Günnis Reviews

Kategorie: Bücher (page 2 of 21)

Charles M. Schulz – Die Peanuts: Werkausgabe, Bd. 10: 1969 – 1970

Mit diesem Band endet die zweite Dekade der „Peanuts“, und zwar formal in gewohnter Qualität: Auf rund 330 gebundenen Seiten stellte der Hamburger Carlsen-Verlag alle jeweils vier Panels umfassenden Zeitungsstrips und großformatigen Sonntagsseiten, die der US-Amerikaner Charles M. Schulz in den Jahren 1969 und 1970 gezeichnet und getextet hat, in chronologischer Reihenfolge unkoloriert in deutscher Übersetzung zusammen. Das Vorwort stammt diesmal von Pierre Christin, dem Autor der französischen „Valerian & Veronique“-Science-Fiction-Comics, der über seine Zeit in den USA berichtet: unter anderem darüber, wie er dort die „Peanuts“ für sich entdeckte, über kulturelle Unterschiede zu seiner französischen Heimat und speziell den franko-belgischen Comics, den Einfluss auf seine eigenen Comics sowie die historische und soziale Verwurzelung und kulturelle Bedeutung der „Peanuts“-Comics. Wie gewohnt erläutert ein aufschlussreiches Glossar für ein aktuelles Publikum nicht mehr unbedingt selbsterklärende Inhalte der Strips. Darüber hinaus sind Gary Groths Nachwort und der Stichwortindex als feste Instanzen auch in diesem Band enthalten.

Im Januar 1969 bekommen wir es mit viel Eiskunstlauf zu tun, denn Snoopy will an den Meisterschaften teilnehmen. Es wird aber auch ein wenig mysteriös: Woher weiß sein Herrchen Charlie Brown das? Außerdem erreicht die Hippiewelle den Beagle. Lucy reagiert auf Schroeders Zurückweisungen mit Gewalt gegen sein Klavier, wirft es gar dem drachenfressenden Baum zum Fraß vor. Snoopy begeistert sich immer mehr für Kufensport und spielt auch Eishockey. Und zu Linus‘ Entsetzen wird seine Lieblingslehrerin Fräulein Othmar gefeuert. Im März wird die geplante Mondlandung thematisiert, indem Snoopy auf seiner Hütte anstelle eines Weltkriegspiloten einen Astronauten mimt. In jenem Monat beginnt traditionell auch die neue Baseball-Saison, die ersten Spiele gehen selbst für Charlies Verhältnisse rekordverdächtig hoch verloren… Snoopy spielt derweil mit Vorliebe Präriehund, setzt also auch seine Tierimitationen fort. Am 8. April ’69 aber bricht er auf, um seine Mutter zu suchen. Hierbei ist es etwas schade, dass Schulz für eine Sonntagsseite mit der Kontinuität der Handlung brach. Am 17. Mai taucht Woodstock (im wahrsten Sinne des Wortes) erstmals auf, noch ist Snoopys neuer bester Freund und zukünftiger Begleiter namenlos. Er vermisse seine Familie, die während seines Jungfernflugs kollektiv die Flatter gemacht habe. Apropos: Am 1. Juni gibt Snoopy erstmals wieder das Flieger-Ass. Doch weil die Browns für zwei Wochen in den Urlaub fahren, muss der Bedauernswerteste zu Lucy. Anschließend braucht Charlie Urlaub vom Urlaub.

Mitte Juli zieht das kleine rothaarige Mädchen weg, ohne dass Charlie auch nur einmal ein Wort mit ihr gewechselt hätte – womit der Themenreigen um Verlust und Sehnsucht komplettiert wird. Snoopy imitiert nun wieder bevorzugt Geier und schreibt an einem Roman, wobei er aber kaum über den ersten Satz hinauskommt. Eine weitere bedeutende Veränderung ist die Einschulung Sallys im September; sie ist schon Wochen vorher ganz aufgeregt. Snoopy bekommt seinen Roman tatsächlich fertig (der auf nur eine Seite zu passen scheint) und sendet das Manuskript ein – erfolglos. Lucy hingegen entwickelt tatsächliche Qualitäten als Psychologin – und Snoopy beim Football-Spiel mit seinen gefiederten Freunden. Peppermint Patty scheint nicht zu kapieren, dass Snoopy ein Hund ist, spricht stattdessen immer von einem „komischen Knaben mit Rübennase“. Das genaue Gegenteil ist da Frieda, die Snoopy zur Kaninchenjagd abzurichten versucht und ihm bei Nichtbefolgen mit dem „Großen Beagle“ droht. Am 19. Oktober 1969 bricht Schulz erneut mit der Kontinuität, was zumindest für mein Empfinden jedes Mal sehr heraussticht. Was macht Linus eigentlich? Der schreibt statt an den „Großen Kürbis“ diesmal dem „Großen Beagle“, weshalb sein Halloween-Irrglaube diesmal überraschenderweise kein Thema ist. Woodstock kann nicht in den Süden fliegen und verdingt sich als Hausmeister (eigentlich eher Gärtner) bei Snoopy, womit erklärt wird, weshalb er von nun an quasi ganzjährig an des Beagles Seite ist. Im Herbst schreibt Snoopy an einem neuem Roman inklusive versteckter Anspielungen auf Superman, gewissermaßen also kleinen Seitenhieben Schulz‘ an die DC-Kollegen. Es kristallisiert sich heraus, dass Sally in der Schule gar nicht klarkommt, woraus sich ein neues, immer wieder aufgegriffenes und recht ergiebiges Gag-Motiv ergibt. Im Winter fahren Charlie, Linus und Snoopy bei einem Skikurs der Schule mit. Dort sieht Charlie das kleine rothaarige Mädchen wieder, bekommt vor dessen Heimfahrt aber keine Gelegenheit mehr, es anzusprechen. Das ist einerseits sehr tragisch, zeigt aber andererseits, dass Schulz offenbar noch nicht bereit war, dieses Figur aufzugeben. Anstelle eines Silvesterstrips wird die Handlung um das Skifreizeittrio beim Sportbankett fortgesetzt.

