Der Spiegel-Verlag brachte im Jahre 2006 dieses Sonderheft heraus, das sich auf 180 Seiten (abzgl. diverser Werbung) ausschließlich der spannenden Zeit des ersten deutschen Nachkriegsjahrzehnts widmet. Verschiedene Autoren widmeten sich verschiedenen Themenbereichen und ebenso unterschiedlich sind auch Informationsgehalt und Qualität zu bewerten. Klaus Wiegrefe steigt mit den Gründerjahren ein, gefolgt von einem Interview mit Altkanzler Helmut Schmidt. Reich bebildert sind viele Seiten, die einen Überblick über geschichtsträchtige Gebäude und Orte bieten. Viel wird auf die Rolle Konrad Adenauers eingegangen, wobei man für meinen Geschmack zu viele Seiten zu lang recht unkritisch bleibt. Kürzere Essays, z.B. über die versäumte Aufarbeitung von Kriegstraumata einer ganzen Generation, über jüdische Displaced Persons, Versuche der Aussöhnung mit Israel und deutsche US-Emigranten werden zwischengeschoben und reißen interessante Perspektiven an, die sicherlich eine tiefergehende Auseinandersetzung rechtfertigen würden. Großen Raum nehmen folgerichtig der schnell entfachte Kalte Krieg und die mit ihm einhergehenden Zugeständnisse an die Bevölkerung und alte Nazi-Schergen ein. Nachdenklich stimmt beispielsweise ein Artikel über den Krupp-Konzern und wie er sich aus seiner Verantwortung stehlen konnte. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene sind ebenso Thema wie die unfassbaren Attacken der katholischen Kirche gegen die evangelische und die theologischen Differenzen des Jahrzehnts, bei denen die Katholiken nicht gut wegkommen. Zur von verschiedenen Autoren beleuchteten Personalie Adenauer gesellt sich ein kritischer Blick auf den „Vater des Wirtschaftswunders“ Ludwig Erhard, dessen Mythos ein gutes Stück weit auseinandergenommen wird – denn so „sozial“ wie heutzutage insbesondere von SPD-„Genossen“ gern kolportiert, war seine Marktwirtschaft mitnichten. Daraus resultierend und überaus lesenswert ist Geschichtsprofessor Hans-Ulrich Wehlers Aufräumen mit dem wirtschaftlichen „Wachstumsfetischismus“, der immer wieder das „Wirtschaftswunder“ nostalgisch verklärt und dem Wunschtraum nachhängt, derartige Wirtschaftswachstumszahlen noch einmal erreichen zu können – gern auch als Argumentation im Klassenkampf von oben gegen die Unterschicht eingesetzt. Relativ ausführlich widmet man sich der größten Schande der deutschen Nachkriegsgeschichte, der versäumten Entnazifizierung – nicht ohne die „Sachzwänge“, die dazu ihren entscheidenden Teil beitrugen, gegenüberzustellen, ohne jedoch den damit einhergehenden Zynismus in vollem Umfang zu verdeutlichen und zu verurteilen. Vielleicht war das auch gar nicht nötig, denn es liest sich auch so beschämend genug. Die beschriebenen Schwierigkeiten für deutsche Kriegsheimkehrer, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen, entbehren hingegen nicht einer gewissen Tragik. Wie ein Lichtblick erscheint da die breite Protestbewegung gegen Wiederbewaffnung und Westbindung, die das Spiegel special korrekt als Wendepunkt der politischen Kultur einordnet. Auf lediglich zwei Seiten tendenziell als eher abgefrühstückt hingegen empfinde ich Alexander Szandars Ausführungen zur von Adenauer flugs vorangetriebenen Wiederbewaffnung. Eher einseitig, dennoch in ihrem zusammenfassenden Charakter alles andere als uninteressant fallen unterdessen die Berichte über die Luftbrücke und ihre „Rosinenbomber“ aus. Und auch das Thema der deutsch-deutschen Spionage hätte auch in diesem begrenzten Rahmen wesentlich mehr Stoff als für nur eine Doppelseite geboten. Da verwundert es auch kaum, dass die komplexe und spannende Thematik der DDR nur in aller Kürze, am Rande und extrem einseitig abgehandelt wird – eines der größten Versäumnisse dieser Publikation.
