziert, wo es in deutscher Übersetzung durch Rock-Hard-Redakteur Andreas Schiffmann erschien. Das Taschenbuch ist rund 500 Seiten stark und enthält weshalb auch immer ein Vorwort Hansi Kürschs, der mit keiner seiner Bands (u.a. Blind Guardian) jemals auf Noise Records war. Dem Korrektorat ist da ein bisschen was durchgerutscht, was leider auch im weiteren Verlauf immer mal wieder passierte. Übersehene Tippfehler u.ä. ziehen sich durchs Buch und die englischen Anführungsstriche (auf beiden Seiten oben) irritieren. Aber es kommt ja auf den Inhalt an:

Gehlke erklärt Noise zum „Grundstein der weltweiten Metal-Szene“, was mir nicht nur etwas hochgegriffen scheint, sondern – bei allem Respekt vor Noise und den geilen Platten, die dort erschienen – schlicht Quatsch ist. Zunächst ist sein Buch eine Biographie des Label-Inhabers Karl-Ulrich Walterbach. Dieser studierte, wie wir erfahren, in Münster und Dortmund, bevor er nach Berlin zog, schlug eine Karriere als linker Terrorist ein, die jäh gestoppt wurde, landete für eineinhalb Jahre im Knast, war Hausbesetzer und Technik-Hehler. Mit Punk begann sein musikalisches Interesse und erstmals tat er etwas Sinnvolles, indem er gute Pionierarbeit im Konzert- und Labelbereich leistete (nicht minder legendär als manche Noise-Veröffentlichung sind die Punkscheiben auf Walterbachs „Aggressive Rockproduktionen“-Label). Zu diesen zählt die Compilation „Soundtracks zum Untergang“, der Gehlke respektive Schiffmann die Beteiligung einer Band namens „Hate Ahead“ andichten (S. 36). Tatsächlich enthalten sind die Bands „Hass“ und „Aheads“ – ein Fauxpas aus der Übersetzungshölle?

Die Gründung des Hamburger Punk-Labels Weird System datiert Gehlke aufs Jahr 1993, was ebenfalls verkehrt ist: 1982 wär’s gewesen. Nichtsdestotrotz liest sich der Punkteil des Buchs interessant, u.a. wenn es um Walterbachs DDR-Kontakte und die „DDR von unten“-Veröffentlichung geht. Während der Punk-Krise Mitte der 1980er wechselte Walterbach zum aufstrebenden Metal und gründete mit punkiger Attitüde, aber auch einem guten Näschen fürs Geschäft Noise Records. Über Heavy Metal und dessen damalige Akzeptanz sagt er (S. 69):

„Die selbsternannte Elite, diese intellektuellen Musikzensoren… für sie war das unerhört. Metal, so etwas konnte man nicht machen. Was sollte das überhaupt sein? Schrott. Der Lärm der Arbeiterklasse. Nichts, womit sich ein Denker abgeben würde.“

Und (ebd.):

„Die Frage, ob man Geld verdiente oder nicht, wird in der Metal-Szene nicht ideologisiert. Vielmehr heißt man Erfolg gut, wohingegen man sich im Punk kasteien musste. Mit der Zeit ging mir das echt auf die Nerven, die dauernden Rechtfertigungen, dieser unsinnige Vorwurf der Kommerzialisierung. Darum bin ich froh, es mit Metal probiert zu haben. Verdiente man Geld und zeigte es, indem man etwa einen Jaguar fuhr, steigerte das eher noch das Prestige. In der Punk-Szene ist es genau umgekehrt!“

Auf Seite 70 wird suggeriert, in den Jahren 1993 und 1997 seien zwei weitere „Soundtracks zum Untergang“-Compilations bei Walters nie offiziell aufgelöstem Punklabel erschienen. Dazu sei angemerkt, dass es sich beim dritten Teil um eine reinen Hip-Hop-Sampler handelte und Teil 4 nicht bei Aggressive Rockproduktionen, sondern bei Impact Records erschienen war.