Aus diesem Grunde gibt es auch keinen speziellen Neujahrsstrip, hier nahm es Schulz mit der Kontinuität dann also doch wieder sehr genau. Anfang des Jahres 1970 wird die Mythologie um den „Großen Beagle“ weitergeführt. Snoopy verliert stets gegen den noch immer namenlosen Woodstock beim Eishockey auf dessen gefrorener Vogeltränke – ein herrliches, zum Klassiker gewordenes Bild. Und wieder trainiert der Unverbesserliche für die Eiskunstlaufweltmeisterschaft… Im Februar wird Snoopy überraschend zum „Großen Beagle“ ernannt – zum Entsetzen der missgünstigen Lucy. Und weil das mit viel Bürokratie verbunden ist, wird Woodstock sein Sekretär. Doch bereits im März gibt er das Amt wegen Überforderung wieder auf. Woodstock schreibt anschließend eine Enthüllungsstory über seine Zeit als Sekretär des „Großen Beagle“, Snoopy an seiner Autobiografie. Aus der anfänglich eher mystischen Gestalt des „Großen Beagles“ macht Schulz also eine Art Parodie auf hohe politische Ämter. Ab dem 30.03. wähnt sich Lucy plötzlich als Feministin, womit die Frauenbewegung mit etwas Verspätung auch bei Schulz und den „Peanuts“ angekommen ist. Lucy will daher keinen Baseball mehr spielen. Immer mal wieder schreibt Snoopy an seinem Roman weiter und versucht, all seine einzelnen Ideen miteinander zu verbinden, was zunehmend autobiografisch in Bezug auf Autor Schulz anmutet – Snoopy als dessen Alter Ego? Woodstock hat die Marotte entwickelt, kopfüber zu fliegen, während Charlie Brown offenbar das Interesse am Drachensteigenlassen verloren hat – darum geht es in diesen beiden Jahren kaum. Die Interaktionen zwischen Snoopy und Woodstock werden immer niedlicher, Charlie hingegen immer willenloser – und am 22. Juni ist es endlich so weit: Woodstock erhält seinen Namen!

Im Juli greift Schulz die Proteste gegen den Vietnamkrieg auf, indem er eine Analogie schafft, in der Snoopy am Nationalfeiertag eine Rede auf der Daisy-Hill-Welpenfarm halten soll, was jedoch im Tumult untergeht. Dafür verliebt er sich dort. Woodstock leidet unter mangelndem Gleichgewichtssinn und seine Flugkünste sind auch noch nicht sonderlich ausgeprägt, ähnlich wie Charlies Baseball-Talent – doch hat sich Charlie in seiner Rolle als Mannschaftskapitän zumindest einen letzten Rest Autorität und Respekt bewahrt, was erklärt, warum er noch immer seine Gurkentruppe anführt. Ende August schlüpft Snoopy in eine neue Rolle: Er spielt „weltberühmter Supermarktkassierer“, was ein neues Motiv für eine Reihe schöner Gags wird. Ab Herbst spielt er wieder Eishockey und der „Große Kürbis“ feiert seine Renaissance – zumindest in Linus‘ Fantasie. Woodstock überwintert bei Snoopy, nachdem dieser erfolglos versucht hat, ihn in den Süden zu bringen, womit Schulz weiter darauf vorbereitet, dass diese noch junge Figur ganzjährig dem Ensemble angehören wird. Am 8. und gleich darauf am 15. November sind wieder Kontinuitätsbrüche für Sonntagsseiten zu beklagen. Ein ernsteres Thema wird zumindest angerissen: Patty hält sich nicht für hübsch und hadert immer wieder mit ihrem Aussehen. Ein Running Gag: Bevor Charlie ihr etwas Aufmunterndes entgegnen kann, biegt Snoopy um die Ecke und drückt ihr einen Schmatzer auf. Generell knutscht Snoopy hier so viele Peanuts unvermittelt wie nie zuvor – vornehmlich Lucy, zu ihrem Leidwesen. Deren Psychoberatung nimmt natürlich wieder viele 5-Cent-Stücke ein.

Apropos Running Gag: In beiden Jahren gibt es naturgemäß neue Episoden um Lucy, den Football und den einmal mehr auf sie hereinfallenden Charlie. Die „Peanuts“-Figuren und ihre Marotten sind mit Woodstock nun vollzählig. Schulz variiert ihre Geschichten innerhalb nahezu fester Parameter, die er nur noch behutsam ausweitet. Aktuelles Zeitgeschehen lässt er hingegen nach wie vor mit Freude einfließen und zwischen den Zeilen bzw. Sprechblasen und Zeichnungen lässt sich sicherlich hier und da ablesen, wie Schulz jeweils darüber dachte. Dies dürfte i.d.R. zweifelnd und abwartend gewesen sein und so blieb er vornehmlich dabei, innerhalb des „Peanuts“-Mikrokosmos unzulängliches Sozialverhalten, witzige Eigenarten, naive Weltanschauungen und persönliche Schwächen, Ängste und Enttäuschungen zu karikieren und sie dabei zugleich liebevoll zu hegen und zu pflegen.

Mad-Taschenbuch Nr. 39: Jack Rickard / Lou Silverstone – Das Mad-Buch der seltsamen Verbrechen

Zeichner Jack Rickard und Texter Lou Silverstone debütierten mit diesem Buch innerhalb der Mad-Taschenbuch-Reihe, das 1983 im üblichen 160-Schwarzweißseiten-Format erschien, dessen Inhalte aber in die Jahre 1978 und 1980 zurückreichen. Es enthält verschiedene Parodien auf klassische Film- und Literaturstoffe, die sowohl im ein Panel pro Seite umfassenden Comicstil als auch in Form bebilderten Fließtexts dargereicht werden. Der Titel bezieht sich auf die Dominanz von Detektivparodien und umfasst somit nicht das gesamte Repertoire dieses Buchs. Auf Seitenzahlen muss man leider zum wiederholten Male verzichten. Schade, dass Rickard und Silverstone nicht in einem Vorwort kurz vorgestellt werden, wie es bei anderen Autoren und Zeichnern innerhalb dieser Reihe ja durchaus nicht unüblich war – handelte es sich bei diesen beiden doch um zwei immens wichtige und fleißige Künstler des Mad-Kernteams.