Voller Russenklischees steckt Jürgen Dahlkamps Erzählung „WG mit dem Iwan“, in der es um russische Soldaten geht, die während der Besatzung bei deutschen Familien einzogen – anhand eines einzelnen Beispiels. Das ist stereotypisch einerseits, aber eben doch ob seiner Bizarrerie voller Humor und zudem zutiefst menschlich, fast wie ein Beitrag zur Völkerverständigung. Auflockernd wirkt es dann nach aller politischen Schwere ebenfalls, wenn sich Hellmuth Karasek – eigentlich selbst ein Konservativer – mit süffisantem Humor entlarvend der Alltags- und Populärkultur der 1950er widmet, die bestimmt war von der Sehnsucht nach „Normalität“ und heiler Welt. Mathias Schreibers Erörterung der „neuen Einfachheit“ in Literatur und Architektur hingegen erscheint mir eher hypothetisch und wenig allgemeingültig, auch Susanne Beyer scheint mir in ihrem Bemühen, die Stilsuche und -unsicherheit der Angehörigen einer ganzen Nation von oben herab einfachen Formeln zu- und Erklärungen unterzuordnen, etwas fragwürdig. Henryk M. Broder ordnet derweil die Südtirol-Begeisterung der Nachkriegsdeutschen gesellschaftspolitisch ein, was – wie so oft bei ihm – den unangenehmen Nachgeschmack einer nur unzureichend kaschierten tendenziösen Polemik hat, deren Allgemeingültigkeit angezweifelt werden sollte. Von besonderem Interesse waren für mich natürlich Urs Jennys Zeilen zum deutschen Nachkriegskino, das in der BRD von Heimatfilmen und Artverwandtem bestimmt war. Viel Neues bietet der Artikel indes nicht und klammert wieder einmal die DDR nahezu komplett aus – eine vertane Chance. Höhepunkt dieser sich nur indirekt mit Politik auseinandersetzen Artikelreihe im letzten Heftabschnitt ist jedoch insbesondere für mich als Fußball-Fan Jürgen Leinemanns Beschäftigung mit dem „Wunder von Bern“, was erfreulich differenziert und angereichert mit unpopulären Details geschieht und dabei doch viel Respekt vor dem Fußballsport erkennen lässt und ein Gefühl dafür vermittelt, was auf friedliche Weise durch Sport erreicht werden kann, was möglich wird, wenn ein Volk generationsübergreifend zu positiven Identifikationsmöglichkeiten zurückfindet, die sich außerhalb von Politik, Mord und Totschlag finden und trotz ihres spielerischen Charakters ungekünstelt und authentisch im Gegensatz zu gänzlich realitätsentführendem Kitsch sind.
Damit sind zwar viele, aber längst nicht alle Themengebiete genannt, die diese Zeitschrift abdeckt. Mit einigen Abstrichen ist sie sicherlich für einen relativ breiten Überblick über die behandelte Epoche der BRD geeignet. Die Autoren- und damit auch Stilvielfalt, die zudem mit einem gewissen stets um kritische Distanz bemühten Meinungsallerlei (innerhalb eines klar abgesteckten staatstragenden Rahmens) einhergeht, ist nicht frei von einigen Wiederholungen, während die unterschiedlichen Perspektiven einerseits etwas anstrengen, aber auch als Chance zur eigenen Meinungsbildung begriffen werden können. Auch aufgrund meines Vorwissens war mir eine Lesart, die nach Umblättern der letzten Seite in erster Linie Respekt vor der Aufbau- und Wirtschaftsleistung der BRD in den 1950ern einflößt, jedoch nicht möglich und auch wenn die Titelseite dies vielleicht aus Verkaufsgründen suggeriert, dürfte dies auch tatsächlich nicht die oberste Priorität der Publikation gewesen sein. Bei mir persönlich weckte sie im Gegenteil vor allem gesteigertes Verständnis für all jene, die bis heute damit Schwierigkeiten haben, sich wie selbstverständlich mit dem Nachkriegsdeutschland zu identifizieren.