Fortan geht es nun aber also vornehmlich um die ersten Noise-Jahre, wofür Walterbachs erste PR-Beauftragte Kunold ebenso zu Wort kommt wie seine Sekretärin Nielsen und die Vertriebswegbeaufsichtigerin Lange, sodass das Buch nicht allzu monoperspektivisch ausfällt. Der Voivod-Song „Ripping Headaches“ befindet sich allerdings auf „Rrröööaaarrr“, nicht auf „Dimension Hatröss“ – das hätte spätestens Schiffmann beim Übersetzen auffallen müssen. Interessante Einblicke bieten die Abrisse zu den US-Labels Metal Blade und Megaforce, mit denen Noise Lizenzen tauschte. Die erste richtige, eigene Labelband wurden Grave Digger. Gehlke schreibt über die ersten beiden Noise-Compilations, darunter „Death Metal“ mit dem ein Jahr später zensierten Cover, und widmet den Schweizern Celtic Frost ein eigenes Kapitel. Ain, Fischer und Priestly kommen zu Wort, wobei unklar bleibt, ob Gehlke die Statements woanders aufgeschnappt oder wirklich fürs Buch mit ihnen geredet hat. So oder so kommen lesenswerte Interna ans Licht und beide Seiten – Band wie Label – zu Wort. Gehlke findet angemessen kritische Worte zu Walterbach und dazu, wie dieser Celtic Frost behandelte.

Auf ein Kurzporträt des Cover-Künstlers Andreas Marschall folgt ein eigenes Kapitel über Grave Digger, das gerade auch wegen der Verirrung mit der kommerziell ausgerichteten Umbenennung in Digger und der anschließenden temporären Auflösung interessant ausfällt. Jedoch findet sich hier in erster Linie Walterbachs Sicht der Dinge, und an Bandkopf Chris Boltendahl lässt er kein gutes Haar. So richtig spannend wird’s im Running-Wild-Kapitel: Auf der ambitionierten US-Tour mit Celtic Frost und Voivod floppte die Hamburger Kombo und erstmals werden die Streitereien zwischen Noise und EMI erwähnt. Folgerichtig geht’s mit Helloween weiter. Die Hamburger waren Walterbachs bestes Pferd im Stall, die Briten wollten sie Walterbach wegschnappen und die Band wurde zwischen beiden Fronten regelrecht zerrieben. Leider endet das Kapitel abrupt noch vorm Götteralbum „Keeper of the Seven Keys Part 2“, jenem bis heute unerreichten Meilenstein des europäischen Power Metal. Den Song „Gorgar“ hat Gehlke falsch interpretiert, denn er handelt von Videospielsucht und hat nichts mit einem etwaigen „Monster-Fetisch“ zu tun. Erwähnen hätte er vielleicht noch können, dass Maskottchen Fangface später bei Gamma Ray wieder zu Ehren kam, jene Band, die Gitarrist Kai Hansen aus der Taufe hob, nachdem er Helloween verlassen hatte.

Unfassbar knapp ist das Rage-Kapitel ausgefallen, obwohl die Herner Band um Peter „Peavy“ Wagner satte sieben Alben bei Noise veröffentlichte. Auf Deutschlands größten Thrash-Export Kreator folgt ein kurzes Kapitel übers Kuriosum Rosy Vista, eine es damals lediglich auf eine Mini-LP gebracht habende reine Frauenband, in dem Walterbach alles andere als gut aussieht. Um die Frankfurter Alcoholic-Metaller und Bembel-Thrasher Tankard geht es bis zum Labelwechsel. Kapitel 11 dreht sich um Noise‘ Expansion gen USA und UK und damit in erster Linie ums internationale Geschäft, was es mitunter etwas schwer zu lesen macht. (Und das englische Pop-Duo heißt Erasure, nicht „Eraser“…) Bei der Aufzählung besonders angesagter E-Gitarrenbands zu Beginn der 1990er unterschlägt Gehlke doch glatt Metallica, die mit dem „Black Album“ überlebensgroß wurden (und leider vergaßen, sich anschließend aufzulösen).