Der Auftakt ist mit einer starken Dracula-Parodie gelungen, die anschließend „Peanuts“-Persiflage hingegen enttäuscht mit einer müden Pointe. „Ein schnöder Falke – Aus dem Leben von Micky Killano“ erfreut dann wieder mit einer launigen Verballhornung typischer Noir-Detektivgeschichten und ihrer Klischees in Prosaform, wobei sich eine seitenfüllende Zeichnung und eine Textseite abwechseln, während Eastern-Freunde bei „Charlie China“ ganz stark sein müssen. Aus dem Rahmen fällt das Kapitel „Was Gesetzeshüter sagen… und was es wirklich bedeutet“, da es die Polizei durch den Kakao zieht und mit seiner unterschwelligen Autoritätskritik gefällt, mit den „Wenn einer sagt, so bedeutet das“-Gegenüberstellungen aber eigentlich nicht ins Konzept dieses Buchs passt. Dass das Abenteuer des tumben Detektivs „Sellery Queen“ auf „Ellery Queen“, das Pseudonym eines populären Krimi-Autorenduos, referenziert, musste ich ehrlich gesagt erst nachschlagen. „Die Yankee-Boys“ erscheinen in der gleichen Prosaform wie Micky Killano und sind ein toller Abgesang auf ebenso US-hurrapatriotische wie unwahrscheinliche Heldengeschichtchen, während „Schwerschock Holmes“ es in Comicform mit der Rückkehr Jack the Rippers zu tun bekommt.

Das ist alles in allem viel respektloser, mal mehr, mal weniger hintersinniger, typischer Mad-Humor, mit dem man nicht viel falsch machen kann – es sei denn vielleicht, es fehlen einem mittlerweile die populärkulturellen Bezüge (wie es mir bei „Sellery Queen“ erging). Zum Humorverständnis sind diese aber nicht zwingend erforderlich. Irgendwo hat sich mit „Judenstern“ (gemeint war: Davidstern) eine falsche Übersetzung eingeschlichen, ansonsten ist Herbert Feuersteins Adaption ins Deutsche aber gewohnt auf der Höhe. Hat Spaß gemacht und mich daran erinnert, wie oft ich als Kind zuerst die Mad-Parodie von etwas kannte und erst später das Original kennengelernt habe…

Sören Olsson / Anders Jacobsson – Berts haarsträubende Katastrophen

Lieber Stapel im Tauschschrank gefundener „Berts Katastrophen“-Bücher mit den bunten Comiccovern, der du dich als von den o.g. schwedischen Pädagogen geschriebene Jugendbücher mit Coming-of-Age-Inhalten um den pubertierenden Bert Ljung entpuppt hattest,

es war nicht immer schön mit dir, zuweilen musste ich mich etwas durch dich durchquälen. Zuletzt war es zwar besser geworden, aber das hier, der 1996 erschienene vorvorletzte Band der Berts Tagebucheinträge umfassenden Reihe, ist der letzte den ich gelesen habe und auch gelesen haben werde, denn ich zähle einfach nicht zu deiner Zielgruppe. Meine Motivation, mir die letzten Bände auch noch zuzulegen, ist zu gering, zumal Mittelschichtsbengel Bert da doch bestimmt frustrierenderweise immer noch keinen Sex gehabt haben, sondern weiterhin von einer Tagträumerei in den nächsten Schlamassel und umgekehrt schlittern wird. Die Besprechung dieses neunten Bands bin ich dir aber noch schuldig, also los:

Mit rund 180 Seiten im nach wie vor großlettrigen Seniorenzeichensatz fällt dieser Schmöker ca. 30 Seiten stärker aus als der Vorgänger, ansonsten ist aber eigentlich alles beim Alten: Sonja Härding hat diverse Bleistiftzeichnungen untergebracht, Bert schreibt Tagebuch, hier vom 14. Februar bis zum 14. April sowie „Gedichte des Tages“ und ist noch immer solo, notgeil und möchtegern-cool. Er steigt also am Valentinstag eine Woche vor seinem sechzehnten Geburtstag ein, und natürlich verläuft der Valentinstag nicht wie erhofft. Er ist nach wie vor schwer in seine Ex-Freundin Nadja verknallt, mit der er sich tatsächlich wieder näherkommt, wildes Gefummel und Petting beim ersten gemeinsamen Abend nach langer Zeit lassen ihn hoffen. Der all die Jahre gemobbte Erik scheint den Kontakt zu Bert abgebrochen zu haben – was besonders deshalb doof ist, weil man mit der gemeinsamen Band einen Auftritt ergattert hat. Mit seinem Kumpel Arne sowie dessen und dem eigenen Vater fährt Bert in den Skiurlaub, in dessen Rahmen der Besuch des „Bayrischen Abends“ für deutsche Leserinnen und Leser interessant sein dürfte, wenngleich Berts Beschreibungen wieder mit der typisch schwedischen Anti-Alk-Stimmungsmache einhergehen, die man Bert hier in die Schreibfeder gelegt hat.

Der Gig findet schließlich mit einem Ersatz-Drummer statt, der dem Rest der Band glatt die Show stiehlt. Sehr schön: Die Lautmalereien seiner Drumsoli erreichen fast Don-Martin-Niveau. Das Mobbing gegen Erik wird endlich einmal problematisiert und vonseiten Berts und Konsorten reflektiert, woraufhin man um Entschuldigung bittet und sich wieder verträgt. Ist das den Autoren selbst irgendwann aufgefallen oder hatten sich die Beschwerden aus dem Pädagogen-Kollegium gehäuft? Wie auch immer, Bert arbeitet jedenfalls an neuen Katastrophen. So beschwört er eine Ehekrise heraus, als er sein eigenes Bespannen der Nachbarin durch den Türspion auf seinen Vater schiebt und es daraufhin zu einem peinlichen Gespräch zwischen seiner Mutter und jener Nachbarin kommt. Die anschließende Aussprache ist sehr wortgewandt und originell ausgefallen, wenn Bert auf griechische Götter referenziert. Dennoch: Fremdscham galore!

Wie aus dem Nichts macht Nadja noch vorm ersten richtigen Sex mit Bert Schluss – dabei waren sie doch gerade erst wieder zusammengekommen! Bert tritt ein Praktikum in der Kinderstation des Krankenhauses an und ein Umzug nach Gotland ist im Gespräch, weil sein Vater dort einen Job antreten könnte, der mehr einbrächte. Nadja nähert sich überraschend doch wieder an Bert an, verstehe einer die Weibsbilder… Dieses Buch wäre zu diesem Zwecke ein schlechter Berater, denn die Gefühlswelt der handelnden Figuren wird nur oberflächlich erörtert. Ein Gig in der Erziehungsanstalt wird zum Erfolg, doch dort verguckt sich Bert in eine Insassin, weshalb er zwei Tage später die nun endlich willige Nadja von der Bettkante schubst – was für ein Idiot!

Berts Tonfall pendelt beständig zwischen selbstironisch und überheblich, was grundsätzlich zu einem pubertieren Jungen passt. Viele seiner Handlungen und Erlebnisse werden recht witzig umschrieben, wenngleich der Schreibstil sehr hauptsatzlastig und damit nicht übermäßig attraktiv ist. Für einen Pubertierenden geht Bert jedoch erstaunlich, will sagen: unrealistisch abgeklärt mit allen Widrigkeiten um, sodass das Buch eher wenig als pädagogisch angehauchter Ratgeber oder Tröster und Bert aufgrund seiner Schusseligkeit auch kaum zum Vorbild für Gleichaltrige taugen dürfte. Deren Erkenntnisgewinn aus dieser Lektüre wird gering ausfallen, vielmehr verkommt Bert zur Lachnummer, über die man sich lustig macht.  Dafür wird hier Alkoholabstinenz vermittelt… Dass ein 16-Jähriger noch kein wirkliches Sexleben hat und das erste Mal eigenverschuldet verkackt, ist hingegen keine Seltenheit, wenngleich es mittlerweile innerhalb dieser Reihe von derart langer Hand vorbereitet und doch immer wieder aufgeschoben wird, dass einen der Verdacht beschleichen kann, diese Autoren drückten sich vor der Herausforderung, tatsächlich einmal etwas über verantwortungsbewusste Sexualität im Teenie-Alter und Beziehungen auf Augenhöhe schreiben zu müssen.

Wer wissen will, wie es bei Bert Ljung weiterging, kann sich ja die letzten beiden Bände zu Gemüte führen, ich aber bin jetzt raus.

Mad-Taschenbuch Nr. 38: Mad präsentiert Don Martins Höhenflug

Nachdem Kult-Zeichner Don Martin mit dem deutschen Mad-Taschenbuch Nr. 31 „in die Tiefe“ gegangen war, setzte er in seinem siebten Taschenbuch also zum „Höhenflug“ an – dem gewohnt selbstironischen Cover nach zu urteilen ein zum Scheitern verdammtes Unterfangen. Der US-amerikanische Copyright-Vermerk datiert diesmal eigenartigerweise bis ins Jahr 1975 zurück; in Deutschland jedenfalls kam man 1983 in den Genuss dieser 160 (leider erneut unnummerierten) Schwarzweiß-Seiten, die jeweils ein bis Panels umfassen. Textliche Unterstützung erhielt Martin wieder von Dick de Bartolo.

Dieser „Höhenflug“ umfasst 13 Geschichten unterschiedlichen Umfangs, wobei eine köstliche Persiflage auf den Horror-Klassiker „Die Fliege“ zusammen mit dem Käpt’n-Hirni-Abenteuer „Der Schlag des Gerechten“ das Herzstück des Büchleins bildet. Der Käpt’n ist Protagonist einer herrlichen Verballhornung von Kung-Fu-Klischees, während der Anthropologie-Satire „Ein Besuch bei den Gumbo-Indianern“, in der ein fiktionaler Indianerstamm als stumpfsinnige Primitivlinge dargestellt wird, aus heutiger Perspektive der etwas unangenehme Beigeschmack unbewussten Rassismus anhaftet. Nichtsdestotrotz ist auch dieser Band erneut ein Kleinod voller Martin-typischem Humor, der sich aus seinem unverkennbaren Zeichenstil, Slapstick, unvorhersehbar Absurdem und natürlich den legendären Soundwords („Zawabadorp!, „Ka-lomp“, „Spidoing“ …) zusammensetzt, während die Geschichten inhaltlich am stärksten sind, wenn sie ins Parodistische tendieren.

Frank Schäfer – Der kleine Provinzberater oder Vom schönen Leben auf dem Lande

„Klein“ trifft’s hier sehr gut, denn mit 15,5 x 9,5 cm ist das hier wirklich ein Büchlein, allerdings gebunden, im Hardcover und mit Schutzumschlag sowie eingewebtem Lesezeichen – eine geradezu verschwenderische Aufmachung, die der Berliner Schwarzkopf-&-Schwarzkopf-Verlag diesem im Jahre 2012 veröffentlichten „Ratgeber“ spendierte. Auf rund 200 Seiten setzt sich der Braunschweiger Autor Frank Schäfer, vornehmlich bekannt für seine Essays und Bücher über Musik und Literatur, 50 in acht Themengebiete unterteilte Kapitel lang mit der Provinz auseinander, aus der er schließlich auch selbst stammt: Schäfer wurde im niedersächsischen Gifhorn sozialisiert. Jana Moskito ergänzte einige hübsche Schwarzweiß-Illustrationen.