Dem Streit zwischen Celtic Frost und Noise widmet Gehlke anschließend ein eigenes Kapitel, aus dem all die Ignoranz Walterbachs dieser fantastischen Band gegenüber hervorgeht. Jedoch wird auch das „Cold Lake“-Desaster detailliert geschildert, so detailliert zumindest, wie ich es zuvor noch nicht gelesen hatte. Die innovativen, von Noise veröffentlichten Tech-, Prog- und Post-Thrash-Bands Coroner, Voivod, Watchtower und Sabbat werden in einem separaten Kapitel zusammengefasst und anschließend Helloween wieder aufgegriffen, sodass auch den Ereignissen nach den „Keeper…“-Alben genügend Raum geboten wird. Eine der spannendsten Geschichten des deutschen Metal-Business, das beweist, wie viel Macht die Labels damals hatten – und wie sie sie auf dem Rücken von Bands missbrauchen konnten.

Das Ende der DDR schuf auch für Walterbach neue Märkte und Möglichkeiten. Als er vom legendären Konzert mit Noise-Bands am 04.03.1990 in der Werner-Seelenbinder-Halle erzählt und angesichts über 4.000 zahlender Gäste nicht glaubt, dass der Ort jemals zuvor derart gut besucht gewesen sei, hat er offenbar das nicht minder legendäre Depeche-Mode-Konzert vergessen, zu dem 1988 die FDJ geladen hatte und das natürlich ausverkauft war. Generell wirkt Walterbach gegenüber der ehemaligen DDR etwas arrogant.

Mittlerweile ist das Buch in den 1990ern angekommen, das für die klassischen Metal-Spielarten kein sonderlich gutes Jahrzehnt war. So geht es im weiteren Verlauf viel um Walterbachs Bestrebungen, mit den sich verändernden musikalischen Vorlieben und Marktbedingungen Schritt zu halten, womit sich einiges nachlesen lässt, was man seinerzeit vielleicht nicht mitbekommen oder schlicht ignoriert hat, weil einen das Genre nicht mehr sonderlich interessierte. Darunter finden sich einige ganz spannende eingestreute Geschichten, es geht aber auch relativ ausführlich um Noise‘ Unternehmungen und Dependancen im Ausland inklusive viel Namedropping und wer genau wann wo welchen Vertrieb für Noise übernahm oder von Noise angestellt wurde, was für mich persönlich eher semiinteressant ist. Am Ende steht der Verkauf des Labels an Sanctuary. Angemerkt sei noch, dass Timo Kotipelto erst ab 1994 bei Stratovarius sang, nicht wie auf Seite 405 behauptet bereits ab 1984.

Der letzte Abschnitt befasst sich mit Walterbachs Aktivitäten im Band-Management. Das Nachwort gehört Walterbach persönlich. Gehlkes Danksagungen, die Noise-Top-5 verschiedener Szene-Größen und eine komplette Noise-Diskographie runden das Buch ab, das trotz erwähnter Fehlerchen einen umfassenden Einblick nicht nur in die Geschichte von Noise Records, sondern auch in die Vita und den Charakter des streitbaren Karl-Ulrich Walterbachs gewährt und zahlreiche Szenestimmen zu Wort kommen lässt, die verhindern, dass es zu Walterbach-exklusiv würde. Auch als jahrzehntelanger Metal-Postillen-Leser, dem vieles bereits bekannt war, habe ich einiges Neue erfahren, vorhandenes Wissen auffrischen oder tiefer ins Detail gehen und nicht zuletzt einer über weite Strecken unterhaltsamen Lektüre über eines meiner Steckenpferde frönen können. Die vielen Fotos, seien es die Schwarzweiß-Bebilderungen im Text oder die beiden mehrseitigen Farbfotostrecken, lockern das Buch zudem angenehm auf und zeigen nicht nur Altbekanntes.

Nicht am falschen Ende zu sparen und das Manuskript vor Drucklegung einem Lektorat zu überantworten, hätte wohl die o.g. Fehler verhindert; und ein professionelles Korrektorat hätte sicherlich Tippfehler wie „Mitpreis“ (S. 88, statt „Mietpreis“) oder „Maquis“ (S. 270, statt „Marquis“) oder auch Sätze wie „Wir baten ihnen sogar von uns aus, wieder mitzumachen“ (S. 95) respektive „Du denkst, du bekommst eine große Chance, und jemand niemand sie dir“ (S. 353) ausgemerzt. Einerseits mögen das typische Erstauflagenkrankheiten sein, andererseits ist es ein bisschen schade, dass dieses als Standardwerk zu Noise Records zu bezeichnende Buch davon betroffen ist.