In anekdotischer Form schildert Schäfer provinzielle Befindlichkeiten, sonderbare Kuriositäten, mal mehr, mal weniger skurrile Beobachtungen, persönliche Erlebnisse, häufig pointiert humorig, manchmal nachdenklich, mal liebevoll, mal angriffslustig, dann wieder selbstironisch. Manch Provinzler(in) schaute er aufs Maul und lässt das Transkribierte dann auch gern ohne weitere Zuspitzung im Raum stehen. Immer mal wieder schimmert eine Art Hassliebe zur Provinz durch, ohne die ein solches Buch vermutlich nicht möglich wäre.

Wenn er auf S. 104 Al Bundy eine verhinderte Baseball-Karriere andichtet, hätte ich ihm ein aufmerksameres Lektorat gewünscht (Football wär’s gewesen); interessante, kritische Worte zur popkulturellen Kunstfigur Tarzan entschädigen aber rasch für diesen Fauxpas. Mit Filmemacher Wenzel Storch war Schäfer im Gespräch, später geht’s plötzlich um Henry David Thoreau – über den er respektive der Suhrkamp-Verlag 2017 eine Biographie veröffentlichen sollte. Nicht erst, wenn es ohne erkennbare Bezugnahme auf S. 184 „wie ich weiter oben schon erzählt habe…“ heißt, ahnt man: Die Provinz dient hier eher als lose Klammer, manches könnte genauso gut in einer der der popkulturellen oder sich mit Literaturschaffenden auseinandersetzenden Essay-Sammlungen Schäfers stehen (und tut es vielleicht auch) oder war anderweitig bereits erstveröffentlicht worden. Nicht, dass mich das stören würde.

Das sehr persönlich geprägte Kapitel „Der älteste Sohn“ ist ein gutes Beispiel dafür, wie viel Schäfer auch von tragisch-schöner Prosa versteht. Ebenso melancholisch fährt er im Abschnitt „Kind & Kegel“ mit einer weiteren Kindheitserinnerungen fort. Dennoch zieht sich mal subtiler, mal offensichtlicher Humor durch einen großen Teil des Buchs, das Abgesang und Liebeserklärung zugleich ist.

Mad-Taschenbuch Nr. 36: Sergio Aragones – Zum Teufel mit Mad

„Zum Teufel mit Mad“ ist Mad-Stammzeichner Sergio Aragones‘ bereits sechstes Taschenbuch des deutschsprachigen Mad-Ablegers. Im Original bereits 1975 erschienen, wurde es hierzulande erst 1982 verlegt. 160 (leider unnummerierte) Schwarzweißseiten lang verarbeitet Aragones Absurdes, frönt er der Situationskomik und entwirft Karikaturen menschlichen Verhaltens, flicht aber auch mal Hintergründiges oder historische respektive kulturelle Anspielungen (z.B. auf Dante) ein. Ein bisschen Autoritäten- und Kapitalismuskritik schwingen ebenfalls mit. In seinem Comicstil kommt Aragones mit ein bis drei Panels pro Seite und wie gewohnt komplett ohne Dia- oder Monologe aus, seine Gags sind selten (hier wahrscheinlich sogar nie) länger als zwei Seiten – und vielleicht immer dann am schönsten, wenn man etwas genauer hinsehen muss, um die Pointe zu erfassen. Das ist schon eine Kunst für sich und dieses eingangs mit einer schönen Widmung an seine Freunde versehene Büchlein mein bisheriger Aragones-Favorit.

Cinema-Sonderband Nr. 8: Sexstars

Der erotische Film – lange Zeit führte er ein Nischendasein, für prüde Verhältnisse allzu freizügige Aktricen wurden skandalisiert und unmoralischen Verhaltens bezichtigt. Dies änderte sich nach der sexuellen Revolution, als (oft nur bemüht) erotische Filme nicht nur in die Bahnhofskinos drangen und es beinahe zum guten Ton gehörte, sich vor der Kamera zu entblößen. Mit der Legalisierung der Pornographie ebbte diese Welle ab, gerade aus zahlreichen Genrefilm-Produktionen waren offenherzige Darstellungen jedoch nicht mehr wegzudenken und auch der erotische Film existiert in Abgrenzung zum Porno nach wie vor (ist heutzutage jedoch längst in seiner Nische zurück). Wer aber sind die Schauspielerinnen und Schauspieler des Erotikbereichs, was treibt sie an, was ist ihr Selbstverständnis, wie blicken sie auf die Branche, was gibt es eventuell Wissenswertes über sie zu berichten?

Wer solche oder ähnlichen Fragen beantwortet haben möchte, ist beim achten Sonderband der Kinozeitschrift „Cinema“ vollkommen falsch. Mit „Sex im Kino – Höhepunkte des erotischen Films“, „Erotik im Film – Kino der Lüste“ und „Sex im Kino ’83“ hatte der Hamburg Verlag bereits mehrere Sonderausgaben zum Thema Erotikfilm veröffentlicht, bevor (vermutlich im Jahre 1984) dieses 100-seitige Heft folgt. Hatte man zuvor zwischen den Bezeichnungen „Sonderheft“ und „Sonderband“ je nach Beschaffenheit des jeweiligen Printerzeugnisses changiert, beharrte man hier auf „Sonderband“, obwohl es sich um kein gebundenes Buch handelt. Die Titelseite mit ihren Fotografien und Namensnennungen lässt bereits erahnen, dass man sich hier vornehmlich den Damen dieses Gewerbes widmet; ein Blick ins Heftinnere sorgt für die Gewissheit, dass kein einziger Mann enthalten ist.