Jan Reiser – Sticks & Fingers: Basement Blues

Sticks & Fingers entstammen wohl ursprünglich den Jugendseiten der Süddeutschen Zeitung, für die der bayrische Zeichner und Texter Jan Reiser sie entwarf. Im Jahre 2006 erschien dann das rund 50-seitige Softcover-Album „Sticks & Fingers: Basement Blues“ im Ehapa-Verlag.

Das vollfarbige Album ist handgelettert und weist eine i.d.R. vierreihige, damit klar strukturierte, in der Anzahl dennoch dynamische Panelstruktur auf, die den Rahmen für Reisers großartigen und detailverliebten Funny-Stil bildet. Die Geschichte um zwei studierende Rock’n’Roller (Sticks: Drummer, Fingers: Gitarrist), die eine Band gründen wollen und dabei alle erdenklichen Schwierigkeiten, beginnend bei der Proberaumsuche, durchleben, spielt in München und steckt voller Referenzen auf reale Bands, Bücher, Magazine, Songzitate und Plattencover. Der Humor speist sich aus einigem Funny-typischen Slapstick, in erster Linie wird aber eine große, zusammenhängende Geschichte erzählt. In dieser fungiert Fingers auch als intradiegetische Erzählinstanz im Präteritum.

Ein paar Rock-Klischees werden repliziert und persifliert, aber auch die Kunstwelt ist Ziel einiger Gags. Apropos: Fingers malt auch Bilder – über Kopf hängend. Seine Sprechblasen wurden dabei ebenfalls auf dem Kopf stehend abgedruckt. Ein wunderbar konzipierter Klischee-Italiener mit Akzent in den Sprechblasen wird Manager der Band. Köstlich auch die Basser-Auditions, in deren Zuge in jeweils einem Panel die verschiedensten Musikrichtungen durch den Kakao gezogen werden. Auch die Münchner Schickeria kriegt ihr Fett weg, inklusive Rudolph Moshammer. Die Suche nach der sexy Bassistin Bo, die Sticks und Fingers in der Bahn über den Weg lief, wird recht breit ausgewalzt und ist Anlass für viele Gags. Leider ist Bo mit einem reichen Schnösel liiert – zumindest noch… Mit diesem im Bett zeichnet Reiser sie auch schon mal nackt.

Es folgt eine schwierige Suche nach ersten Auftrittsmöglichkeiten. Die Band nennt sich mittlerweile „The Burp“ und ist vor ihrem ersten Gig im Jugendzentrum eines Kaffs regelrecht euphorisch. Fingers‘ großes Idol ist Slash, was man ihm auch mehr als ansieht, und Sticks verknallt sich in die aus der Oberschicht stammende Bo, womit auch eine sehr klassische Liebesgeschichte mit ein paar vorsichtigen klassenkämpferischen Tendenzen Einzug hält. Immer dabei ist Kumpel Mücke, der Metallica- und AC/DC-Fan ist. Wunderbar realistisch wirkt der erste Gig ab dem Moment der Ankunft am Jugendzentrum. Auf Seite 47 hat Reiser eine Konzertszene als prima Wimmelbild gezeichnet, ein weiteres folgt drei Seiten später nach dem Umzug des Gigs in eine Villa. Das Album schließt mit einem Porträt Reisers und Aufschlüsselungen der verwendeten Songtext-Zitate.

Auf Seite 41 findet sich ein kleiner Meta-Ebenen-Gag, der einen weiteren „Sticks & Fingers“-Band suggeriert – woraus leider nichts wurde. Schade, denn „Basement Blues“ ist ein toller Jugendcomic, der nicht nur Jungs, die selbst in Amateurkapellen lärmen, Spaß machen dürfte.

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