Der Damenwelt wendet man sich in Form von Oben-ohne- und Ganzkörperakten zu, meist farbig, aber auch mal in Schwarzweiß oder ohne wirklich etwas zu zeigen, wie z.B. im Falle Lillian Müllers oder Tracy Dixons. Bis zu vier Modelle teilen sich eine Seite, manche erhalten aber auch eine ganze Doppelseite für sich allein. Mal handelt es sich um ein einzelnes großformatiges Foto, mal um mehrere kleine, häufig um einen Größenmix. Beim Material werden Movie stills, also abfotografierte Filmszenen, mit professionellen Fotos, vermutlich aus den Mappen der Agenten oder aus anderen Zeitschriften, miteinander vermischt. Quellenangaben gibt es keine, nicht einmal zu den jeweiligen Filmen. Zudem handelt es sich tatsächlich um ein reines Fotomagazin ohne jegliche Information zu den abgebildeten Fotomodellen respektive Schauspielerinnen, sodass es sich von einem Schmuddelheftchen vom Kiosk de facto nicht unterscheidet.

Die einzigen Texte sind die Namensangaben, diese jedoch – gewissermaßen als Gipfel der Respektlosigkeit – nicht selten fehlerbehaftet. So macht man aus Eleonora Vallone „Elenora“, aus Gudula Blau „Gundula“, aus Lillian Müller „Lilian“, aus Tetchie Agbayani „Tetcha Agbaiani“, aus Elizabeth Grosz „Elisabeth“, aus Donatella Damiani „Daniani“ usw. Und weshalb schreibt man Sabine Rohrmanns Vornamen nicht aus, sondern verkürzt ihn als einzigen zu S.? Namen vergessen?

Wird man eigentlich wirklich zum „Sexstar“, wenn man in nur einem einzigen Film mitgespielt hat, dem Heimatfummelfilm „Waidmannsheil im Spitzenhöschen“? Einziges Kriterium schien viel mehr zu sein, in einem x-beliebigen Film irgendwann einmal blankgezogen zu haben. Die Auswahl der Modelle scheint völlig beliebig: Wo sind beispielsweise Gloria Guida und Lili Carati, wo Edwige Fenech? Wer zur Hölle sind dagegen Jane Summer, Diana Sensation, Lilly Christen oder Martina Lohauss? Ohne erkennbare Sortierung werden hier bekannte Persönlichkeiten wie Marilyn Monroe, Faye Dunaway, Ornella Muti, Bo Derek, Sylvia Kristel, Nastassja Kinski, Ursula Andress, Romy Schneider, Barbara Bouchet, Laura Antonelli, Rosalba Neri oder auch Sybille Rauch mit unbekannten Sternchen und Nonames aneinandergereiht. Hauptsache war anscheinend, dass schnell ein brauchbares Foto aufzutreiben war, um das Heft vollzubekommen und in die Auslagen wuchten zu können. Mit Filmjournalismus hatte das nichts mehr zu tun.

„Sexstars“ ist bis dato die primitivste Veröffentlichung aus dem Hause „Cinema“, die mir in die Finger gekommen ist.

Ronald M. Schernikau – Die Tage in L.: Darüber, dass die DDR und die BRD sich niemals verständigen können, geschweige mittels ihrer Literatur

„daß du diese kritik so frei äußern kannst! es beweist, daß sie nicht stimmt! – das ist die drohung mit dem faschismus. sie ist immer da.“ (S. 22)

Auf Ronald M. Schernikau war ich einst aufmerksam geworden, als ich im Tauschschrank seinen im Hamburger Konkret-Verlag veröffentlichten Briefwechsel mit Peter Hacks fand und nach anfänglicher Skepsis interessiert verschlang. Schernikau war ein 1960 in der DDR geborener, als Kind mit seiner Mutter in die BRD übergesiedelter, offen homosexuell lebender, freidenkender Literat und humanistischer Kommunist, der von 1986 bis 1989 als BRD-Bürger am Leipziger Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ studierte und in der Wendezeit wieder DDR-Bürger wurde. Bei „Die Tage in L.“ mit seinem sperrigen Subtitel handelt es sich um seine Abschlussarbeit, die bereits 1989 im Konkret-Verlag veröffentlicht und 2001 ebd. neu aufgelegt wurde. Von dieser Fassung liegt mir die zweite Auflage aus dem Jahre 2009 im Taschenbuchformat vor.

„manchmal wundere ich mich, daß die anderen sich nicht wundern, daß ich mich nicht wundere.“

Rund 220 Seiten lang lässt sich der kulturinteressierte und -schaffende Grenzgänger Schernikau in acht Kapiteln über die BRD, die DDR, ihre jeweiligen Menschen und Eigenheiten sowie das gestörte Verhältnis beider Staaten zueinander aus. Ein Vorwort Hermann L. Gremlizas sowie je ein Literatur-, Abkürzungs- und Personenregister runden den Band ab.

Schernikaus in meist kurze, eher selten unmittelbar aufeinander Bezug nehmende Absätze gegliederter Text liest sich wie ein Brainstorming, in dessen Folge es zumindest im ersten Drittel auch mir themenfremd und zusammenhanglos erscheinende Passagen in die Kapitel schafften; zumindest erschließt sich mir ihr Sinn nicht. Das kann indes dem Umstand geschuldet sein, dass Schernikau sehr in seiner Gegenwart verwurzelt ist und sich nicht lange mit Hintergründen und Details aufhält. Damit ist seine Arbeit in Bezug auf die historische und politische Situation des geteilten Deutschlands ein wenig voraussetzungsreich und der eine oder andere Passus eventuell unverständlich, kennt man die genaueren gesellschaftlichen und kulturellen Umstände bzw. Kontexte nicht. Schernikau schreibt durchgehend in Kleinbuchstaben, Fehler wie macdonald’s, cindy (statt cyndi) lauper, intresse, faßbinder (statt fassbinder) und sylvestershow wurden offenbar bewusst nicht redigiert, aus Club-Cola macht er gar klubkola. Mit diesem Stil gilt es, sich erst einmal vertraut zu machen.

Ist diese Hürde genommen, wird es bald zum Genuss, wie der meinungsstarke Autor seine subjektiven Eindrücke schildert und dabei in alle Richtungen austeilt. Als Beispiele für interessante Beobachtungen seien eine plötzliche Scheu selbst in den DDR-Medien, Kommunisten auch als solche zu bezeichnen (S. 81) und eine Umdeutung des Begriffs „Supermacht“ von negativer zu positiver Konnotation (S. 82f.) genannt. Für eines seiner Kapitel befragte Schernikau sieben seiner Bekannten aus der BRD. Nur zwei von ihnen wollten lieber in der DDR leben. Soziologisch interessant ist dabei eigentlich, dass die anderen fünf in ihren Antworten tendenziell Pro-DDR-Argumente liefern. Leider erfährt man nicht, wer die Befragten überhaupt sind.

Auch anderes behält Schernikau leider für sich. Beim Übergang von Seite 100 auf Seite 101 erwähnt er einen russischen Film, der kurz, nachdem er ihn im DDR-Kino gesehen habe, verboten worden sei. Das bleibt unkommentiert, wenngleich man sich sein Kopfschütteln darüber beim Lesen denken kann. Dass er nicht einmal den Filmtitel nennt, ist mir hingegen – außer vielleicht mit Furcht vor Repressalien – unerklärlich. Vielfach referenziert Schernikau explizit auf den Literaturbetrieb hüben wie drüben sowie, etwas weiter gefasst, allgemein auf den Kulturbetrieb, wovon ich als, zumindest in Bezug auf die Literatur, gewissermaßen Außenstehender nicht alles verstehe. Viele Namen musste oder vielmehr wollte ich nachschlagen. Ich verstehe aber etwas von Peter Timms köstlicher Komödie „Meier“, die sich ebenfalls mit dem Verhältnis beider deutscher Staaten auseinandersetzt und die Schernikau als antikommunistisch missversteht. Insofern ist manch harsches Urteil hier sicherlich mit Vorsicht zu genießen.

Auf Seite 114ff. wird es mir dann auch zu einseitig: „einhundert prozent aller, die die ddr verlassen haben, wollen zurück, einhundert prozent.“ Was ist mit denjenigen, die gehen mussten, also herauskomplimentiert wurden? Was mit jenen, die in der BRD Karriere machten? In diesem Abschnitt ist mir sein Loblied auf die DDR zu eindimensional; es findet sich nicht einmal ein Wort zum Verfall der Bausubstanz, die seinerzeit längst kritische Ausmaße angenommen hatte. Im Jahre 1987 war Schernikau dann eine Weile mit auf richtig körperlicher Maloche, worüber er Tagebuch führte. Dieser Abschnitt beweist, dass er davor nicht zurückschreckte, sondern wissen wollte, wie sich der Alltag echter Arbeiter in der DDR anfühlt.

Und er wird im weiteren Verlauf kritischer. Zunächst lässt er sich im siebten Kapitel über nervige Alltagsphänomene aus, beispielsweise über schon an Machtmissbrauch grenzende Unfreundlichkeit einfacher Menschen in Servicepositionen. Dazu findet er überraschend wütende und ernüchterte Worte: „[…] vielleicht hat jede zeit und jedes volk seinen natürlichen anteil an faschisten […] vielleicht erzeugt wirklich jede art von hierarchie auch die unsinnigkeiten von hierarchie, und vielleicht ist es einfach romantisch, in einer sozialistischen hierarchie nur den sozialismus zu erwarten und nicht auch die hierarchie.“ (S. 154) In den Abschnitten 2 und 3 dieses Kapitels holt er dann tatschlich zu einem Rundumschlag in Sachen DDR-Kritik aus, der sich gewaschen hat und beweist, dass er kein blauäugiger Salonkommunist ist. In Abschnitt 4 betreibt er wieder viel Namedropping aus dem kulturellen Bereich; zwischen Ehrerbietungen an DDR-Künstlerinnen und -Künstler reihen sich Gedanken zu Zensur und Kritik an selbiger, was besonders schön in einem Absatz auf S. 184 Ausdruck findet: „also, man darf von einem text nicht mehr den hintergrund analysieren, nicht mehr die haltung des autors, nicht mehr dessen politische meinung, weil immer hat man angst, daß die hauptverwaltung kommt und sagt: wenn das so ist, können wir das aber nicht drucken! die rezensenten reden längst nicht mehr vom inhalt, und von der form zu reden, haben sie vor dreißig jahren verlernt.“

Gegen Ende wagt er dennoch eine vorsichtig optimistische prognose: „sie werden talkshows haben und eine schwulenzeitung, sie werden die urlaubsfotos der politiker veröffentlichen und die zahl der auswanderer. und es kann sein, sie machen es besser als der westen, weil sie klüger sind und souveräner. es kann sein.“ So widersprüchlich sich einiges in dieser Rezension lesen mag, so ergibt es während der Lektüre des Buchs in seiner Gesamtheit doch zumeist Sinn. Schernikau glaubte an ein sozialistisches statt kapitalistisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem und an eine Reformierbarkeit der DDR – bzw. hoffte er zumindest darauf. Dass es nach der Wende mit der Abwahl der Regierung Modrow und dem Wahlsieg der CDU ganz anders kam, ist längst Geschichte. „Die Tage in L.“ ist eine aufschlussreiche Bestandsaufnahme aus den Jahren davor, geprägt durch die meist klugen, subjektiven Eindrücke einer an den Folgen seiner HI-Virus-Infektion 1991 viel zu jung verstorbenen, streitbaren, furchtlosen und interessanten Persönlichkeit.

Oliver Stolle (Hrsg.) / Sascha Chaimowicz (Hrsg.) – „Eine Kugel Strappsiatella, bitte!“ – 555 unfreiwillig komische deutsche Geschichten

Für den Strandurlaub greife ich ganz gern mal zu möglichst seichter, aber lustiger Literatur. Mit „Was wir tun, wenn der Aufzug nicht kommt: Die Welt in überwiegend lustigen Grafiken“ und „Bauchchirurg schneidet hervorragend ab“ klappte das gut bis hervorragend, in diesem Falle eher so semi. Das 2016 im Münchner Heyne-Verlag erschienene Taschenbuch ist offenbar die Fortsetzung des zuvor erschienenen, mir unbekannten „Ich hätte gerne eine LSD-Leuchte!“. Beiden gemein ist das Konzept: Zusammenstellungen der dem „Stern“-Jugendableger „Neon“ für die Rubrik „Deutsche Geschichten“ eingesandter, zufällig mitgehörter, unfreiwillig komischer Dialogfetzen, derer monatlich drei Stück im Printmagazin abgedruckt werden. Das klingt vielversprechend, zudem erweckt die gelungene Titelgestaltung Aufmerksamkeit und hat das Buch mit seinen rund 200 Seiten auf festem Papier in verschwenderischem Farbdruck eine tolle Haptik.

„Verschwenderisch“ ist jedoch im Wortsinn zu verstehen, denn die Farbverläufe im Hintergrund hätte es ebenso wenig gebraucht wie die 21 willkürlich eingestreuten, oft seitenfüllenden Fotos aus dem Ostkreuz-Archiv, die nicht nur ohne jeden Kontext, sondern i.d.R. leider auch ohne Witz sind. Auf eine erkennbare Sortierung hat man verzichtet; nach einem dreiseitigen Vorwort folgt ein Gesprächsfetzen auf den nächsten, durchnummeriert sowie mit Ortsangabe und Namen des jeweiligen Einsenders respektive der jeweiligen Einsenderin versehen. Jener Zitate tummeln sich ein bis vier pro Seite, darunter mal mehr, mal weniger amüsante Versprecher, Verhörer, Missverständnisse und Doofheiten, aber auch offenbar als vermeintlich mitgehörte Dialoge abgedruckte Witze, was Zweifel an der Authentizität des Materials sät.

Meist alles andere als witzig, dafür umso entlarvender sind diejenigen Zitate, die Ausdruck gesellschaftlicher (Fehl-)Entwicklungen bis hin zu Verrohungen sind und somit, belastbare, authentische Quellen vorausgesetzt, von soziologischem Interesse sein könnte. Vieles ist mir aber ehrlich gesagt schlicht zu belanglos, witzfrei, über Dad-Joke- oder Imbissbudenkaliber nicht hinauskommend, anderes wiederum eher in der jeweiligen Situation komisch, weniger im Buchformat. Alles in allem scheint mir „Eine Kugel Strappsiatella, bitte!“ eine weitestgehend überflüssige Klolektüre zu sein, die in erster Linie für noch wesentlich leichter als mich zu erheiternde Menschen einen Mehrwert darstellen dürfte.

Mit „Deutschland im O-Ton“ ist eine anscheinend recht ähnliche Reihe im selben Verlag erschienen. Möglicherweise ist diese gehaltvoller. Es auszutesten ist mein Interesse aber eher gering…

Guido Sieber – Aus lauter Liebe

Der Berliner Illustrator, Comiczeichner und Maler Guido Sieber debütierte mit seinem ersten Comicalbum „Aus lauter Liebe“ innerhalb der Thurner „Edition Kunst der Comics“, wo es im Jahre 1991 als großformatiger, rund 60-seitiger Hardcover-Band erschien.

Obschon Sieber seine Figuren als Karikaturen zeichnet, verbietet sich im Prinzip die Genrebezeichnung Funny. In seinen von einzelnen Parodien und Persiflagen, vor allem auf Werbung und populäre Comicfiguren, flankierten, anarcho-misanthropischen Kurzgeschichten setzt er durch die Überbetonung äußerlicher wie innerlicher menschlicher Makel stark auf den Ekeleffekt. Seine Figuren sehen allesamt wie unförmige Zombies aus, sind stumpfsinnig und roh, triebgesteuert und verkommen. Ihre Zwischenmenschlichkeit ist verloren und egoistisch, ihre Sexualität pervers und abtörnend. Positiv konnotierte Begriffe wie Geselligkeit oder Liebe führt Sieber in seinen Zeichnungen ad absurdum, Moral und Selbstlosigkeit sind genauso abwesend wie klassische Heldinnen oder Helden. Diese wären zwischen all den Ausscheidungen und verwarzten Geschlechtsorganen auch fehl am Platze.

Selbstironisch rechtfertigt sich Sieber, der sich, um anonym zu bleiben, mit über den Kopf gezogener Papiertüte selbst zeichnet, eingangs dafür, kommt aber zur Konklusion: „[Meine Comics] sind nicht häßlicher oder perverser als das Leben selbst!“ Die Panel-Grids folgen nur selten festen Strukturen, scheinen sich vielmehr in einem übergeordneten Chaos ihren Platz zu suchen. Die Handletterung erfolgt in große Versalien, auf Seitenzahlen wurde verzichtet. Dafür sind die Seiten sehr farbenfroh gestaltet, fassen sich auf ihrem matten Qualitätspapier gut an und riechen auch nach 30 Jahren noch gut.

„Aus lauter Liebe“ ist eine fiese Kombination in die Magengrube, ohne auf Melodramatik oder Betroffenheit zu setzen. Vielmehr regieren zu Papier gebrachte Abscheu vor der Gesellschaft, schwarzer Humor und eine nicht ungefähre Aggressivität, mit der sich Sieber zu wehren scheint, sodass sein Comic wie das Ventil eines letztlich an der Realität verzweifelnden, sensiblen Künstlers mit zu guter Beobachtungsgabe wirkt.

Bevor er sich hauptsächlich der Malerei verschrieb, erschienen in den 1990ern offenbar sieben Comicbände Siebers. Selbstredend müssen die nach und nach alle her – so abstoßend sie auch sein mögen.

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